# taz.de -- taz Publikumspreis Open Mike 2023: Die Heimsuchung | |
> In der Wohnung, Typ WBS70, tut sich ein trockenes, warmes Nichts auf. Und | |
> die Fingernägel der Nachbarin erinnern an Schwertmuscheln. | |
Am ersten Tag hatte ich keinen Kopf für die Katastrophe. Ich war früh auf, | |
trat auf den Balkon. Elf Stockwerke unter mir die Stadt, die sich dem | |
Frühling nur zaghaft öffnete. Drinnen rieselte die Dusche. | |
Auf dem Sofa war die Bettdecke zurückgeschlagen, Zosias offener Laptop | |
erhellte den Beistelltisch. Erster Tab: „Einzimmerwohnungen“. Zweiter Tab: | |
„Schufa-Auskunft online.“ Dritter Tab: „how to break up reddi“, vierter | |
Tab: der Wikipedia-Eintrag über Schwertwale, aktualisiert vor drei Minuten. | |
Ich wusste, dass sie an einem Artikel über Wale schrieb, dass sie krankhaft | |
prokrastinierte, dass wir kämpften. Auch ich hatte nach Einzimmerwohnungen | |
gesucht, mit besseren Filtern. Sie suchte nach den günstigsten Angeboten, | |
unweigerliche Karteileichen, vermietet, unbewohnbar, unbeliebt. Letzteres | |
musste man erstmal schaffen, auch hier. | |
Den Laptop ließ sie nie offen stehen. Dass sie eher die automatische | |
Bildschirmsperre ausschaltete, als mit mir zu reden, überraschte mich | |
trotzdem nicht. Ich scrollte durch den Reddit-Beitrag: „If you have been in | |
a long term committed relationship with the person, all you can really say | |
is ‚I’m sorry, but I’ve changed.‘“ | |
Die Katastrophe war ein Loch und das Loch war tief. So tief, dass die | |
Tasse, die Zosia vom Beistelltisch schlug, hineinrutschte, fiel und fiel | |
und fiel und niemals aufkam. Das bemerkte ich später. In dem Moment war ich | |
außer mir, dass sie die Tasse vom Weihnachtsmarkt Charlottenschloss 2017 | |
genommen hatte. Den Weihnachtsmarkt gibt es nie wieder, einen gemeinsamen | |
Ausflug in die Großstadt eh nicht, die Tasse schon gar nicht. | |
„Warum die?“, fragte ich. | |
„Weil sie leer war.“ | |
Ich erinnere mich nicht, wie der Streit ausging, nur daran, wie ich die | |
Taschentücher aufklaubte und sagte: „Nimm die Beine weg.“ | |
Dann griff ich über den Teppich, über den Vinylboden ins Nichts, erst mit | |
der Hand, dann bis zum Ellbogen, bis zur Schulter. Das Nichts war | |
trocken, warm, grenzenlos. Es war frei von Tassen. | |
„Zosia, hilf mir“, sagte ich, „hier stimmt was nicht.“ | |
Wir legten uns beide auf den Bauch, hielten den Arm ins Loch, griffen nach | |
etwas, das nicht da war, berührten einander fast. Ein sanfter Luftzug zog | |
durchs Loch. Zosia roch nach Minze und Kernseife, ich hatte noch nicht | |
geduscht. | |
Wir wussten nicht, wie viele Zentimeter zwischen den Geschossen lagen, aber | |
so eine Platzverschwendung konnte ich mir nicht vorstellen. Bloß: die | |
Alternative noch weniger. „Der Müllschlucker …“, setzte Zosia an. „Mü… | |
längst zugebaut sein“, beendete ich, „und warum sollte er plötzlich hier | |
auftauchen?“ | |
„Vielleicht haben wir ihn erst später gefunden, wie den Schimmel im Bad?“ | |
„Das geht nicht, und überhaupt: Hast du nicht gestern Staub gesaugt? | |
Hättest du es da nicht bemerkt?“ | |
Zosia zog sich an den kreisrunden Lochrand und lauschte. „Es rauscht“, | |
sagte sie. Ich kam näher, legte den Kopf auf die Seite. Unsere Scheitel | |
