# taz.de -- Selbstversuch putzen lassen: Sauberer wird’s nicht, Schatz | |
> Das Leben zwischen Bartstoppeln und Flecken fühlte sich für unseren Autor | |
> gut an. Dann stellte er fest: Es ist eine Demo gegen sich selbst. Nun | |
> holt er sich Hilfe. | |
Dieser Text erschien am 6. Februar 2016 | |
Mit dem Putzen anfangen ist wie mit dem Rauchen aufhören. So schwer kann es | |
eigentlich nicht sein, ist es dann aber doch. Vor ein paar Jahren bereits | |
ließ ich mir einen kleinen, handlichen Hochdruckreiniger zum Geburtstag | |
schenken. Eine schwäbische Tech-Waffe im Kampf gegen den Schmutz. In den | |
Krieg aber bin ich bis heute nicht gezogen. | |
Dabei muss sogar am angeblich verruchtesten Ort der Welt irgendwann mal | |
geputzt werden. „Berghain sucht Reinigungskräfte“ – diese Anzeige fiel m… | |
als erstes auf bei meiner Suche nach Hilfe im Haushalt. Ein Inserat in | |
einem Berliner Szenemagazin. Wenn sogar die Körperflüssigkeiten auf den | |
Lederschaukeln eines Technoclubs professionell weggewienert werden, warum | |
dann nicht die zu Ewigkeit geronnenen Soßenflecken auf dem Linoleumbelag | |
meiner Küche? | |
Ich fand es bislang unangebracht, eine Putzkraft zu beschäftigen. Als ich | |
noch Student war, wäre so etwas ohnehin nicht in Frage gekommen. In der | |
Kohl-Ära gab es Putzfrauen höchstens in den WGs von BWL-Studenten. Und: | |
Wieso eigentlich immer eine Frau? Damit fängt es ja schon an. Womöglich | |
auch noch mit Migrationshintergrund. Anderen Leute ein bisschen Geld in die | |
Hand drücken, damit sie einem auf Knien rutschend den Dreck wegmachen. | |
Beschämend. | |
Doch dann stand ich in meinem winzigen Badezimmer und mir kam der Gedanke, | |
dass mir im Lauf der letzten zehn Jahre meines Arbeits- und Privatlebens | |
etwas entglitten sein musste. Zumindest die Kontrolle über das große | |
dunkelbraune Loch, das als Abfluss meiner Toilette fungiert. Ist das nicht | |
beschämend? Und was ist mit den kleinen schwarzen Punkten, die sich in den | |
Fugen zwischen den Fliesen angesiedelt haben? Und den Kreidefelsen, die | |
sich auf den Flächen der Duschkabine erheben? Wann genau nur war ich | |
eingeknickt – oder hatte ich womöglich nie gestanden? | |
Ein letzter Versuch des Aufbäumens. Der Hochdruckreiniger brummt und zischt | |
zwar immer noch martialisch, ist jedoch augenscheinlich aufgrund von | |
Verkalkung nur noch bedingt einsatzbereit. Aus dem Kanonenrohr kommt ein | |
schlaffes, lauwarmes Wölkchen. Am Ende bleibt mir nichts übrig, als die | |
Handschuhe überzustreifen und kleinlaut mit einem Schwämmchen über die | |
Flächen zu wischen, die auch nach einer Minute kreisender Massage aussehen | |
wie zuvor. Ich stoße mir den Kopf bei dem Versuch, mit dem Lappen hinter | |
die Toilette zu gelangen und das Knie an der Heizung auf dem Weg zur | |
Duschkabine. Sprühe Reinigungsmittel, als müsste ich mich gegen Aliens zur | |
Wehr setzen, bevor ich mich schließlich geschlagen gebe und es bei genau | |
der Oberflächlichkeit belasse, mit der ich schon in der Vergangenheit stets | |
glaubte, irgendwie durchzukommen. | |
Eine Zwangsneurose müsste man haben. Oder wenigstens einen kleinen | |
Putzfimmel. Stattdessen zerbricht mir ein Fläschchen mit Teebaumöl auf den | |
Fliesen des Badezimmers. Nun riecht es wenigstens so aseptisch, wie die | |
Wohnungen im Werbefernsehen aussehen. Ich glaube, ich brauche Hilfe. | |
