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# taz.de -- Wohnungslose Frauen in Berlin: Halt finden in der Haltestelle
> Ausruhen, Essen, Duschen: Bis zu 60 Frauen kommen täglich in Evas
> Haltestelle. Ein Besuch in einer Tagesstätte für wohnungslose Frauen.
Bild: Die 30-jährige Marie* hat seit Februar ein Bett in der Notübernachtung
Müde und erschöpft wirkt die Frau. Mit angezogenen Beinen sitzt sie auf
einem der Sofas in Evas Haltestelle, einer Tagesstätte für wohnungslose
Frauen. Sie könnte um die 60 sein, aber auch deutlich älter oder jünger.
Ihre Haut hat einen dunklen Teint, sie trägt ein langes graues Kleid, die
Haare sind unter einem Kopftuch mit Blumenmuster verborgen. Aus Moldawien
komme sie, spreche kein Deutsch, bedeutet sie, und auf ihren Rücken
zeigend: „Schmerzen“. Wenig später sind ihr im Sitzen die Augen zugefallen.
[1][Das Leben ist anstrengend für Menschen, die keine Wohnung haben]. Für
Frauen noch viel mehr als für Männer. Zahlen, wie viele [2][obdachlose
Menschen in Berlin] auf der Straße leben oder bei Bekannten und Verwandten
untergekommen sind, gibt es nicht. Im Sommer 2024 würden erstmals valide
Daten über diese Gruppen erhoben, teilte die Senatsverwaltung für Soziales
mit. Gesichert sei nur das: 40.000 wohnungslose Menschen sind in Wohnheimen
untergebracht, 15.000 davon sind Frauen.
Besonders Frauen, so die Erfahrung, leben oft verdeckt wohnungslos.
Es ist ein Kommen und Gehen an diesem Tag Mitte März, als die taz Evas
Haltestelle besucht. Die Tagesstätte im Wedding ist die wohl größte
Berliner Hilfseinrichtung für wohnungslose Frauen, Träger ist der
Sozialdienst katholischer Frauen (SkF). Wochentags von 10 bis 18 Uhr ist
die Einrichtung geöffnet. Angeschlossen ist eine Notunterkunft mit 20
Schlafplätzen für Frauen, die aber nur im Rahmen der Kältehilfe zur
Verfügung stehen. Ende April, wenn die Kältehilfe endet, verlieren die
Frauen ihre Schlafplätze.
## Männer haben keinen Zutritt
Die Ladenwohnung in der Müllerstraße ist ein geschützter Raum. Männer haben
keinen Zutritt. Bis zu 60 Frauen kämen täglich, sagt Sozialarbeiterin
Claudia Peiters. Viele der Besucherinnen hätten Körperverletzungen,
häusliche und sexuelle Gewalt erlitten, sagt Ute Evensen, Leiterin der
Einrichtung.
70 bis 80 Prozent der wohnungslosen Frauen hätten Gewalterfahrung, heißt es
[3][in einer Ausstellung „Mitten unter uns“, die noch bis zum 31. März im
Humboldt Forum] zu sehen ist. Fünf ehemals weiblich gelesene Menschen
berichten dort von ihren Erfahrungen, obdachlos zu sein. Das klingt zum
Beispiel so:
Janita-Marja: Du bist Opfer als Frau auf der Straße.
Richi: Das Erste, was ich gelernt habe: Niemals den Schlafsack zumachen,
wenn du schläfst. Es gab ein ganze Zeitlang Leute, die Schlafsäcke
angezündet haben.
Janita-Marja: Auf der Straße musst du sofort deine Weiblichkeit ablegen.
Haare abgeschnitten, weite Pullover getragen. Damit ich keine weiblichen
Merkmale habe.
Die Klientel von Evas beschreiben die Sozialarbeiterinnen so: Frauen, die
obdachlos sind, Frauen, die in Wohnungsloseneinrichtungen nächtigten,
Frauen, die aus Angst vor Wohnungslosigkeit bei gewalttätigen Partnern und
Partnerinnen wohnen bleiben. Auch Frauen, die im Rahmen des Projekts
[4][„Housing First“] nach langer Obdachlosigkeit eine Wohnung vermittelt
bekommen haben, gehören zu den Gästen.