berührten sich. Es rauschte, das heißt, die Leere oder das Blut. Abends war | |
ich erschöpft vom Kämpfen, erschöpft von mir und der Gewissheit: Die | |
Kaution kriegen wir nie zurück. | |
Am zweiten Tag notierte ich: Durchmesser 44 Zentimeter, Wohnzimmer hinten | |
links, siehe Anhang. Ich recherchierte: Wohnungstyp WBS70, Vollbetondecke | |
und Fußbodendicke zusammen machen insgesamt maximal 21,5 Zentimeter. Kein | |
Platz für eine Höhle, aber das schrieb ich nicht an die Hausverwaltung, | |
sondern: Tiefe und Alter unbekannt. Ich schrieb, als würden meine Mails | |
beantwortet, als folgten auf meine Nachrichten Rückrufe, obwohl klar war, | |
dass das Problem uns gehörte, dass es mir gehörte. Höchstens, dachte ich | |
später in der Badewanne, würden sie uns eine Mieterhöhung schicken, jetzt, | |
da die Wohnung größer war als gedacht. Zwei Zimmer, Küche, Bad, Loch. | |
Im Schaumbaddunst betrachtete ich den Schimmel. Auch er sollte hier nicht | |
sein, aber ich weiß, warum und wie er mir schadet. Nebenan hörte ich die | |
Nachbarn Möbel rücken. Ob die von unten uns oft hörten? Ob sie ein Loch in | |
der Decke hatten, das sie von der Couch aus anschauten, abwechselnd mit dem | |
Fernseher, Loch, Fernseher, Loch? In vier Jahren hatten wir sie nie | |
kennengelernt. Mit nassen Händen griff ich nach dem Handy. Die Nachricht | |
„Hab die Hausverwaltung kontaktiert“ schmückte in Zosias und meinem Chat | |
zwei blaue Haken. Den Abend verbrachte ich auf dem Wohnzimmerboden. Ich | |
klickte mich durch Google-Ergebnisse, Löcher, Abgründe. Durch Urban | |
Legends, Pornocontent, Top-Ten-Listen der besten Golflöcher. Bei den Fail | |
Compilations blieb ich hängen: Zusammenschnitte von Überwachungskameras, in | |
denen Zimmerdecken in Räume einbrachen, wohl in irgendeinem US-Loch. | |
Heimwerkende Beine stürzten durch Geschosse, nassgraues Dämmmaterial | |
klatschte auf Arbeitsplatten. Selten wurde jemand verletzt. Im | |
Reddit-Beitrag schrieb jemand: „That is the worst break-up guide I have | |
ever read.“ | |
Ich zielte, versenkte Taschentücher und Teebeutel, Klamotten und Altglas, | |
lauschte vergeblich auf ein Zerschellen. Zosia hatte recht. Selbst wenn | |
hier vorher kein Müllschlucker gewesen war, jetzt gab es einen. | |
Am dritten Tag klingelte die Nachbarin: vielleicht Mitte sechzig, | |
knallgelber Sportanzug. Ihre Fingernägel klackerten gegen den Türrahmen, | |
lang, fest, unlackiert. „Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie, „die ganze | |
Nacht war da so ein Rauschen, haben Sie Ihren Fernseher falsch | |
eingestellt?“ | |
Niemals hätte ich an ihrer Stelle die ganze Nacht gewartet. Ich verneinte, | |
sie klackerte weiter, es hallte nach. „Haben Sie“, traute ich mich, | |
„zuletzt etwas Seltsames bei sich bemerkt?“ | |
Sie zögerte. Ihre Fingernägel erinnerten mich an Schwertmuscheln. „In Ihrem | |
Wohnzimmer vielleicht“, versuchte ich es nochmal, „ist Ihre Decke da | |
normal?“ | |
„Ja, aber, wissen Sie, meine Nägel hören nicht auf zu wachsen. Ich kann sie | |
nicht schneiden. Morgens sind sie kurz, da kann ich mein Handy benutzen, | |
putzen, Geld abheben, aber sie werden länger, bis ich abends daliege. | |
Manchmal mit offenem Fenster, weil mein Schlafzimmer so klein ist und die | |
Nägel an die Scheiben kratzen. Nachts setzen sich manchmal Spatzen darauf, | |
