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# taz.de -- Forscher über Libanon: „Die Hisbollah ist zweitgrößter Arbeitg…
> Im Libanon galt die Hisbollah lang als größter politischer Akteur. Doch
> die Unterstützung in der Bevölkerung schwindet, beobachtet der Aktivist
> Joseph Daher.
Bild: Dokumente liegen verstreut herum in einem Beiruter Vorort, 21. Oktober 20…
taz: Herr Daher, die Hisbollah ist politische Partei, bewaffnete Miliz und
Organisation. Wie viele Mitglieder hat sie insgesamt?
Joseph Daher: Wir müssen vorsichtig sein mit solchen Schätzungen. Die Zahl
der Mitglieder liegt höher als die der Angestellten. Aber: Wenn wir uns den
zivilen Zweig der Hisbollah ansehen, mit ihren verschiedenen
Medieneinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Waisenhäusern und
Pfadfinder*innen, sind das so um die 50.000. Genauso viele Soldaten, sowohl
Berufssoldaten als auch Reservisten. Also potenziell insgesamt 100.000. Das
sind Angestellte. Das heißt: Es ist höchstwahrscheinlich der zweitgrößte
Arbeitgeber im Libanon, nach dem öffentlichen Sektor.
taz: Was sind die Einnahmequellen der Hisbollah?
Daher: Die Einnahmequellen sind vielfältig. Der Iran bleibt mit Sicherheit
der wichtigste Sponsor. Bis heute gibt es eine politische, wirtschaftliche
und militärische Verbindung. Es gibt eine wachsende schiitische
Bourgeoisie, die mit der Hisbollah verbunden ist. Zu der riesigen
libanesischen Diaspora gehört auch eine schiitische Bourgeoisie, aus
Westafrika, Südamerika, Europa und den USA, die finanziell zur Partei
beiträgt. Sie hat legale Geschäfte durch ein Netzwerk von Geschäftsleuten
mit Verbindung zur Partei ausgeweitet und auch illegale Geschäfte
ausgebaut, insbesondere in Syrien beim Schmuggel von wichtigen Rohstoffen
wie Heizöl und bei der Herstellung und dem Handel mit der Droge Captagon.
Schließlich gibt es noch religiöse Spenden.
taz: Hat die Hisbollah eine Schlüsselrolle, wenn es um Sozialleistungen
geht?
Daher: Die Hisbollah hat als Staat im Staat agiert. Durch ihr Netzwerk an
Wohltätigkeitsorganisationen leistet sie eine Vielfalt an absolut
notwendigen sozialen Diensten. Aber die Hisbollah ist nicht der politische
Akteur, der das klientelistische, politische System etabliert hat. Die
gesamte herrschende Klasse hat seit der Gründung des Staates den Aufbau
eines starken Sozialstaates verhindert. Um so den Klientelismus zu nutzen
und Arbeitsplätze zu schaffen, zum Beispiel in Ministerien. Keine andere
politische Partei kann mit der Hisbollah mithalten in Bezug auf das
Netzwerk von Institutionen, das sie aufgebaut hat, und Geldquellen von
außerhalb – insbesondere Iran. Deshalb ist sie auch einer der größten, wenn
nicht der größte Akteur im Libanon in den frühen 2000er Jahren. Damit trägt
sie auch Verantwortung für die aktuelle Lage.
Das heißt wiederum nicht, dass die Hisbollah die Einzige ist, die für die
sozioökonomische Krise verantwortlich ist. Bereits bevor die Hisbollah 2005
in die Regierung kam, wurde die Art von Ponzi-Scheme, das den Libanon in
die Pleite gebracht hat, vom sunnitischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri
aufgebaut. Er hat das Schneeballsystem aufgebaut,in dem die libanesischen
Banken seit Anfang der 1990er Jahre hohe Zinsen boten, um Einlagen in
US-Dollar anzulocken, und das Geld dann an die Regierung verliehen, die es
nicht zurückzahlte. Die Hisbollah ihrerseits hat diese neoliberale Politik
nicht infrage gestellt, sondern sich an ihrer Dynamik beteiligt.
taz: Wie steht es um das Image der Hisbollah als einzige Kraft, die den
Libanon gegen Israel verteidigt?
