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# taz.de -- Die Wahrheit: Multiversen aus dem Spam-Filter
> Verdammt! Das Leben hätte so schön und gut verlaufen können, hätte man
> nur irgendwann in das Postfach für vergeblich erwartete Mails geguckt.
Bild: Das Internet als neues Delphi: Schau in den Spiegel der Weisheit und erke…
Seit ein paar Wochen habe ich eine neue Schreckensvorstellung. Es fängt
damit an, dass ich an meinem Computer sitze und mich durch mein
Mailprogramm klicke. Und dann ist es plötzlich da: Das Postfach, in dem
sich all die vergeblich erwarteten Nachrichten der letzten Jahre
angesammelt haben. So viele Jobangebote und Einladungen zu
Bewerbungsgesprächen und eine unglaubliche Menge an Zusagen für
Altbauwohnungen mit niedriger Miete, bodenständiger Nachbarschaft und
Hinterhof.
Unentdeckte Mails sind das Multiversum des kleinen Mannes. Plötzlich wird
man damit konfrontiert, dass auch alles ganz anders hätte laufen können –
wenn man nur in der Lage gewesen wäre, seinen Computer richtig zu bedienen
oder das Glück eines entspannteren Spam-Filters gehabt hätte. Man war die
ganze Zeit nicht zu unfähig, man war einfach nur zu blöd für den eigenen PC
– was vielleicht auf dasselbe hinausläuft.
Nach der ersten Runde Schüttelfrost – was passiert dann? Mit Blick auf die
Mails bekommt man ein Gefühl dafür, was existenzielle Fomo sein könnte:
Fear of missing out, die Angst, etwas verpasst zu haben, aber nicht, weil
man mal ein Wochenende in Neuruppin verbringt, sondern weil alle
Lebensentscheidungen nur in einen dreistellig bezahlten Job am Stadtrand
geführt haben und die Zähne schon mit Mitte 20 Probleme machen.
Wie es sich für Mulitiversen gehört, spaltet sich meine Vision hier in drei
mögliche Folge-Visionen auf.
Erstens: Ich verliere mich in dem Postfach. Alle Mails werden ausgedruckt
und an meine Zimmerwand gepinnt. Anschließend versuche ich, die Folgen zu
errechnen (privat und öffentlich) und alles mit einem roten Faden zu
verbinden. Als Ergebnis befindet sich an meiner Zimmerwand ein ziemlich
paranoides Vieleck. Ich trauere meinem knapp verpassten Reichtum hinterher
und ernähre mich manisch nur noch von Currypaste.
Szenario Nummer zwei: Wieder lese ich ein, zwei Abende in den Mails –
diesmal lösen sie aber keine Panik aus, sondern liefern mir
Selbstbewusstsein. Mit dem unerwarteten Energieschub renne ich vor die Tür
und starte ein epochales Work-out. Schon nach wenigen Wochen liegt mein
Körperfettanteil unter 0,5 Prozent. Ein Jahr später habe ich immer eine
PowerPoint für einen Business-Pitch dabei und träume von meinem eigenen
Start-up, außerdem gele ich mir die Haare jeden Morgen nach hinten.
Und schließlich das dritte (an Bilder des Regisseurs Wong Kar-Wai
erinnernde) Szenario: Ich entdecke die Mails, kümmere mich aber kaum um
sie. Stattdessen gehe ich – jetzt setzt die kitschige Musik ein – zu dir in
die Küche und bin damit zufrieden, wie alles gekommen ist.
Was ich damit sagen möchte: Ich wünsche mir einfach die Zeit zurück, als
statt Multiversen bildgewaltige Weltuntergänge der generische Plot-Device
waren, der sich in jedem Hollywood-Blockbuster fand.
4 Jul 2023
## AUTOREN
Konstantin Hitscher
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
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