# taz.de -- Marokkanische Prostituierte im Gespräch: „Mülldeponien werden z… | |
> Marokko bekommt eine Verfassung, in der auch die Gleichberechtigung von | |
> Mann und Frau festgeschrieben wird. Gespräch mit den Prostituierten Aicha | |
> und Suleika. | |
Dieses Interview erschien am 16. Juli 2011 | |
Es ist der Vorabend einer wichtigen Entscheidung, zwei Wochen ist es her: | |
Die Bevölkerung soll über die neue Verfassung abstimmen. Der König von | |
Marokko, Mohammed VI., hofft, so einem Übergreifen der prodemokratischen | |
Protestwelle in der arabischen Welt vorzubeugen. Die Stadt im Norden ist | |
voller „Jubel-Marokkaner“, gekaufter Claqueure. Das Gespräch findet gegen | |
Mitternacht in einem Apartment an der Küstenstraße von Tanger statt, das | |
häufig für Orgien genutzt wird. Zu trinken gibt es Whiskey auf Eis. | |
Geraucht wird Kette. | |
taz: Wir müssen Ihnen erst mal gestehen, dass wir in Marokko der Familie | |
von Khalid El Kaoutit zuliebe ein Doppelleben führen. Jana Petersen tritt | |
als Ehefrau von Martin Reichert auf, obwohl er in Deutschland mit einem | |
Mann verheiratet ist. | |
Aicha: Super. Sie lügen genau so wie wir! | |
Ihre Familien wissen nicht, dass Sie als Prostituierte arbeiten? | |
Aicha: Ich lebe alleine hier, meine Familie ist in Tetouan, fünfzig | |
Kilometer von Tanger entfernt. Ich sage, dass ich in einem Geschäft | |
arbeite. Meine Eltern glauben mir, sie könnten sich auch gar nicht | |
vorstellen, dass ich so was mache – das ist undenkbar. Eine Tante hat mich | |
einmal besucht, da bin ich dann jeden Tag mit Kopftuch rausgegangen und | |
habe meine Tage in Cafés verbracht. | |
Was würde passieren, wenn Ihre Familie herausbekommen würde, dass Sie sich | |
prostituieren? | |
Aicha: Das ist unwahrscheinlich. Wenn, dann liefe das über Gerüchte. Und | |
die gab es auch schon mal. Eine andere Tante aber weiß allerdings Bescheid, | |
sie deckt mich. Aber ich würde jetzt langsam gerne heiraten und meine Ruhe | |
haben. Das ist ja ein risikoreicher Job. Alles ist in den Händen von Allah, | |
aber ich könnte getötet werden, vergewaltigt werden. | |
Ist Ihnen schon einmal etwas zugestoßen? | |
Suleika: Einmal waren wir mit ein paar Jungs unterwegs, die hatten auch | |
schon bezahlt. Und dann in der Wohnung war auf einmal das Koks alle, die | |
Typen sind noch mal weg, um welches zu holen. Als sie dann zurückkamen, | |
haben sie uns mit Messern bedroht, wollten das Geld zurück. | |
Wir haben gehört, dass Prostituierte in Marokko schlecht behandelt werden. | |
Suleika: Wir sind Waren, sie kaufen uns. | |
Frauen haben in Marokko, scheint es, nicht viel zu melden. Es gibt hier | |
noch Patriarchen, wie sie im Buche stehen. Was ist der Unterschied zwischen | |
einer Hure und einer Frau? | |
Aicha: Im Grunde genommen gibt es da keinen großen Unterschied. Insofern | |
ist es für mich besser, außerhalb einer Familie und nicht mit einem solchen | |
Mann zu leben. Es ist fast unmöglich, einen ordentlichen Job zu finden. | |
Richtig ist: Viele Männer behandeln ihre Frauen hier wie Kühe. Sie geben | |
ihnen zu essen und dafür müssen sie alles machen, was man ihnen sagt. | |
Mögen marokkanische Männer eigentlich Frauen? | |
Suleika: Die meisten Männer wollen nur kurz ihre Bedürfnisse befriedigen. | |
Für rund fünf Euro kann man sich am Strand von Tanger auch einen Mann | |