„Boah, hier riecht’s ja vielleicht krass“, sagt Kerstin zur Begrüßung. … | |
Punkt 12 Uhr, Samstag, hat sie unten geklingelt und steht nun vor der | |
Wohnungstür. Die Perle. Genauer gesagt ist sie die Perle eines guten | |
Freundes, und genau so werden Putzhilfen hierzulande normalerweise | |
vermittelt. Sie werden empfohlen, von Freunden und Kolleginnen. Man ruft | |
nicht bei der Agentur für Arbeit an, es werden keine Steuern gezahlt, | |
abgesetzt wird auch nichts. | |
Kerstin kann heute eigentlich nicht, denn am Samstag ist Oma-Tag: „Ich war | |
bei der Geburt dabei! Nun ist sie drei“, erzählt sie stolz, später will sie | |
mit dem Kind ins Zoo-Aquarium. „Aber das kostet auch Geld. Dabei kann sich | |
das Kind ja eh nur eine halbe Stunde konzentrieren. Wie neulich als ich ihr | |
die Barbiepuppe gekauft habe!“ Kerstin, die Oma, trägt einen praktischen | |
Kurzhaarschnitt, Jeans, Turnschuhe. Erstmal gibt es Kaffee. Wir stehen in | |
der Küche, die sie gleich putzen soll. „Handschuhe brauche ich nicht, dann | |
spüre ich nichts.“ Und die Hände? „Ach“, lacht sie, „ich bin schon f�… | |
da ist es dann auch egal.“ | |
In den Neunzigern ist sie von Essen nach Berlin gekommen, der Klingelton | |
ihres Smartphones ist immer noch Techno. „Zur Loveparade, da bin ich immer | |
gern hingegangen. Aber frag mal meine Tochter: Wenn du über vierzig bist | |
und tanzen willst, dann ist das für sie megapeinlich.“ | |
Kerstin durchforstet die Kammer nach Putzmaterialien und verschmäht den | |
Bioreiniger, findet stattdessen eine fast leere rote Sprühflasche, die per | |
Etikett ihren aggressiven Inhalt anpreist. Das Produkt könnte auch | |
„Wumms!!!“ oder „Krachbäng!!“ heißen und Kerstin sprüht Schaum auf d… | |
Herd. „Diese Teile da kriegste eh nicht mehr ganz sauber“, warnt sie gleich | |
vor zu großen Erwartungen. Es klingt weniger fatalistisch als | |
lebenserfahren. Schöner wird’s nicht, Schatz. Eigentlich könnte man jetzt | |
eine Flasche Sekt aufmachen – wäre da nicht noch die Arbeit. | |
„94: Berlin. 96: Heirat. 99: Scheidung. Seitdem stand ich alleine da mit | |
meiner Tochter, so kam ich zum Putzen“, sagt sie. Einen Zettel hat sie | |
damals im Blumenladen einer Bekannten aufgehängt. „Heute betreue ich 14 | |
Haushalte.“ Sie wurde immer weiter empfohlen, jetzt arbeitet Kerstin jeden | |
Tag, sitzt täglich bis zu drei Stunden in Berlin in der Bahn. | |
Blankenfelde-Kirche, Hermsdorf, Prenzlauer Berg. | |
Beim Wegräumen meiner Gewürzsammlung erläutert sie mir ihr | |
Vertrauenskonzept: „Ich gehöre bei den Menschen, für die ich arbeite, | |
irgendwie zum Leben dazu. Wenn ich das erste Mal komme, lasse ich eine | |
Kopie meines Ausweises da. Könnte ja sonst jeder kommen. Und: Schubladen | |
lasse ich zu, ebenso Kühlschränke, das ist ein Prinzip.“ | |
„Die Flecken da, die gehen nicht mehr weg“ | |
Während ich mich noch frage, ob ich tatsächlich eine Gewürzmühle aus | |
Olivenholz brauche, deren Mahlwerk offensichtlich aus billigem Plastik ist, | |
und auch, warum und wo ich Rosenwasser gekauft habe, etablieren wir unseren | |
eigenen Vertrauenscheck: Wir unterhalten uns über unseren Bezugspunkt – | |
meinen guten Freund, ihren guten Kunden. „Eine Zeit lang habe ich mir ja | |
wirklich Sorgen um ihn gemacht“, erzählt sie und wischt dabei an einem | |
Gläschen mit Kreuzkümmel herum, „immer, wenn ich kam, wusste ich nicht, wo | |
ich anfangen soll: überall volle Aschenbecher und leere Weinflaschen.“ | |
