# taz.de -- Olympia-Berichterstattung vor 100 Jahren: Edelfeder mit Weitblick | |
> Mit einer Olympia-Reportage über eine Hitzeschlacht sorgte der Journalist | |
> Willy Meisl einst für Aufsehen. Er war einer der Besten seiner Zunft. | |
Bild: Ausnahmeläufer Paavo Nurmi (2.v.l.) bei den Olympischen Spielen 1924 in … | |
Heute ist es undenkbar, dass ein Printjournalist mit einer | |
Olympia-Reportage berühmt werden könnte. Der gemeine Schreiberling des | |
frühen 21. Jahrhunderts kämpft am flexiblen Newsdesk-Arbeitsplatz mit | |
Online-First-Verwurstung wacker gegen das Abrutschen ins Prekariat an und | |
wartet sehnsüchtig auf die nächste [1][VG-Wort-Ausschüttung], die er wie | |
Manna in der Wüste pflückt. Doch vor gut 100 Jahren, in den goldenen | |
Zwanzigerjahren, da galt das formvollendete Zeilenschinden noch etwas, und | |
der Journalist Willy Meisl war einer von den Besten seiner Zunft. | |
Er veröffentlichte beispielsweise in der wunderbaren Zeitschrift „Der | |
Querschnitt“ mit Zeitgenossen wie Anton Kuh, Joachim Ringelnatz oder | |
[2][Harry Graf Kessler]. Jean Giraudoux veröffentlichte da den schönen | |
Bonmot: „Es ist nicht selten, dass ein Sportler und ein Nichtsportler im | |
gleichen Alter stirbt: dieser hat in einem Zustand der Konservierung, jener | |
aber hat ein Leben gelebt.“ | |
Willy Meisl, der ein formidabler Sportler und vor allem Fußballer war, | |
schrieb also über die Olympischen Sommerspiele 1924 in Paris, und beim | |
Querfeldeinlauf tat sich Bemerkenswertes. Die Sportler starteten bei knapp | |
40 Grad im Schatten, hirschten über Wiesen, Stock und Stein von Colombes in | |
die französische Hauptstadt. Die Sonne brannte so unerbittlich, dass nur 15 | |
von 38 Läufern das Ziel erreichten. Der Schwede Sven Thuresson erlitt einen | |
Hitzschlag. | |
Andere torkelten, rappelten sich wieder auf, schleppten sich ins Ziel oder | |
blieben gleich auf einer der Wiesen erschöpft liegen. Dass der favorisierte | |
Paavo Nurmi aus Finnland gewann, geriet danach in der Debatte über die | |
„unmenschlichen Bedingungen“ fast zur Randnotiz. Seit der Hitzeschlacht von | |
Colombes, als diese ging das Ereignis in die Sportgeschichte ein, gab es | |
keinen Querfeldeinlauf mehr bei Olympia. Meisl hatte sein Sujet gefunden, | |
sein Colombes-Text erregte tatsächlich Aufsehen, machte ihn zum beachteten | |
Sportjournalisten. | |
## Intellektuelle Leuchttürme | |
Er schrieb anfänglich von Wien aus für das Sport-Tagblatt, ging danach aber | |
nach Schweden, wo er bei dem Fußballklub Hammarby als Trainer und bei | |
Dagens Nyheter, der größten Tageszeitung Skandinaviens, als Sportredakteur | |
tätig war. Von Schweden aus führte ihn sein Weg nach Berlin. In der | |
flirrenden Metropole arbeitete er von 1924 bis 1933 für die renommierte | |
liberale Tagezeitung Vossische Zeitung, bald als leitender Sportredakteur. | |
Bei der Vossischen Zeitung schrieben solche intellektuellen Leuchttürme wie | |
der Feuilletonist Alfred Kerr. Meisl war in guter, in bester Gesellschaft. | |
Parallel dazu schrieb er für andere Blätter, etwa den „Kicker“ oder die BZ | |
am Mittag, und veröffentlichte Sportbücher. | |
In einem Bericht über die Olympischen Spiele 1928 in Amsterdam beschwerte | |
sich Meisl über eine Unart, die sich im Laufe der olympischen Geschichte | |
verfestigen würde: „Im Stadion war alles monopolisiert“, hielt Meisl fest, | |
„von den Zeitungen, die dort verkauft werden durften – nämlich keine außer | |
der offiziellen -, und dem Büfett bis zu den Bildern und Filmen, und das | |
ging so weit, dass man keinen Kodak (eine Kamera dieses Herstellers) | |
passieren ließ. Ob das den Holländern besonders bei den über alles | |
geschätzten Dollarkunden sehr genutzt haben wird, ist sehr zu bezweifeln.“ | |
Er habe „das business“ zu sehr gespürt, und auch die unverschämten | |
Hotelpreise waren ihm eine Erwähnung wert. | |
Zu seinen bekanntesten Schriften gehört „Der Sport am Scheidewege“, 1928 im | |
Heidelberger Iris-Verlag erschienen. Das Vorwort verfasste Egon Erwin | |
Kisch, Meisl steuerte den Hauptteil bei, Bert Brecht oder [3][Carl Diem] | |
den Rest. Meisl ahnte, wohin es mit dem Sport gehen würde: hin zu einer | |
dominierenden Populärkultur, zum Kommerz: „Der Materialismus stieß auf den | |
Idealismus, Portemonnaie auf Phrase, und bis heute kennt man das Kompromiß | |
(so im Original) noch kaum, das dabei herauskam.“ | |
Ihm war klar, dass die Amateurfrage zentral war und in ferner Zukunft | |
zugunsten einer enthemmten Professionalisierung gelöst werden würde – da | |
konnte der Sportfex noch so oft die Primärtugenden eines echten englischen | |
Sportsmannes aufzählen, also etwa: „Er läßt seinem Gegner in Zweifelsfäll… | |
den Vorteil, er schätzt das Spiel höher als das Ergebnis.“ 1934 floh der | |
Jude nach England, kämpfte als britischer Soldat gegen die Nazis. 73-jährig | |
starb Willy Meisl in der Schweiz, ein beeindruckendes Oevre hinterlassend. | |
19 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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