kaufen. Kann es sein, dass es in Marokko mehr männliche Prostituierte als | |
weibliche gibt? | |
Suleika: Früher war das nicht so, aber da kann was dran sein. Früher waren | |
die unsichtbar, aber jetzt zeigen sie sich eher. Der König hat ja per | |
Dekret bestimmt, dass man Schwulen nichts antun darf. Sie zeigen sich jetzt | |
eher, ziehen enge Sachen an. | |
Die meisten Männer, die sich hier verkaufen, würden sich niemals | |
penetrieren lassen. Sie sehen sich auch nicht als Schwule. | |
Suleika: Es gibt welche, die mahlen und solche, die gemahlen werden. Mein | |
Bekannter macht beides. | |
Und derjenige, der mahlt, verliert seine Ehre nicht. | |
Suleika: Das ist richtig. Die Frau aber verliert ihre Ehre, sobald sie | |
keine Jungfrau mehr ist und nicht geheiratet wird. Egal, ob sie anschaffen | |
geht oder nicht. | |
Ist das nicht ganz schön ungerecht? | |
Aicha: Ja, ist so. Die Frauen sind insgesamt weniger wert, erst recht, wenn | |
sie auf die Straße gehen. Es gibt auch Jungfrauen, die auf den Strich | |
gehen, die machen es dann nur anal. | |
Auf die Straße gehen – bedeutet das ein Stück weit Freiheit? Zumindest von | |
der Moral? | |
Suleika: Du bist frei und kannst machen, was du willst. Solange es niemand | |
sieht. Aber innerlich bist du nicht frei, sondern beschädigt. | |
Aicha: Du verkaufst dein eigenes Fleisch. So ist das. Aber manchmal werden | |
Mülldeponien auch zur Moschee: Eine Freundin von mir wurde vor zwei oder | |
drei Jahren von einem Freier geehelicht, sie hat jetzt Kinder und trägt | |
Kopftuch. | |
Mülldeponie, das klingt so hart. | |
Suleika: Ich bin jetzt 32, fast 33. Ich war verheiratet und habe mich | |
scheiden lassen, der Mann war nicht gut. Er war untreu, hat gelogen, war | |
mit Huren zusammen. Jetzt bin ich selbst eine. | |
Wenn wir das Land richtig verstanden haben, darf hier niemand machen, was | |
er will. Sexuell schon gar nicht. Sind Huren ein Ausweg? | |
Suleika: Kein Sex vor der Ehe? Da kann ich doch nur lachen. Daran halten | |
sich vielleicht noch fünf Prozent der Bevölkerung. | |
Noch? Hat sich die Gesellschaft so sehr verändert? Dank Internet, Facebook? | |
Aicha: Ich bin nicht bei Facebook, ich mag diesen Kram nicht. Ich habe mal | |
einen PC bekommen, aber den habe ich wieder verkauft. | |
Und was halten Sie von der neuen marokkanischen Verfassung? | |
Suleika: Wir gucken keine Nachrichten, wir leben nachts. | |
Vom Balkon der Wohnung aus sieht man, wie die Bürger von Tanger | |
scharenweise an der Strandpromenade entlang spazieren gehen. Autos hupen, | |
ein warmer Wind weht noch immer, mitten in der Nacht. Die | |
McDonald’s-Filiale gegenüber ist gut besucht. Alles scheint leicht, voller | |
Lebenslust. Wie im Frühling. Hat sich Marokko verändert? | |
Aicha: Es gibt mehr Bildung, die Menschen werden offener – gerade hier im | |
Norden. | |
Gilt das auch für Ihre Freier? | |
Suleika: Nein, früher waren die Kunden besser. Es gab auch insgesamt | |
weniger Huren. Heute kann man kaum noch zwischen Huren und normalen Frauen | |
unterscheiden. | |
Inwiefern? | |
Suleika: Es bieten viele Frauen auch tagsüber Sex an, sie brauchen Geld. | |
Die tragen Kopftuch und niemand weiß von nichts. Die ziehen sich dann im | |
Taxi oder im Club um. Vielen Männern gefallen solche Frauen mit Kopftuch | |
auch besser. Die denken dann, die ist naiver, leichte Beute. | |