## Lieber auf der Straße
Die Berliner Notübernachtungsstellen für Frauen seien sehr stark
ausgelastet. Eine mit Männern gemischte Einrichtung aufzusuchen käme für
viele der Frauen nicht infrage, ist Peiters Erfahrung. „Lieber bleiben sie
auf der Straße.“
Janet: Ich würde das ganze Jahr draußen leben, wenn es nicht so gefährlich
wäre.
Ab 10 Uhr gibt es in Evas Haltestelle Frühstück; das Mittagessen, von
ehrenamtlichen Helferinnen zubereitet, wird ab 13 Uhr ausgegeben.
Gemüseauflauf steht an diesem Tag auf dem Speiseplan. Manche Frauen bleiben
nur kurz, um zu essen, einen Kaffee zu trinken und das Handy aufzuladen.
Andere länger, weil sie ihre Wäsche waschen, Kleidung in der Kleiderkammer
tauschen oder duschen wollen. Es gibt nur eine Dusche, der Andrang ist
groß. Viele Frauen verbringen auch den ganzen Tag in der Einrichtung.
Unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben, sind einige der Frauen
bereit, über sich zu sprechen. Die Altersangaben sind im Text nicht
verändert worden, die Namen dagegen sind fiktiv. Bei Evas sind alle
grundsätzlich per Du und sprechen sich mit dem Vornamen an.
Da ist zum Beispiel Barbara* (53). Ein schlanke, sauber gekleidete Frau.
Mit ihrem gepflegten Äußeren ist sie bei Evas kein Einzelfall. Bei kaum
einer der Besucherinnen käme man auf die Idee, dass sie keine feste Bleibe
haben, träfe man sie auf der Straße.
Susann: Man erzählt es nicht gerne und möchte auch nicht erkannt werden.
Nach dem Motto: Du bist gescheitert.
Janita-Marja: Frauen schämen sich noch mehr, weil sie meinen, sie haben
versagt. Ich habe auch erlebt, dass man als Frau noch mal asozialer
rüberkommt, wenn man ohne Wohnung ist. Weil man ja nicht muss. Es wurde
sogar gesagt: Ich muss nur einen Mann finden und heiraten. Ganz einfach.
Sie sei traumatisiert, leide an den Folgen einer Entführung und
Vergewaltigung, vor vielen Jahren geschehen, als sie noch eine Wohnung
gehabt habe, erzählt Barbara. Über die Tat möchte sie nicht sprechen, nur
so viel: Der Täter sei verurteilt worden, sie kämpfe aber immer noch um
Schmerzensgeld. „Wenn das nicht passiert wäre, wäre ich glücklicher, hätte
meine Wohnung nicht verloren“, sagt Barbara. „Mit der Entschädigung könnte
ich einen neuen Anfang machen und nach Italien auswandern.“
Manchmal, erzählt Barbara, schlafe sie bei einem Freund auf dem Fußboden,
manchmal in ihrem Zelt, manchmal ganz im Freien. Sie suche sich einen
Platz, wo sie ihre Ruhe habe. Neulich sei es furchtbar kalt gewesen. „Ich
war völlig fertig vor Erschöpfung.“
Janet: Eins der schlimmsten Probleme in der Obdachlosigkeit bei Frauen sind
Blasenprobleme durch das Liegen auf dem kalten Boden.
Janita-Marja: Die Menstruation bekommst du immer im ungünstigsten Moment.
Wenn du die Möglichkeit hast, Menstruationsartikel zu haben, kommt ein
zweites Problem: Wo wechselst du sie?
Die Koffer und Taschen der Tagesgäste sind in einer Ecke zusammengestellt.
Evas Haltestelle ist eine niedrigschwellige Einrichtung. Jede Frau kann
kommen, egal welcher Herkunft. „Wohnungslosigkeit trifft auch gebildete
Frauen“, sagt Peiters. Niemand müsse Rechenschaft ablegen. „Wir machen
keine Erhebung, bedrängen die Frauen nicht, über ihre Situation zu
sprechen“.
Zwei Frauen am Tisch haben ihre Köpfe auf die Arme gelegt und schlafen.
Andere sind mit ihren Handys beschäftigt, unterhalten sich oder lackieren
sich die Fingernägel. Eine gutaussehende junge Frau sitzt allein in einer
Sofaecke. Die Umgebung scheint sie nicht wahrzunehmen. Mit den Händen
gestikulierend spricht sie ununterbrochen mit einem imaginären Gegenüber.