Ja, das weiß ich noch. Ich war ja dabei. Bei der Bewältigung des | |
Liebeskummers seinerzeit, dem Feiern gegen den Schmerz, den wir teilten. | |
Wenn es dabei auch um jeweils verschiedene Liebschaften ging. Er war damals | |
nur noch Haut und Knochen vor Traurigkeit. Aber wenigstens hatte er eine | |
Putzfrau. Und ich bloß einen blöden, verkalkten Mini-Dampfreiniger. | |
Er wird nun bald Vater und ich bin längst geschieden und habe einen neuen | |
Lebensgefährten. Aber: Vielleicht wäre der Schmerz schneller vorbei | |
gewesen, wenn mir nach der Trennung jemand beim Sauber machen geholfen | |
hätte. Putzen hilft gegen Depressionen, heißt es. Wenn man aber | |
Depressionen hat, hat man leider gar keine Kraft zu putzen. | |
Kerstins Kirmestechno-Klingelton scheppert. „Ich bin auf Arbeit“, | |
bescheidet sie unwirsch und schaut sich in der Kammer nach | |
Putzgerätschaften für den Fußboden um. Sie bricht in Gelächter aus: „Was | |
ist das denn?“ fragt sie und zeigt auf meinen Metalleimer nebst zugehörigem | |
Holzschrubber und Lappen. „Sieht ja aus wie bei Omma!“ Sie prustet. Mir war | |
bis hierhin nicht bewusst, dass mein Putzbesteck démodé ist, aber dann | |
fällt mir ein, dass mein Exmann diese Gerätschaften besorgt hatte und der | |
hatte einen Mittelalterfimmel. „Ich sag nur: Vileda Wischmop!“, mahnt | |
Kerstin, „wir haben ja schon 2016.“ Jetzt bin ich die Oma. | |
Kerstins Kunden sind oft alleinstehende Männer. „Einer, ein Junggeselle, | |
bei dem bin ich jetzt schon seit zwanzig Jahren“, sagt sie. „Im Prinzip ist | |
er allein und hat nur mich.“ In seinem Büro lägen immer dicke Bündel mit | |
Bargeld. In Versuchung gekommen sei sie noch nie. „So was gibt es bei mir | |
nicht“, sagt Kerstin, während sie das Linoleum bearbeitet. „Ganz ehrlich: | |
Die Flecken da, die gehen nicht mehr weg. Die gehören jetzt zum Boden | |
dazu.“ Ja, das ist dann wohl so, denke ich. Manche Dinge brennen sich | |
einfach ein. Da ist nichts mehr zu machen. | |
Dann sagt Kerstin: „So richtig leicht fällt mir das nicht mehr, nach dieser | |
Scheidung damals. Sich wieder auf jemanden einlassen. Aber ich habe | |
trotzdem wieder einen Kerl.“ Sie wischt erneut über den Fußboden. Es ist | |
das dritte Mal. | |
Auf meiner Fensterbank lagert auch ein kleines Vermögen. Keine Scheine, | |
Wechselgeld, Cent-Münzen – alles was ich in den Taschen finde. „Meine | |
Rente“, sage ich, nur halb im Scherz. Und in diesem Augenblick spielt es | |
keine Rolle, dass hier einer dem anderen den Dreck wegputzt und der andere | |
auch noch dabei zuguckt. Der Altersarmut können wir gemeinsam entgegen | |
blicken, rechnen uns gegenseitig vor, wie sehr wir unter dem | |
Existenzminimum liegen werden. Ich, der Akademiker, ein bisschen weniger | |
als sie mit ihrer abgebrochenen Lehre als Bäckereifachverkäuferin. Heute | |
nennt man das Brotberaterin. | |
Das Geld bekommt sie am Ende bar auf die Hand, schwarz. So läuft das mit | |
den Perlen. Zwei Stunden hat Kerstin für die Küche gebraucht, weil ich sie | |
mit meinem Gequatsche abgelenkt habe. Ich gebe ihr 30 statt der | |
verabredeten 20 Euro. Das fühlt sich gut an, es vertreibt das schlechte | |
Gewissen. Ein bisschen. | |
Neben dem Geldhaufen auf meiner Fensterbank steht eine kleine Pflanze, die | |
mein neuer Lebensgefährte aus seiner Heimat Slowenien mitgebracht hat. Sie | |
tröstet ihn, wenn er Heimweh hat. Kerstin hatte sich von Anfang an in das | |