aber das stört mich nicht, es tut nicht weh, und wenn ich morgens aufwache, | |
sind die Nägel wieder kurz. Die Spatzen bleiben draußen. Schneiden bringt | |
nichts, wie gesagt. Jedenfalls, was war mit der Decke?“ | |
Das Klackern hatte gestoppt. Ihre Nägel waren schon während des Monologs | |
Millimeter gewachsen, und so wie sie mich ansah, mit einer noch | |
wahnsinnigeren Geschichte als meiner, bat ich sie herein. | |
Drei Holzbeine des Tischchens standen auf dem Boden, das vierte schwebte | |
über dem Nichts. Ein wenig weniger Gleichgewicht, und alles wäre | |
hineingestürzt. Das Loch war gewachsen. | |
„Wie tief ist es?“, fragte die Nachbarin. | |
„Tiefer, als es sein könnte. Heute Morgen war es noch kleiner.“ Sie näher… | |
sich, ging vor dem Loch auf die Knie, lieh ihm ihr Ohr. | |
„Das ist das Rauschen aus der Nacht. Haben Sie jemandem Bescheid gesagt?“ | |
„Der Hausverwaltung.“ Sie winkte ab. | |
„Der Polizei, den Medien?“ | |
„Wem kann man das schon erzählen? Tee?“ | |
Wir setzten uns in die Küche, das Loch im Blick. Als ich ihr die Zuckerdose | |
vor die Tasse stellte, blickte sie mich entschuldigend an, schob beides in | |
meine Richtung. Ihre Nägel waren so sehr gewachsen, dass sie den filigranen | |
Löffel kaum in der Tasse drehen konnte. Sie rückte bis an die Wand, süßte | |
mit fast ausgestrecktem Arm ihr Getränk. „Waren Sie damit mal beim Arzt?“ | |
„Morgens um acht ist die einzige offene Sprechstunde, da ist mein Problem | |
noch unsichtbar, als gesetzlich Versicherte eh. Dann die Mittagspause in | |
der Praxis und nachmittags, nein, da komme ich kaum aus der Wohnung, das | |
Treppenhaus, der Aufzug erst.“ | |
Sie erzählte es, als wäre es das Normalste auf der Welt. Nicht zuletzt ihre | |
fast beschämende Offenheit gegenüber einer Fremden legte nahe, dass sie | |
auch vorher selten das Haus verließ. Vielleicht gab es kein Vorher, | |
vielleicht war ihr Leiden schon immer da. „Aber ich will mich nicht | |
beklagen“, seufzte sie, „morgens habe ich eine intensive Zeit. Dürfte ich | |
nochmal zum Loch?“ | |
Meine Anrufe an die Hausverwaltung, an entfernte Bekannte gingen ins Leere. | |
Stündlich maß ich nach und notierte die Zahl in ein kleines Heft. Es war | |
eine dankbare Routine. Ich aktualisierte die Immobilien-Website, maß nach, | |
korrigierte nach oben. Mal wuchs es nicht, dann zehn Zentimeter, einmal | |
schrumpfte es, leider ein Messfehler. | |
Abends kam Zosia zurück und füllte die Luft mit Bier und Schweiß. | |
„Es ist gewachsen“, begrüßte ich sie. | |
Sie ging zum Sofa, sagte kurz nichts, dann: „Es ist wie im Film.“ | |
„In welchem?“ | |
„Na, in Filmen passiert das ständig, dass sich irgendwo Löcher auftun.“ | |
„Nenn mir einen.“ | |
„Lass mich in Ruhe.“ | |
„Ja, dann sag sowas doch nicht, wenn du kein Beispiel hast.“ | |
„Ich wünschte, ich wäre jetzt gerade in einem Film.“ | |
„Da wärst du ähnlich hilfreich wie hier.“ | |
Mit den Fingern massierte sie ihre Augen, ihr Katergesicht, und fragte: | |
„Und wer ist das?“ | |
Die Nachbarin saß am Rande des Lochs, ließ ihre Beine darin baumeln. Hinter | |
sich der kleine Couchtisch mit dem erkalteten Tee, darin ein Strohhalm. | |
Ihre Hände hingen entspannt in der Dunkelheit. „Ich wohne unter Ihnen“, | |
sagte sie, „Sie streiten oft.“ Zosia lächelte unverbindlich, holte ihre | |