Daher: Bis Anfang der 2000er gab es eine breite populäre Basis, die die
Hisbollah als Widerstandskraft wahrgenommen hat. Vor allem im Jahr 2000,
als Israel – mit Ausnahme der Schebaa-Farmen – aus dem Libanon abgezogen
ist, und im Krieg 2006. Aber das hat sich gewandelt: Danach spielt die
Hisbollah eine zunehmende Rolle innerhalb des iranischen Einflusses.
Zwischen 2006 und 2023 war Palästina nicht das Hauptthema, sondern die
Beteiligung am Krieg in Syrien an der Seite des Assad-Regimes und der
Einsatz von Waffen gegen andere libanesische Akteure, wie die bewaffnete
Übernahme von Westbeirut 2008.
Bei der Explosion von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut vor vier Jahren
wird die Hisbollah als eine der Hauptakteure wahrgenommen, die die
Ermittlungen verhindert. Die Hisbollah kann nicht weiter behaupten,
Verteidiger der Unterdrückten im Libanon zu sein. Auch sie hat unabhängige
Gewerkschaften und soziale Bewegungen wie den Aufstand 2019 bekämpft.
taz: Das Image der Hisbollah ist über die Zeit verblasst. Mit dem Krieg
braucht es eine Kraft, die den Libanon gegen Israel verteidigt. Wenden sich
nun mehr Menschen der Hisbollah zu, die sich eigentlich schon abgewandt
hatten?
Daher: Nein. Denn es sind verschiedene Dynamiken im Spiel, darunter
regionale, konfessionelle und sozioökonomische. Zwar verteidigen die
Menschen im Allgemeinen das Recht auf Widerstand oder sehen die
Bombardierung und Invasion Israels negativ, doch das führt nicht zu einer
breiteren politischen Unterstützung der Hisbollah.
Die Spannungen innerhalb des Landes nehmen zu, und einige weigern sich,
Geflüchtete oder Vertriebene aus den mehrheitlich schiitischen Gebieten
aufzunehmen, aus Angst, Sektierertum und Rassismus. Die Hisbollah hat den
breiten Rückhalt bei anderen religiösen Gruppen verloren. Sie ist in der
schiitischen Gemeinschaft nach wie vor hegemoniale Kraft, aber jetzt gibt
es mehr Kritik. Und die Frage stellt sich auch, ob die Hisbollah den
Wiederaufbau nach dem Krieg leisten kann.
taz: Aber ideologisch kann die Hisbollah von der Invasion Israels nur
gewinnen?
Daher: Nein, da bin ich mir nicht sicher. Es hängt davon ab, was passieren
wird. Der Krieg Israels gegen den Libanon ist noch nicht zu Ende. Vieles
wird davon abhängen, ob es Israel gelingt, die Hisbollah sowohl politisch
als auch militärisch zu schwächen. Auch aufseiten der Hisbollah gibt es
eine Entwicklung, die sich auf den Schutz ihrer Interessen und
Parteistrukturen konzentriert: Die Strategie der Verbindung der
militärischen Fronten im Libanon und in Gaza ist in vielerlei Hinsicht
gescheitert: Die Hisbollah war nicht in der Lage, den Genozid in Gaza zu
stoppen, während der Libanon stark gelitten hat. Das wird sehr in Frage
gestellt.
taz: Was wäre die Alternative zur Hisbollah?
Daher: Eine starke soziale und politische Bewegung, die die Grundlage
schafft für einen libanesischen Staat, der demokratisch ist, säkular und
sozial gerecht ist. Wir brauchen eine starke Volksbewegung von unten – eine
Art Gegenkraft aus dem Volk.
taz: Und ein starkes Militär, das den Libanon verteidigt?
Daher: Ich würde der libanesischen Armee nicht zu viel Bedeutung beimessen,
die für viele Libanesen die Einheit aller Konfessionen symbolisiert. Aber
sie ist weit davon entfernt, demokratisch zu sein. Wir haben die repressive
Rolle der libanesischen Armee während der Massenproteste 2019 gesehen, auch
wenn die Reaktion nicht mit der anderer Armeen vergleichbar ist. Auch wenn
es um Palästinenser, Syrer und Arbeitsmigranten geht, ist das libanesische
Militär sehr repressiv.
21 Oct 2024
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Libanon
Hisbollah
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