kleine Bäumchen verliebt. „Bei uns zu Hause haben wir das Geldbaum | |
genannt“, sagt sie entzückt und erbittet einen Ableger. Den bekommt sie | |
auch. Ein persönliches Dankeschön dafür, dass sie so etwas Intimes wie die | |
Reinigung meiner Küche übernommen hat. Er soll ihr Glück und Geld bringen. | |
Ist das also die Lösung, wenn man es nicht auf die Reihe bekommt mit der | |
Sauberkeit? Man baut ein persönliches Verhältnis zu einem fremden Menschen | |
auf, den man am Ende doch dafür bezahlt, damit er für einen arbeitet. | |
Seltsam. Man muss das offenbar von Hause aus gelernt haben: Personal haben | |
und damit umgehen. Hat man es nicht gelernt, entwickelt man zwangsläufig | |
einen irgendwie linkischen Umgang mit dem Thema. Zu viel Nähe oder zu viel | |
Distanz: Die einen suchen das Weite, wenn die Putzkraft kommt. Verstecken | |
sich irgendwo in einem Café. Die anderen bauen gleich eine Freundschaft | |
fürs Leben auf. | |
Geht es nicht irgendwie professioneller? | |
Ich setze mich an den Laptop. Nachdem das Internet in fast allen Bereichen | |
vom Buchkauf bis zum Geschlechtsverkehr zwischengeschaltet ist, drängelt es | |
sich ja nun auch in die private Haushaltsführung. Helpling ist eines | |
dieser Start-ups, die sich seit gerade mit Plakatwerbung und Onlinebannern | |
eine Schlacht um einen wachsenden Markt liefern: Onlinevermittlung von | |
Putzhilfen. Auf einer Website gibt man in der Suchmaske Name und Adresse | |
ein, wählt Datum, Zeit- und Zahlungsrahmen. Und Bing: Spuckt die | |
Schicksalslotterie einen Menschen aus, der einem zu Hause hilft, gegen | |
Schmutz, Apathie und Tatenlosigkeit zu kämpfen. Drei Stunden lang für 47 | |
Euro, inklusive Versicherung. Einen Teil des Rechnungsbetrages kann man von | |
der Steuer absetzen und der ganze Buchungsvorgang, so verspricht es die | |
Seite, soll sage und schreibe 60 Sekunden dauern. Perle on demand! | |
Und dann passiert erst mal gar nichts. Warten auf die angekündigte | |
Bestätigungsmail. Betrachten von aufwändig produziertem Reinigungs-Content | |
auf der Helpling-Seite. YouTube-Clips, Putz-News, einer Forsa-Studie: Mehr | |
als die Hälfte der Deutschen wollen Flüchtlingen schnellen Zugang zu | |
einfachen Jobs wie Putzen ermöglichen. In der Zeit, in der man hier sitzt, | |
hätte man mindestens einen Kleiderschrank auswaschen oder ein Start-up | |
gründen können. Bis man dann doch auf die Idee kommt, das etwas schief | |
gelaufen sein könnte trotz aller Easy-Perfektion: Sämtliche | |
Helpling-Bestätigungsmails waren im Spamordner gelandet. Im Müll, | |
ausgerechnet. | |
Doch die Schicksalslotterie hat funktioniert: Der Helpling ist ein Mann und | |
er heißt Lucio mit Vornamen. Er hat eine Mobilnummer und man kann ihn | |
kontaktieren, wenn es Probleme gibt. Helpling, das klingt nach Helferlein, | |
dem Elektro-Homunculus des Daniel Düsentrieb. | |
Offenbar brauchen wir das Gefühl, dass es kleine Zauberwesen sind, die die | |
Probleme lösen, die wir selbst nicht in den Griff bekommen. Haushaltsfee | |
heißt eine App, die mit Push-Nachrichten an Putzaufgaben erinnern, Kobold | |
ein Saugroboter, der über den Wohnzimmerteppich rotiert, während man im | |
Büro sitzt. Theoretisch könnte ich einen selbstreinigenden Backofen haben | |
und eine Waschmaschine, mit der ich via Smartphone über den besten | |
Schleudergang verhandle. Praktisch müsste trotzdem jemand die | |
Zahnpastareste vom Waschbeckenrand wischen. | |