Also kein Frühlingserwachen, keine neuen Männer in Marokko? | |
Aicha: Früher waren unsere Kunden Dealer oder ältere erfolgreiche Männer. | |
Die haben einfach bezahlt und gut. Jetzt sind es viele soziale Aufsteiger. | |
Die sind aggressiv, wollen ihr Geld zurück, wollen verhandeln. Schlimm. | |
Sie brauchen das Geld, aber warum brauchen diese jungen Männer Huren? | |
Suleika: Sie wollen erst mal ihre Sexualität ausprobieren. Andere wollen | |
die Frauen erst mal konkret sexuell ausprobieren, bevor sie sie vielleicht | |
heiraten. Sie wollen nicht die Katze im Sack kaufen. Aber alle Mädchen, die | |
sich auf einen Mann einlassen sind in Gefahr. Die Mädchen, die nicht | |
ausgetrickst werden, das sind dann solche, die von ihren Müttern an einen | |
Mann vermittelt werden. Aber wenn ein Mann von sich aus mit einem Mädchen | |
ausgeht, dann ist sie für den Mann eine Hure. Auch wenn er sie selbst | |
entjungfert hat. | |
Aicha: Die meisten Marokkaner, die ich kenne, lügen. Sie sind verheiratet | |
und gehen trotzdem mit Nutten. | |
Das ist in Deutschland auch so. | |
Aicha: In Marokko ist das einfach noch viel krasser und verlogener, härter | |
als in Europa, glaube ich. In Marokko haben die Frauen seit Anfang 2000 | |
mehr Rechte bekommen, und seitdem ist es noch krasser geworden. Die Männer | |
gehen noch viel häufiger zu Huren. | |
Suleika: Die Männer arbeiten und versorgen die Frauen, ansonsten machen sie | |
einfach, was sie wollen. Wenn die Frauen nachfragen, sagen sie: Wenn es dir | |
nicht gefällt, kannst du gehen, nach Hause, zu deiner Familie. Viele | |
behandeln die Huren sogar besser als ihre Ehefrauen. | |
Liegt das wirklich an Marokko? | |
Suleika: Ich war in Saudi-Arabien, in Bahrein. Die Männer dort sind sehr | |
gut, sie respektieren die Frauen. Du fühlst dich dort wie eine Frau im | |
Sinne der Frauenrechte. | |
Wirklich? | |
Suleika: Man wird respektiert. Ich war Tänzerin in einem Hotel. Manche | |
haben für eine Nacht, 20.000, 30.000 Dirham bezahlt. Die Saudis sind gute | |
Kunden. Sie zahlen gut. | |
Weil sie mehr Geld haben. | |
Suleika: Ja, aber sie behandeln einen auch besser. Die Männer aus den | |
Golf-Staaten lieben die marokkanischen Frauen. | |
Aicha: In Saudi-Arabien wurden die Frauen genital beschnitten. Deshalb | |
können sie sich nicht gut um ihre Männer kümmern. Sie haben keine sexuellen | |
Gefühle mehr. Deshalb kommen die Männer hierher oder lassen welche | |
einfliegen. Aber heute wird das nicht mehr so viel gemacht mit der | |
Beschneidung. Die männlichen Saudis sind nicht so schön, die Frauen schon. | |
Aber die Saudis sind sehr zärtlich. Sie haben Stil. Die Marokkaner sagen | |
dann zu den Frauen, die sich mit Saudis abgeben: Das ist eine Saudi-Nutte, | |
die rangiert dann gleich noch mal drei Stufen tiefer. | |
Suleika: Sobald ein marokkanischer Mann merkt, dass eine Frau sich in ihn | |
verliebt hat, dann ist alles vorbei. Dann bist du sein Besitz und er | |
behandelt dich schlecht. Sie fangen an, dich zu kontrollieren. Du hast im | |
Prinzip verloren, sobald du dich verliebt hast. | |
In Syrien sagt man umgekehrt: „Jungs sind wie Briefmarken, sobald du auf | |
sie spuckst, kleben sie.“ | |
Aicha: Wenn du ihm vertraust und ehrlich bist, hast du verloren. Wenn du | |
auch trickst, bist du auf der sicheren Seite. Wenn du ihn als Stütze | |
betrachtest, dann fällt er um. | |
