| # taz.de -- Angehörige über entführte Israelis: „Sie sind unschuldige Zivi… | |
| > Hamas-Terroristen entführten acht Familienmitglieder von Shira Havron. | |
| > Sie appelliert an die europäische Politik und Bürger*innen: vergesst sie | |
| > nicht. | |
| Bild: Shira Havron (rechts) bei einem Treffen mit Nicola Beer, Vizepräsidentin… | |
| Shira Havron schaltet sich per Zoom aus ihrer Wohnung in Tel Aviv zu. Die | |
| 27-jährige Filmstudentin trägt ein T-Shirt, auf dem das Bild ihrer | |
| entführten Verwandten zu sehen ist sowie der Schriftzug „Rettet meine | |
| Familie“ in Englisch, Spanisch und Französisch. Während sie mit der taz | |
| spricht, findet am Brandenburger Tor in Berlin eine Solidaritätskundgebung | |
| für Israel und gegen Antisemitismus mit rund 25.000 Teilnehmer*innen | |
| statt. Angehörige, deren Familien am 7. Oktober 2023 von der | |
| Terrororganisation Hamas nach Gaza verschleppt worden sind, halten dort | |
| Reden. Das mache ihr Mut, sagt Havron. | |
| taz: Frau Havron, am 7. Oktober griff die Hamas Israel an, sie ermordete | |
| mindestens 1.400 Menschen und entführte mehr als 200 weitere in den | |
| Gazastreifen. Wie haben Sie von dem Angriff erfahren? | |
| Shira Havron: Ich war in London, auf einer Reise mit meinem Freund. Mitten | |
| in der Nacht wachte ich auf und sah, dass wieder Raketen auf Israel | |
| geschossen werden. Aber das ist in Israel normal. Als wir morgens | |
| aufgestanden sind, hatte ich viele Nachrichten. Ich rief meine Mama an, die | |
| in Tel Aviv war, und sie erklärte mir die Situation. Gegen 10 Uhr verloren | |
| wir den Kontakt zu dem Rest meiner Familie, die im Kibbuz Be’eri lebt – nur | |
| fünf Kilometer von Gaza entfernt. Es hat eine Weile gedauert, bis mir klar | |
| wurde, was das alles bedeutet. Ich war mir sicher, dass es ihnen gutgeht, | |
| dass das bald wieder vorbei sein wird. War es aber nicht. | |
| Wie haben Sie reagiert, als Sie festgestellt haben, dass die Hamas Ihre | |
| Verwandten nach Gaza entführt hat? | |
| Ich war schockiert, konnte es nicht glauben. Ich brach in Tränen aus, weil | |
| die Situation so surreal war. Zunächst hieß es, dass zehn | |
| Familienmitglieder verschleppt worden sind. Aber inzwischen wurde uns | |
| mitgeteilt, dass zwei meiner Onkel ermordet worden sind. Acht werden noch | |
| vermisst und wurden als Geiseln bestätigt. Neue Informationen kommen | |
| langsam bei uns an. Ursprünglich hieß es, dass einer der Onkel, Eviatar | |
| Kipnis, in Gaza sei, obwohl er eigentlich schon tot war. Eviatar hatte eine | |
| Autoimmunkrankheit und brauchte einen Pfleger. Die Hamas hat sie beide | |
| ermordet. | |
| Wer wird noch vermisst? | |
| Zwei Tanten, die Schwester von meinem Onkel sowie ihre Tochter, meine | |
| Cousine, ihr Mann und deren Kinder. Das jüngste ist erst drei Jahre alt. | |
| Wie würden Sie Ihre vermissten Verwandten beschreiben? | |
| Sie sind außergewöhnliche Menschen, die Werte wie Frieden, Gleichheit und | |
| Solidarität hochhalten. Mein Onkel Eviatar spendete sein Behandlungsbett an | |
| eine Familie in Gaza. Meine Tante Shoshan Haran gründete die NGO „Fair | |
| Planet“, die Entwicklungshilfe in Afrika leistet. Sie will damit den | |
| Welthunger beenden. Dieser Aufgabe hat sie ihr ganzes Leben gewidmet. Die | |
| andere Tante, Lilach Kipnis, ist Sozialarbeiterin, sie behandelt Menschen | |