Eine andere Frau, vielleicht Anfang 40, schlank, stark geschminkt, lange,
weiße Fingernägel, ist ständig in Bewegung, umrundet immer wieder den Tisch
in der Mitte des Raums, schimpft vor sich hin, manchmal wird sie auch laut.
Viele Frauen hätten psychische Probleme, erzählen die Sozialarbeiterinnen.
„Das fängt bei Kauzigkeit an und geht bis zu handfesten wahnhaften
Erkrankungen.“ Nicht immer sei das klar auszumachen.
Janita-Marja: Ich bin nachher sehr laut geworden, sehr aggressiv. Rein aus
Schutzmechanismus. Wenn man schreit, kommt einem keiner mehr näher. Ich
habe so eine Privatsphäre schaffen können. Du reduzierst sexuelle
Übergriffe.
Zwei Schlafräume mit Doppelstockbetten hält Eva Haltestelle im Rahmen der
Kältehilfe bereit. Die 20 Gäste der Notunterkunft dürfen bleiben, wenn die
Tagesgäste um 18 Uhr gehen müssen, und bekommen auch ein warmes Abendessen.
Frauen, die bei Evas einen Schlafplatz haben, können ihn bis zum Ende der
Kältehilfe behalten, wenn sie sich als zuverlässig erweisen. Auch das
Gepäck kann im Schlafraum bleiben, der tagsüber abgeschlossen ist.
Ein festes Bett zu haben ist in Notunterkünften keine
Selbstverständlichkeit. Andernorts in Berlin müssen Stammgäste die
Einrichtung beispielsweise nach einem Monat für zwei Wochen verlassen.
Begründet wird das Peiters zufolge so: Das Hilfesystem dürfe nicht
durcheinandergeraten. Kurzzeitunterbringungen dürften nicht zu
Vollzeitunterbringungen werden. Reine Fraueneinrichtungen seien da nicht so
strikt.
## Dankbar für ein Bett
Mitte März haben durchschnittlich 283 Frauen nach Angaben der
Sozialverwaltung pro Nacht in einer Notübernachtung geschlafen, ganzjährige
Unterkünfte und Kältehilfe mitgezählt. Von diesen hätten 165 Frauen in
frauenspezifischen Notübernachtungen genächtigt, bei einem Angebot von 185
Plätzen in reinen Fraueneinrichtungen.
Marie* (30) hat seit Anfang Februar bei Evas ein Bett. Froh und dankbar sei
sie. „Die meisten, die hier arbeiten, sind echte Engel.“ Marie wollte
eigentlich, dass ihr richtiger Name gedruckt wird. In ihrem
Instagram-Account, in dem sie auf ihre Situation aufmerksam mache, gebe sie
sich ja auch zu erkennen.
Marie ist eine zierliche Frau. Dass sie einen kleinen Bauch hat, erkennt
man erst, als sie darauf aufmerksam macht und den weiten Pullover straff
zieht. „Mein Babybauch, 6. Monat“, sagt Marie stolz. Zärtlich streicht sie
mit den grün lackierten Fingern über die Wölbung.
Bevor sie zu Evas kam, sei sie einen Monat in der Psychiatrie gewesen,
erzählt Marie. Eingewiesen auf Betreiben ihrer früheren WG. Ein
Masterstudium habe sie absolviert, danach einen Burn-out erlitten. Ihre
Freunde würden behaupten, sie sei nicht schwanger, erzählt Marie. Auch der
Kindsvater bestreite, Sex mit ihr gehabt zu haben. „Die sagen, ich bin
verrückt.“ Sie freue sich auf das Kind, sei sicher, dass sie es gesund
aufziehen könne. Aber sie habe große Angst, es weggenommen zu bekommen. So
bald wie möglich werde sie deshalb auswandern.
Auf eine Krücke gestützt humpelt Paula* (64) durch den Raum. Nicht nur
optisch fällt sie bei Evas aus dem Rahmen. Die langen Haare sind strähnig.
Die gekrümmten roten Fingernägel, die sie eigenen Angaben zufolge seit
Jahren wachsen lässt, verleihen ihr etwas Unheimliches. Wenn ein Nagel
abbricht, klebt sie ihn wieder an. Häufig sei sie schon fotografiert
worden, erzählt sie stolz.
Paula hat eine eigene Wohnung, auch das unterscheidet sie von den meisten
anderen Frauen. Je länger man ihr zuhört, umso wirrer sind ihre
Geschichten. Die 64-Jährige wird vom Sozialpsychiatrischen Dienst betreut,
der ihr die Wohnung vermittelt hat.