Deswegen habe ich jetzt ein Internet-Blind-Date mit einem lebendigen | |
Unbekannten. Ich stehe auf dem Balkon und warte auf ihn. Unten, auf dem | |
Trottoir Berlin-Neuköllns, nichts als Schmutz und eine komplette | |
Kunstleder-Sitzgarnitur in zerschlissenem Rot, die jemand einfach so | |
dorthin gewuchtet hat. Die ganze Stadt ein Wertstoffhof. | |
Der Helpling klingelt und als erstes fällt mir auf, dass ich eine Leiter | |
hätte besorgen müssen. Lucio ist höchstens 1,60 Meter groß und gerade mal | |
zwanzig Jahre alt. Kurzes schwarzes Haar, braune Augen. Er trägt | |
erfreulicherweise kein grünes T-Shirt wie die Damen und Herren von der | |
Helpling-Webseite sondern schwarze Klamotten und einen Perlenohrring, der, | |
wie sich später herausstellen soll, eher nicht gender-performativ gemeint | |
ist sondern an den Stil von Piraten gemahnt. | |
So wie er aussieht, hätte ich mir wohl schenken können, das Glas mit dem | |
Dope zu verstecken. Dennoch kommt die Scham noch einmal zurück. Einen | |
wildfremden Menschen zu sich nach Hause bitten, damit er einem den eigenen | |
Dreck wegmacht? Ist das nicht das Mindeste, was man für sich selbst tun | |
kann? Warum nicht gleich einen Nacktputzer bestellen? | |
Fünfzehn Euro die Stunde muss ich für Lucios Dienstleistung bezahlen. Davon | |
bekommt er nur zehn, die Firma fordert ihren Tribut. Gut nur, das sich | |
Lucio gar nicht für Geld interessiert. Vielleicht, weil Geld sein Leben | |
schon genug durcheinander gewirbelt hat. „Ich war sechs Jahre alt, als wir | |
Argentinien verlassen haben, um nach Italien zu gehen – dem Land meiner | |
Großeltern. Damals war Argentinien bankrott“, erklärt er mir, nachdem ich | |
ihn gefragt habe, woher er kommt. | |
Auf Englisch, denn Deutsch spricht er noch nicht. Auch einer der Gründe | |
warum er putzt. „Die Alternative wäre, in einem italienischen Restaurant zu | |
arbeiten. Und das ist die Hölle. Man verdient kaum etwas und wird ständig | |
angeschrien.“ Ich werde noch ein wenig leiser und zeige die Bioputzmittel, | |
die ich vorsorglich gekauft hatte, um ja niemanden zu gefährden –und die | |
Kerstin verschmähte. „Geeignete Putzmittel“ müsse man zur Verfügung | |
stellen, so heißt es auf der Helpling-Website. | |
Handschuhe hat Lucio zur Sicherheit selbst mitgebracht. „Am Anfang habe ich | |
ohne geputzt, aber das hat meine Haut nicht mitgemacht“, sagt er. Das | |
Wohnzimmer soll er putzen und die Fenster. Es ist eine Altbauwohnung und | |
die Decken sind über drei Meter hoch. Die Verwinkelungen und schiefen | |
Eckchen sind sehr offenherzig in Bezug auf Verunreinigungen alle Art. | |
„Für die Italiener bin ich Argentinier, für die Argentinier bin ich | |
Italiener. Wer ich bin, das kommt ganz darauf an, mit wem ich rede“, | |
erklärt Lucio und macht sich beherzt am weißen Ikea-Bücherregal zu | |
schaffen, das in den letzten Jahren einen unauffälligen Grauschimmer | |
bekommen hat. Ein dünner Film aus Nikotin, Staub, Abluft der | |
Gasetagenheizung und meiner selbst. Darf man als erwachsener Mensch in | |
einer Wohnung mit schmutzverkrusteten Flächen leben? Gehört man dann noch | |
zur Mittelschicht? Gut nur, dass ich Gäste immer nur nach Einbruch der | |
Dunkelheit eingeladen hatte. | |
„Ich habe nichts und ich will auch nichts. Wenn man Geld hat, dann weckt es | |
nur noch mehr Verlangen. Man will noch mehr konsumieren“, sagt Lucio und | |
strahlt dabei wie man nur strahlen kann, wenn man zwanzig ist und einem ja | |