| mit posttraumatischer Belastungsstörung nach Krieg und Raketenangriffen. | |
| Sharon Avigdori ist die Schwester meines Onkels, sie hilft Kindern mit | |
| Autismus. Auch ihre Tochter Noam wurde entführt. Meine Cousine, Adi Shoham, | |
| ist Psychologin, sie ist eine warme, einfühlsame Person. Die Kinder von Tal | |
| und ihr – Yahel und Naveh – sind schön, intelligent. Sie haben ihr Leben | |
| gerade erst begonnen. | |
| Was würden Sie ihnen gerne sagen, wenn sie das lesen könnten? | |
| Dass wir sie da rausholen. Und dass wir jede Sekunde, in der wir wach sind | |
| – und wir schlafen momentan kaum –, daran arbeiten, sie nach Hause zu | |
| bringen. Ich hoffe, dass sie das wissen. | |
| Ihr Opa Avraham Havron ist als Kind aus Nazideutschland in das damalige | |
| britische Mandatsgebiet Palästina geflohen. 1947 gründeten er und seine | |
| Frau Rina den Kibbuz Be’eri, der überfallen wurde. Was bedeutete der Ort | |
| für ihn? | |
| Es war sein Zuhause, es war sein Stolz, es war sein Alles. Sie hatten vier | |
| Kinder, zwei von ihnen – meine Tanten – sind geblieben, gründeten dort | |
| selbst Familien. Es war ein Ort, an dem sich mein Opa sicher fühlte, ein | |
| Traum, der in Erfüllung ging. Der Kibbuz ist bis heute nach sozialistischen | |
| Prinzipien organisiert: Alle teilen ihre Gehälter. Mein Opa ist im | |
| vergangenen Jahr verstorben, er wurde 97 Jahre alt. Ich bin sehr froh, dass | |
| er und meine Oma das gerade nicht miterleben mussten. Es hätte sie | |
| zerstört. | |
| Wie geht es der Kibbuz-Community seit dem Angriff der Hamas? | |
| Rund 120 Bewohner*innen wurden ermordet, viele nach Gaza verschleppt. | |
| Das sind über zehn Prozent des Kibbuz. Die Hamas hat Häuser niedergebrannt | |
| und bombardiert. Meine Cousinen sagen, sie gehen nicht zurück, bis die | |
| Hamas zerschlagen wurde und sie 100 Prozent gewiss sein können, dass sie | |
| dort sicher sind. Der Kibbuz ist ein Ort des kollektiven Traumas. Aber es | |
| gibt andere, die sagen, dass wir stark sein müssen, dass wir uns davon | |
| wieder erholen werden. | |
| Seit dem Angriff waren Sie in Brüssel, Sie haben vor dem Europäischen | |
| Parlament eine Rede gehalten, haben auch mit der Parlamentspräsidentin | |
| Roberta Metsola und dem Ratspräsidenten Charles Michel gesprochen. Was | |
| erwarten Sie von der EU? | |
| Ich und auch eine andere Person, deren Cousin vermisst wird, wollten dort | |
| Druck machen. Wir brauchen Hilfe, um unsere Familien wieder nach Hause zu | |
| bringen. Viele meiner Familienmitglieder, die entführt wurden, haben auch | |
| europäische Staatsbürgerschaften – entweder die deutsche, österreichische | |
| oder italienische. Es ist also nicht nur die Verantwortung der israelischen | |
| Regierung, sie da rauszuholen, sondern auch die der EU-Regierungen. Und | |
| schließlich auch die Verantwortung der Welt. Denn das ist eine humanitäre | |
| Krise. | |
| Was fordern Sie von der deutschen Regierung? | |
| Mein Vater hat Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen, als er Israel besuchte. | |
| Deutschland sage ich: Das sind auch Ihre Bürger*innen. Helfen Sie ihnen. | |
| Das Rote Kreuz braucht Zugang zu den Geiseln, weil das bislang nicht | |
| geschehen ist. Sie sind krank, verletzt – manche sind nur Kinder. Wir | |