## Schreckliche Alpträume
Und dann ist da Claudine* (34). Ganz still sitzt sie im hinteren Raum und
tippt auf ihrem Handy. Sie wolle nicht auffallen, sagt die Schwarze Frau,
die aus Westafrika kommt. Sie habe zuvor in Portugal gelebt, suche in
Berlin einen Cleaning-Job und eine Meldeadresse. Die Unterhaltung mit
Claudine findet auf Englisch statt. Ein, zweimal die Woche komme sie zu
Evas, auch um Wäsche zu waschen. Auch Claudine schläft in einer
Notunterkunft für Frauen.
„Schrecklich sind die Nächte“, erzählt sie. „Viele Frauen haben Albträ…
Schreie, Krämpfe, die zum Teil wie epileptische Anfälle wirken.“ Sie müsse
da so schnell wie möglich wieder raus, sagt Claudine. „Ich habe Angst, dass
ich auch so werde.“
Erwähnt werden muss auch noch Gabriela*, die Politische. Eine Frau mit
grauem Dutt, scharfen Gesichtszügen und großer Zahnlücke. Vor ihrem Laptop
sitzend hat sie einen Überblick über den Raum. Ja, sie möchte sprechen,
aber nicht über sich, sondern über das Hilfesystem. „Hier bei Evas wird man
sehr gut aufgefangen“, schiebt Gabriela voraus.
Dann listet sie auf: Viele wohnungslose Frauen seien über 70, hätten
psychische und körperliche Probleme, wüssten nicht, wohin. Jungen Müttern
ohne feste Bleibe würden die Kinder weggenommen. „Das zerstört diese Frauen
noch mehr.“ Viel zu wenig Plätze gebe es in Frauenhäusern und
Zufluchtswohnungen, ereifert sich Gabriela. Wohnungslose, die häuslicher
Gewalt ausgesetzt seien, würden dort nicht aufgenommen.
In der gerade veröffentlichten Kriminalstatistik ist erneut eine deutliche
Zunahme [5][häuslicher Gewalt] zu verzeichnen.
## Die Frauen halten zusammen
Eins gibt Gabriela aber von sich preis: Auch sie schlafe in einer
Frauen-Notunterkunft der Kältehilfe. Auch sie wisse nicht, wie es Ende
April weitergeht. „Wir brauchen eine Unterkunft, wo wir durchgehend leben
können, bis wir etwas Festes gefunden haben.“
Im Rahmen des [6][Housing-First-Projekts] zur Überwindung von
Obdachlosigkeit wurden laut Sozialverwaltung inzwischen 109 Frauen mit
Wohnraum versorgt.
Janita-Marja: Wenn du eine Wohnung hast, kommen andere Probleme. Mit
geschlossenen Türen Probleme. Panikattacken. Jeder will was von dir.
Krankenkasse und so. Es ist nicht so, eine Wohnung und alles ist gut. Es
wird erst mal richtig beschissen.
Im Büro der Sozialarbeiterinnen hängt die Telefonnummer des zuständigen
Polizeiabschnitts. Ob es mit den Frauen oft Probleme gebe und die Polizei
eingreifen müsse? Eigentlich nicht, sagt Claudia Peiters. Es gebe ein Recht
auf Verrücktheit, solange man nicht andere oder sich selbst gefährdet.
„Bisher kriegen wir sie immer noch alleine eingefangen.“
Und was ist mit Diebstahl? Geld, Handy, Papiere hätten die Frauen immer am
Leib, sagt Ute Evensen. Aber es gebe auch eine gewisse Solidarität. „Im
Zweifel halten die Frauen zusammen.“
Die Moldawierin mit dem Kopftuch hat sich inzwischen lang auf dem Sofa
ausgesteckt. Das Handy umklammert, schläft sie tief und fest. Ein bisschen
sieht es so aus, als lächele sie. Aber vielleicht ist das Wunschdenken.
*Namen wurden anonymisiert.
Die Ausstellung „Mitten unter uns“ hat der Verein „querstadtein e. V.“
organisiert. Die Zitate von Janita-Marja, Susann, Janet und Richi wurden
der Ausstellung entnommen. Zu sehen noch bis zum 31. März im Humboldt
Forum.
27 Mar 2024
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## AUTOREN
Plutonia Plarre
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