Bettwäsche und warf sie aufs Sofa. Ohne sich die Glitzerpartikel aus dem | |
Gesicht zu waschen, ohne uns oder das Loch zu beachten, ohne zu prüfen, wie | |
weit das Bein des Sofas noch von der Kante entfernt war, legte sie sich hin | |
und löschte das Licht. Die Nachbarin und ich hockten im Dunkeln. | |
„Vielleicht sollte ich gehen“, sagte sie, „könnten Sie mir die Tür öff… | |
Und meine Eingangstür auch?“ | |
Ich half ihr. Mit ausgestreckten Armen erhob sie sich, ging vorsichtig | |
rückwärts, eine Frau wie ein zurückgespulter Zombiefilm. Die meterlangen | |
Fingernägel zog sie über den Boden, über die Treppe, in ihre Wohnung. Sie | |
war fast leer, an den Wänden hingen keine Fotos, an der Decke kein Loch. | |
Sollte das mit den Nägeln eine kluge Illusion sein, dann hatte sie genug | |
ungestörte Zeit gehabt, sie sich auszudenken. | |
Am dritten Tag erwachte ich noch nachts. Wie die Nachbarin hatte ich das | |
Bett für mich allein. Zusammengerollt lag Zosia am linken Ende des | |
Dreisitzers. Ich machte Licht. Zosia stöhnte und steckte ihren Kopf unter | |
das Kissen. „Steh auf, schnell“, sagte ich. In ihre Decke eingewickelt | |
stellte sie sich neben mich und starrte. Das Loch war auf dem Boden. Das | |
Loch war an der Wand. Das Loch war so groß und ungleichmäßig gewachsen, | |
dass ich nach dem Zollstock für mein Protokoll griff, und ihn hineinwarf. | |
Ich holte meinen Koffer, packte Blusen, Unterwäsche, Tampons. | |
„Los, wir sollten weg.“ Zosia starrte weiter. Am oberen Ende der Bettdecke | |
glitzerte es inmitten von Mascararesten. | |
„Wohin?“ | |
„Egal, ins Hotel, oder ruf deine Mutter an.“ Sie schüttelte den Kopf: | |
„Es fährt kein Bus mehr, lass uns bis morgen warten.“ Kurz der Gedanke: Ich | |
müsste sie nur schubsen, diesen weißen, müden Fleck, der so wenig verstehen | |
wollte, worum es hier ging. „Kann ich mit ins Bett?“, fragte sie, der | |
Gedanke verschwand. | |
Wir berührten einander fast, ich wünschte, sie hätte sich abgeschminkt. | |
„Wusstest du, dass der Bautyp unserer Platte in der DDR am meisten verbaut | |
wurde?“, flüsterte ich. | |
Sie antwortete nicht, sagte dann: „Ich habe eine Wohnung gefunden, für | |
mich.“ | |
Was war schlimmer? Dass sie etwas gefunden hatte, oder dass sie vor mir | |
etwas gefunden hatte, mit doppelten Leerzeichen im Anschreiben und | |
gefälschten Gehaltsnachweisen? | |
„Wo?“, fragte ich, „wann?“ | |
Doch da atmete sie schon so tief und gleichmäßig, dass sie es spielen | |
musste. | |
Heute kam die Nachbarin wieder, wieder mit fast normalen Nägeln. Sie | |
brachte Ingwerkekse vorbei, „heute Morgen erst gebacken, bevor es wieder | |
nicht geht“. Ich nahm einen, er brannte und wärmte, und räumte weiter | |
meinen Kleiderschrank aus. Das Sofa stand mittlerweile an der anderen Seite | |
des Raums, das Loch gegenüber wie der mondänste Flachbildschirm aller | |
Zeiten. | |
Zosia kam aus der Dusche. Im Bademantel setzte sie sich zur Nachbarin, nahm | |
sich einen Keks und alle Zeit der Welt. Die Nachbarin lächelte, bewegte | |
fröhlich ihre Klauen. Selbst Zosia blinzelte mich zwischendurch an, als | |
wäre nichts passiert. Wie gesund ihre Haut jetzt aussah, dachte ich. „Wann | |
rufst du deine Mutter an?“ | |
Sie stand auf, schob sich den Rest in den Mund und knallte die Tür zum | |
