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# taz.de -- Vor dem G20-Gipfel: Ein Plan B ist nötig
> Beim G20-Gipfel wird es keine Lösungen für die globalen Krisen geben. Im
> Weg steht das Konkurrenzdenken von Nationalstaaten und Unternehmen.
Bild: Kinder von Farmarbeitern lernen auf der Straße, nachdem ihr Heim überfl…
Unter der Überschrift „One Earth, One Family, One Future“ treffen sich am
Wochenende die mächtigsten Politiker der Welt [1][in Delhi zum G20-Gipfel].
Der Kontrast zwischen dem Motto und der dysfunktionalen Weltpolitik von
heute wäre komisch, wenn er nicht so tragisch wäre. Denn die Menschheit
scheitert systematisch an ihren größten Herausforderungen: der Abwendung
des Klimakollapses, der Sicherung menschenwürdigen Lebens für alle, einem
humanen Umgang mit Migration, der Eindämmung militärischer Konflikte oder –
neuester Eintrag auf der To-do-Liste – sicherer künstlicher Intelligenz.
Bei keinem dieser Themen ist das Hindernis ein Mangel an technischem Wissen
oder Ressourcen. Was im Weg steht, ist eine doppelte Konkurrenz, die tief
in unserer Politik- und Wirtschaftsordnung verankert ist: zwischen
Nationalstaaten auf der einen Seite und zwischen profitorientierten
Unternehmen auf der anderen.
Einige Beispiele: Wir verfügen über das medizinische Wissen, um Hunderten
Millionen Menschen weltweit gesundheitlich zu helfen – [2][mit Generika],
Impfungen, einfachen medizinischen Materialien. Aber das passiert nicht.
Kommerzielle Erwägungen und komplizierte Patentrechte stehen im Weg. Wir
haben schon lange die Technologie, um einen katastrophalen Klimakollaps zu
vermeiden. Auch das passiert nicht. Zwietracht auf Klimagipfeln,
ökonomische Konkurrenz sowie die Interessen der Ölmultis blockieren unsere
Bemühungen.
Die Risiken künstlicher Intelligenz müssten durch schlagkräftige
öffentliche Kontrolle eingedämmt werden. Wiederum passiert zu wenig. Der
militärische Mehrwert digitaler Technologien ist zu groß, und Tech-Giganten
können sich im Rennen um eine Marktführerschaft keine Atempause erlauben.
Die Liste ließe sich fortsetzen, aber das Muster ist klar. Konkurrenz unter
Ländern und unter gewinnorientierten Firmen hält uns strukturell davon ab,
kollektive Herausforderungen effektiv anzugehen. Politischen und
ökonomischen Wettbewerb hat es immer schon gegeben. Was neu ist, ist, dass
mit ihm unsere Zukunft auf dem Spiel steht.
Globale Führungspersönlichkeiten, in Unternehmen wie in der Politik, treten
in hochtrabenden Reden gern für Menschenwürde, Gleichberechtigung, den
Planeten und technischen Fortschritt für alle ein. Aber immer kommen
„politische Realitäten“ oder unternehmerische Anreize in die Quere. Es ist
die Struktur von Politik und Wirtschaft, die Interessengegensätze
systematisch akzentuiert.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass unsere gegenwärtige wirtschaftliche
und politische Weltordnung uns sicher durch dieses Jahrhundert führen wird.
Schon jetzt verfängt sich nationale Politik in Abwärtsspiralen, wo man auch
hinschaut: zunehmende Ungleichheit, wachsende Unzufriedenheit,
anschwellender Autoritarismus, schwelende ethnische Konflikte, politische
Debatten, die eher von wütenden Textfetzen als von durchdachten Argumenten
dominiert werden.
Einfach festhalten an der gegenwärtigen Ordnung ist keine Option. Wenn wir
sie nicht bewusst durch eine alternative Form politischer Organisation
ersetzen, wird sie ihren Defekten schlicht erliegen. Während die
G20-Staats- und -Regierungschefs sich wieder einmal schwertun dürften,
überzeugende Lösungen zu liefern, ist es an der Zeit, ernsthaft darüber
nachzudenken, wie Politik und wirtschaftliche Angelegenheiten der
Menschheit besser organisiert werden können.
Die Antwort ist nicht eine kommunistische Weltdiktatur. Nationale
politische Differenzen sind in Ordnung, zum Beispiel beim Thema Bildung.
Sie sind es aber nicht, wenn die einzigen praktikablen Antworten auf – zum
Beispiel – Umweltprobleme global sind. Nationale Selbstbestimmung wird
unhaltbar, wenn die Wettbewerbsdynamik, die sie erzeugt, unsere gemeinsame
Zukunft ernsthaft gefährdet.
## Vorbild EU?
Es braucht Kreativität und Experimentierfreude, um demokratische Teilhabe
mit globaler politischer Schlagkraft zu verbinden. Vielleicht kann – trotz
ihres Mangels an Popularität – die EU eine Inspirationsquelle sein? Sie
kombiniert verbindliche Absprachen wo nötig mit nationalen Sonderwegen wo
möglich. Könnte eine UNO 2.0 so etwas auch? Das Gleiche gilt in der
Wirtschaft. Wettbewerb zwischen Bäckereien ist prima, wenn es leckere
Brötchen zum Frühstück geben soll. Aber er ist gefährlich, [3][wenn sichere
KI] das Ziel ist. Unternehmensrationalitäten sind nur so lange legitim, wie
sie die Zukunft von Gesellschaften nicht unterminieren. Der Ausgangspunkt
muss eine Form kollektiver Souveränität über zukunftsentscheidende
Technologien sein.
Aktuell haben wir keine Alternative zu bestehenden Strukturen. Und es
bleibt wichtig, Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Respekt und
Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Trotzdem hat Politik, wie wir sie
kennen – einschließlich all ihrer Errungenschaften – eine begrenzte
Haltbarkeit. Es wäre fahrlässig, nicht darüber nachzudenken, wie eine
Zukunftsordnung aussehen könnte, die die Schattenseiten unternehmerischer
und nationaler Konkurrenz ausschaltet.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Zu viele Debatten sind einem
illusorischen Erhalt des Status quo verhaftet. Dabei sollte das Pferd auch
von der anderen Seite aufgezäumt werden: Wie sähen politische und
wirtschaftliche Strukturen aus, die leisten, was wir brauchen und uns
erhoffen – auch auf globalem Niveau?
Die Frage ist nicht, ob wir in den kommenden Jahrzehnten grundlegende
wirtschaftliche und politische Veränderungen erleben werden. Das werden
wir, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist, ob wir, wenn sich die
aktuelle Ordnung langsam zersetzt, einen Plan B in der Tasche haben. Wenn
wir das G20-Motto „One Earth, One Family, One Future“ nehmen, ist es an der
Zeit, zu skizzieren, wie dieser Plan B aussehen könnte.
8 Sep 2023
## LINKS
[1] /G20-Gipfel-ohne-Chinas-Staatschef/!5957771
[2] /Karl-Lauterbach-in-Indien/!5950666
[3] /Chatbots-aus-China/!5957545
## AUTOREN
Daniel Mügge
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