ohnehin die ganze Welt gehört. Er wedelt den Staub von meinen mühsam | |
angehäuften Besitztümern. | |
Woher kommt eigentlich diese braune Duftkerze? Seit wann steht die dort und | |
warum? Sechs- bis achthundert Euro verdient Lucio im Monat und das reicht | |
ihm, um zu leben. Er hat ein kleines WG-Zimmer im beschaulichen Berliner | |
Stadtteil Wilmersdorf, weil es dort so schön ruhig ist. Ein Haus mit | |
Garten, davon träumt er. Drogen nimmt er auch keine. Er habe schon genug | |
junge Menschen gesehen, die von Berlin aus nach Norditalien zurückkehren | |
mussten, weil sie sich den Verstand mit chemischen Drogen weggeätzt hätten. | |
Substanzen reinpfeifen, mit denen andere ihre Autos sauber machen. GHB ist | |
ja quasi verdünnter Felgenreiniger. | |
Eine eigene Wohnung, die hätte er gerne als nächstes, aber das ist schon | |
fast Utopie im heutigen Berlin. „Ich habe alles. Schufa-Bescheinigung. Eine | |
Bürgschaft meines Vaters – aber ich bin Ausländer und habe nur diesen | |
Putzjob. Keiner will mich“, sagt er und es klingt unbekümmert. Er mag es | |
ruhig und grün, nicht so, wie in Rom, wo er auf keinen Fall sein möchte. | |
„Es ist ein Chaos, und überall ist Lärm. Autos verstopfen alles. Alles ist | |
irgendwie verlottert. Schmutzig. In Berlin ist das anders.“ Die rote Couch | |
unten auf der Straße muss er für eine offizielle Sitzmöglichkeit der | |
Stadtverwaltung gehalten haben. Und was denkt er eigentlich über mich in | |
Anbetracht meines Bücherregals? Wer hat heutzutage noch Bücherregale? Und | |
wen er sie schon hat: Warum macht er sie nicht sauber? Verstaubte Leichen, | |
die nicht mal alphabetisch geordnet sind. | |
Lucio ist Musiker, er spielt Trompete und Gitarre. Zusammen mit seinem | |
Bruder ist er vor einem Jahr nach Berlin gekommen. „Es war ein Zufall, wir | |
sind einfach so losgefahren. Mit dem Rucksack durch Europa – in | |
Südfrankreich haben wir bei der Weinernte geholfen. Dann sind wir in | |
Straßburg in einen deutschen Zug gestiegen – und die Schaffner haben uns | |
nicht rausgeschmissen, obwohl wir kein Ticket hatten. Sie haben gelacht, | |
weil mein Bruder aussah wie Johnny Depp in Fluch der Karibik. Und sie | |
mochten unsere Musik.“ Was für Zeiten waren das, in denen man sogar Piraten | |
freundlich deutsche Grenzen passieren ließ. | |
Lucio hatte in Italien begonnen, das Programmieren zu lernen, will | |
vielleicht mal Anthropologie zu studieren, „man muss seinen Blickwinkel | |
ändern, auch mal versuchen, eine Außenperspektive zu erlangen“, erklärt er, | |
während er die Fenster von innen mit Glasreiniger und Papiertüchern | |
bearbeitet. Derzeit, so erzählt er, lernt er tibetanische Mönchsgesänge. | |
Tibetanische was? | |
Er demonstriert, was er gelernt hat. Noch nie hörte ich den Klang des | |
Weltalls in meinem Wohnzimmer, erzeugt von der Körpermitte eines jungen | |
Mannes mit Frosch-Glasreiniger in der rechten Hand. | |
Putzen hat er sich mit YouTube-Videos beigebracht | |
Früher, sagt Lucio, habe er beim Putzen immer Musik gehört, mit Kopfhörern. | |
Aber das macht er schon lange nicht mehr. „Wenn man eine Weile putzt, dann | |
kommen die Gedanken herauf wie Holzstücke von der Tiefe des Sees.“ | |
Vielleicht, so denke ich, hat Lucio Heimweh. Vielleicht ist er ein | |
furchtbar trauriger junger Mann. Doch schon erzählt er, dass er gerade | |
wieder zurück ist aus Italien, Familienbesuch, „kein Problem mit Easy Jet“, | |