Die Rolle des Mannes ist die des alleinverantwortlichen Versorgers. Wer | |
will das schon. | |
Aicha: Ich war schwanger, wollte abtreiben, weil er kein Geld hatte, | |
arbeitslos war. Aber er wollte „seinen Sohn“ haben. Als ich dann im fünften | |
Monat war, ist er einfach abgehauen. | |
Sie haben ein Kind. Und Ihre Familie weiß nichts davon? | |
Aicha: Doch. Die Tante, die mich schützt, hat sich eine Lüge ausgedacht: | |
Mein Mann säße im Gefängnis. | |
Alle müssen lügen. Die Männer auch. Niemand ist glücklich. | |
Aicha: Die Männer betrügen sich selbst. Es ist für sie auch eine Form des | |
Zeitvertreibs. | |
Sie langweilen sich? | |
Suleika: Mehr als das. Alle nehmen Drogen, hängen rum. Und wenn sie | |
erreichen, was sie wollen, dann haben sie sogar noch mehr Langeweile. | |
Langeweile? Vielleicht fühlen sie sich gefangen in ihrer Rolle als Mann? | |
Suleika: Ich bin mit richtigen Männern ausgegangen, keine Schwulen – von | |
denen kenne ich ja viele –, aber es gibt Freier, die kommen und haben eine | |
Gurke dabei, mit der sie penetriert werden möchten. Andere wollen mit einem | |
Umschnalldildo gevögelt werden. Sie ziehen Damenwäsche an und wollen als | |
Nutte von mir beschimpft werden. Aber sie wollen nicht mit Männern | |
schlafen, sondern mit Frauen. | |
Warum nicht gleich mit einem Mann? | |
Aicha: Schwul sein geht nicht, ist unmöglich. | |
Suleika: Einer wollte immer geschlagen werden. Das hat richtig Spaß | |
gemacht. Er war so ein Hübscher. | |
Gestern, in dem Club, in dem wir uns kennengelernt haben, hing über der | |
Bühne ein Porträt des Königs und die Männer der Band sangen „Allahu Akbar… | |
Allah ist groß. | |
Suleika: Allah! Ich finde das nicht in Ordnung. Wenn man Alkohol getrunken | |
hat, soll man Allah in Ruhe lassen. Aber sie haben das gestern gesungen | |
wegen des Referendums zur Verfassung. | |
Aicha: Das entwertet den König, Allah und Marokko. | |
Allah muss insgesamt sehr viele graue Haare haben. | |
Suleika: Viele Freier tragen Bärte und sind gläubig. Am verrücktesten sind | |
aber die Geistlichen. Sie belehren dich erst mal eine halbe Stunde über | |
Fragen des Glaubens, dann schimpfen und beleidigen sie dich im Namen der | |
Religion. Und dann vögeln sie dich erst. | |
Aicha: Sie beleidigen dich ununterbrochen. | |
Das meinen Sie mit Müllkippe. | |
Suleika: Du bist alleine, du musst dich selbst erhalten. Eine Hand kann | |
nicht klatschen. Du bist entjungfert und hast keine Ehre mehr. Das ist die | |
Müllkippe. | |
Haben Sie einen Traummann? | |
Aicha: Ich haben keinen Traummann. | |
Suleika: Ich wurde so oft enttäuscht, dass ich die Hoffnung verloren habe. | |
Wie werden Sie ihren Sohn erziehen? | |
Suleika: Mein Sohn ist schon fünfzehn. Er lebt bei meiner Mutter, wir | |
verstehen uns nicht gut. Er ist nicht stolz auf seine Mutter. Meine Tochter | |
ist auch bei meiner Mutter – ich rauche und trinke. Ich bin keine gute | |
Mutter, kein gutes Vorbild für meine Tochter. | |
Am Ende des Gesprächs ist die Flasche leer. Alle tanzen im Wohnzimmer zu | |
orientalischer Musik. Das Leben soll weitergehen, die Nacht ist noch jung. | |
Und die Frauen haben noch Termine. | |
16 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
Jana Petersen | |
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Feminismus | |
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