| bitten Sie also zu handeln – jetzt. | |
| Und von der deutschen Gesellschaft? | |
| Die Verschleppten in Gaza sind unschuldige Zivilist*innen, die in | |
| Gefangenschaft sind. Bitte sorgen Sie dafür, dass dieses Thema hoch auf der | |
| Agenda bleibt. Vergessen Sie sie nicht, ihre Gesichter, ihre Namen. Auch | |
| wenn die Situation in Nahost komplizierter wird. | |
| Es gibt europaweit viel Solidarität mit den Familien der ermordeten | |
| Israelis, mit den Geiseln in Gaza. Aber es gibt auch Menschen, | |
| Institutionen, darunter solche, die sich als links oder progressiv | |
| begreifen, die wenig Empathie zeigen, denen nur die Parole „Free Palestine“ | |
| einfällt. Was macht das mit Ihnen? | |
| Es ist enttäuschend. Das ist keine „politische Situation“, was meiner | |
| Familie gerade passiert. Wir unterstützen den Frieden, wir haben | |
| palästinensische Freund*innen. Diesen Menschen sage ich: Stellen Sie sich | |
| vor, dass das Ihre Familie wäre, Ihre Tante, Ihre Nichte. Wenn Sie | |
| tatsächlich für Menschenrechte sind, dann müssen Sie auch die Rechte der | |
| Geiseln unterstützen, sich für ihre Leben einsetzen. | |
| Israel ist in einer schwierigen Situation: Auf der einen Seite soll die | |
| Hamas ausgeschaltet werden, wahrscheinlich mit einer Bodenoffensive, auf | |
| der anderen Seite muss für die Befreiung der Geiseln gesorgt werden. | |
| Muss sich das widersprechen? Wir müssen sowohl die Geiseln befreien als | |
| auch diese Terrororganisation eliminieren. Eine Organisation, die nicht nur | |
| für uns gefährlich ist, sondern auch für die Menschen in Gaza. Beide Seiten | |
| leiden unter der Hamas. Aber natürlich ist meine Priorität aktuell das | |
| Leben meiner Familienmitglieder. | |
| Ein Sprecher der Hamas deutete an, die israelischen Geiseln könnten im | |
| Tausch für rund 6.000 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen, viele | |
| von ihnen wegen Terrorismus verurteilt, freikommen. Hamas-Führer Yahya | |
| Sinwar, maßgeblich verantwortlich für den Angriff am 7. Oktober, kam 2011 | |
| selbst durch einen solchen Gefangenentausch frei. Was macht das mit Ihnen? | |
| Natürlich löst das in mir ambivalente Gefühle aus. Aber ich kann nur | |
| wiederholen, ohne mich dafür zu entschuldigen: Es geht um das Leben meiner | |
| Familie und ich will sie zurückhaben. Deshalb müssen wir eine Lösung | |
| finden. | |
| Inzwischen sind Sie wieder zu Hause in Tel Aviv. Wie fühlt es sich an, in | |
| Israel zu sein? | |
| Ich bin für zwei Beerdigungen zurückgeflogen. Ich wollte natürlich auch bei | |
| meiner Familie sein. Es ist schwierig. Wir sind im Krieg. Viele sind | |
| traumatisiert, wir haben Angst. Ich habe meine Cousinen gesehen, die nun | |
| Waisen sind. Und das macht alles sehr echt. | |
| Zwei Geiseln wurden inzwischen übergeben, Judith und Natalie Raanan, beide | |
| israelisch-amerikanische Staatsangehörige. Gibt Ihnen das Hoffnung? | |
| Das sind tatsächlich entfernte Verwandte von uns. Judith ist meine Cousine | |
| zweiten Grades. Zunächst wusste ich nicht, wie ich mich fühle. Aber jetzt | |
| denke ich, dass wir in ihrer Freilassung Hoffnung finden müssen. Wir müssen | |
| an dieser Hoffnung festhalten. | |
| 24 Oct 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Nicholas Potter | |
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