erzählt er, „das kostet nicht viel bis Mailand.“ | |
Ich weiß nicht, wie ich mein schlechtes Gewissen bei ihm an den Mann | |
bringen kann. Er lächelt noch einmal und zeigt verfärbungsfreie weiße | |
Zähne. Dann beugt er sich wieder über in der Spalte zwischen den | |
Doppelkastenfenstern, die aussieht, als hätte dort eine Urnenbeisetzung | |
stattgefunden. | |
Noch nie hörte ich den Klang des Weltalls in meinem Wohnzimmer, erzeugt von | |
der Körpermitte eines jungen Mannes mit Frosch-Glasreiniger in der rechten | |
Hand | |
Als das Wohnzimmer schließlich glänzt wie ein Kleinbürger sich das Schloss | |
Charlottenburg vorstellt, fragt Lucio, ob er nicht doch noch das Badezimmer | |
sauber machen soll. Er hat gesehen, wie es dort aussieht, nachdem ich es | |
gründlich gereinigt habe. Aber nein, das möchte ich wirklich nicht. Mein | |
Bad mache ich selbst sauber! Dafür steckt in mir eine zu hohe Dosis | |
protestantischer Körperfeindlichkeit, die kein Coming-out der Welt | |
beseitigen konnte. Hautschuppen. Ausscheidungen – das geht niemanden etwas | |
an. Außerdem ist die Zeit, die ich online gebucht hatte, nun abgelaufen. | |
Warum hat mir eigentlich nie jemand beigebracht, wie man richtig putzt? Als | |
kleiner Junge mochte ich es, wenn meine Mutter sauber machte. Es war eine | |
Art von regelmäßig wiederkehrendem Ausnahmezustand. Alle Möbel und | |
Einrichtungsgegenstände waren verrückt und es roch scharf und stechend nach | |
einer chemischen Substanz. Ammoniak? Flüssiges Plutonium? Man stellte sich | |
damals nicht so an. Später dann, in der Ablösungsphase entschied ich mich | |
für ein punkiges Reinlichkeitskonzept, von dem ich leider nie richtig | |
losgekommen bin. Putzverweigerung als eine Art Dauer-Demo, die sich am Ende | |
gegen mich selbst richtete. | |
Lucios Vater zeigte ihm, wie man den Hof kehrt – den Schmutz immer in | |
Richtung Ausgang. Den Rest hat er sich mit Hilfe von YouTube-Videos | |
beigebracht. Logisch. | |
Als ich ihm am Schluss eine Limonade anbieten möchte, klärt er mich noch | |
freundlich darüber auf, wie schädlich Zucker ist und dass ich mich, was das | |
Reinigen angeht, auch auf das Innere meines Körpers konzentrieren sollte: | |
„Lies mal was über die Fünf-Elemente-Küche!“ | |
Als er schließlich geht, habe ich einen Vorgeschmack darauf bekommen wie es | |
sich anfühlen könnte, wenn man später einmal auf Pflegekräfte angewiesen | |
sein sollte. Ist es schon so weit? Sollte ich schon so zermürbt von | |
Besitztümern und vom Zucker sein, dass ich nicht mehr in der Lage bin, | |
meine eigenen vier Wände in den Griff zu bekommen, während Lucio weder | |
Kapitalismus noch Spiritualismus schrecken? | |
„Weißt du“, hat er vorhin gesagt, „das mit dem Putzen ist einfach so: Man | |
hat eigentlich keine Chance. Das ist ja etwas, wo man immer wieder von | |
vorne anfangen muss. Und man soll sich gar nicht erst einbilden, dass man | |
das perfekt hinbekommt. Man kann nur in kleinen Schritten Verbesserungen | |
erlangen.“ | |
Leisen Schrittes gehe ich durch meine blitzblanke Wohnung. Ich streiche | |
zärtlich über das saubere Bücherregal. Wie schön es jetzt hier ist. | |
Dann nehme ich die Duftkerze und schmeiße sie in den Müll. | |
6 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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Kolumne PMS-Ultras | |
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