Schlafzimmer zu. Ich klappte meinen Laptop auf. Der Bildschirm wurde | |
schwarz, das Lämpchen am Ladekabel blieb ausgeschaltet. Ich nahm mein | |
Handy, auch da: nichts. „Können Sie Ihr Handy benutzen?“, fragte ich die | |
Nachbarin. Sie hob ihre Hände, jeder Fingernagel lang wie ein Buttermesser. | |
Aus dem Nebenzimmer hörte ich Zosias Stimme lauter werden. | |
Mit der Nachbarin schaute ich ins Schwarz. Es sah harmlos aus, als würde es | |
dazugehören zu dieser unsanierten Wohnung, den unsanierten Bewohnerinnen. | |
„Wenn man hinschaut, wird es nicht größer“, sagte ich, „wie bei Ihren | |
Nägeln.“ Sie zuckte die Schultern. | |
„Aber man kann nicht die ganze Zeit draufschauen, man muss arbeiten und | |
schlafen und Staub saugen.“ | |
„Hätte Zosia besser Staub gesaugt, dann hätten wir das Loch vorher | |
gefunden.“ | |
Sie kratzte sich, Kinn gegen Schulter. | |
„Und was hätte das gebracht?“ | |
Die Tür ging auf. „Was sagt deine Mutter?“ | |
„Ich habe niemanden erreicht“, sagte Zosia. Legte eine Hand an meinem Arm, | |
drückte ihn zärtlich. „An der Wohnungstür ist ein Loch.“ Ich drehte mich | |
um, musste korrigieren. Da, wo ein Türgriff und mein Koffer gewesen waren, | |
war nichts mehr. Die Wohnungstür war ein Loch. | |
Vor dem Balkon sitzen Krähen in den Ästen, gaffen. Die Nachbarin hockt | |
drinnen am Loch und hält ihr Gesicht in die Mittagssonne. Ständig nehme ich | |
meine Hände von der Brüstung, wische sie an meiner Hose ab. Wir sind | |
draußen, dreißig Meter über dem Boden. | |
Wenn ich mich über das Geländer lehne, kommen mir die Wolken näher vor. | |
Rechts von mir beginnt die Feuerleiter. Ich versuche, nicht zu genau | |
hinzusehen, sie nicht auf Rost zu untersuchen, auf Frost und Vogelkot. | |
„Drehen Sie sich bitte um“, sage ich zur Nachbarin. Auch Zosia hat | |
versucht, sie vom Mitkommen zu überzeugen. Sie hob nur die Hände, die | |
Finger, die viel zu langen Nägel, um damit die eng an der Wand verlaufenden | |
Sprossen zu ergreifen. | |
„Wir holen Hilfe, wirklich“, sagte ich, aber sie hörte kaum zu. Ich gehe | |
als Erste. Ich hätte gern noch jemanden angerufen oder ein Tutorial | |
angeschaut. Die Sprossen fühlen sich noch kalt an, ich hänge halb über dem | |
Geländer. Fast will ich mich umdrehen, Zosia umarmen, aber ich weiß: Wenn | |
ich mich jetzt nicht traue, bleibt nur das Loch. Und wenn schon fallen, | |
dann so, dass man sieht, wo es hingeht. Ich schwinge mich rüber, mache den | |
ersten Schritt nach unten. Stur blicke ich an die Wand. „Komm“, sage ich. | |
„Komm schnell.“ Zosia zögert. Mein Körper wiegt so viel wie das ganze Hau… | |
mit jeder Sekunde fühle ich mich eine Etage schwerer. | |
„Komm!“, wiederhole ich. Langsam umfassen ihre Hände die erste Sprosse. Sie | |
macht den ersten Schritt, meine Arme brennen, meine Beine zucken, ich | |
keuche die Mauer an. Sie macht den zweiten Schritt, ihre Beine zittern, | |
ihre schönen Beine. Ich mache den zehnten Schritt, den elften, den | |
zwölften, die Sonne am Hinterkopf. Sie zieht nach, zu schnell. Ihr | |
Turnschuh tritt auf meine Finger. Da ist ein Geräusch. Wenn ich jetzt | |
falle, denke ich, dann suche ich dich für immer heim. | |
27 Dec 2023 | |
## AUTOREN | |
Susanne Romanowski | |
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