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# taz.de -- Erneute Parlamentswahl in Griechenland: Neue Wahl, neues Glück –…
> Manche Griechen freuen sich auf eine erneute Regierung Mitsotakis, andere
> fürchten sich. Viele sind sich sicher: Die Konservativen werden gewinnen.
Bild: Chrysoula, Haris Stavratis, Eleni und Maria verteilen ND-Programm-Brosch�…
Kifissia/Holargos/Nikäa taz | Die altehrwürdige Elektrobahn drosselt ihr
Tempo, die Endstation ist erreicht. Haris Stavratis, 59, steigt aus. Es
sind die ersten heißen Tage in diesem Jahr, doch in Kifissia, dem grünen
Nobelort mit seinen weitläufigen Parkanlagen und mondänen Domizilen mit
ihren gepflegten Gärten ganz im Norden der Vier-Millionen-Metropole Athen,
weht eine herrlich erfrischende Brise. „Die anderen warten schon“, sagt
Stavratis gut gelaunt.
Die anderen – das sind Chrysoula, Eleni und Maria. Kurze Begrüßung, man
kennt sich. Jeder nimmt sich von einem Stapel Broschüren etwa zwanzig Stück
herunter und beginnt sie vor der Bahnstation an Passanten zu verteilen. Das
Verteilen geht schnell – Haris Stavratis hat ein gutes Auge, wie er sagt.
„Ich erkenne das Hauspersonal, das in den Villen hier arbeitet. Sie haben
Feierabend und nehmen die Bahn ins Zentrum. Die spreche ich gar nicht an.
Das sind alles Ausländer. Die wählen nicht. Ich frage die anderen, ob sie
eine Broschüre wollen.“
Viele wollen. Das reiche Kifissia ist eine Hochburg der konservativen
Partei Nea Dimokratia (ND). Bei der Parlamentswahl im Mai holte sie dort 62
Prozent der Stimmen, die radikallinke Partei Syriza kam auf mickrige 12
Prozent.
Stavratis und seine Begleiterinnen sind ND-Mitglieder. Sie haben sich
freiwillig gemeldet, um im Endspurt vor den Parlamentswahlen am Sonntag das
gedruckte ND-Programm an den Mann und die Frau zu bringen. Von der ND und
vor allem Parteichef Kyriakos Mitsotakis schwärmt er und gibt sich
kämpferisch: „Wir holen diesmal ganz sicher die Mehrheit der Mandate.“
## Manche loben Mitsotakis für die restriktive Migrationspolitik
Die Wahl am kommenden Sonntag ist bereits die zweite innerhalb weniger
Wochen. Zuletzt wählten die Griechen und Griechinnen Ende Mai. [1][Die ND
gewann zwar,] verfehlte aber knapp die absolute Mehrheit der Mandate in der
300-köpfigen Boule der Hellenen.
Keine der fünf Parlamentsparteien – von der nationalkonservativen
Griechischen Lösung ganz rechts über die ND, die sozialdemokratische Pasok,
ferner Syriza bis hin zur Kommunistischen Partei ganz links – wollte
miteinander koalieren. Die knapp zehn Millionen wahlberechtigten Griechen
dürfen also abermals an die Urnen, die – bildlich gesprochen – nun wieder
ganz neu gefüllt werden müssen.
Was eine neuerliche Regierung Mitsotakis in den nächsten vier Jahren tun
soll? Stavratis und seine Begleiterinnen sind sich einig: „die Wirtschaft
weiter stärken, die Digitalisierung der Staatsverwaltung vollenden, die
[2][restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik fortsetzen]“.
Stavratis und seine drei Kolleginnen arbeiten allesamt in öffentlichen
Krankenhäusern. Stavratis ist seit 35 Jahren in der Verwaltung einer
Krebsklinik in Kifissia tätig, die Frauen sind Krankenpflegerinnen, alle
sind Beamte des griechischen Staates. An der Syriza lässt Stavratis kein
gutes Haar. „Das ist eine Chaos-Truppe“, sagt er in einem fast überheblich
klingenden Ton. Die anderen nicken.
## „Ganz Griechenland wird blau sein“, jubelt Mitsotakis
Nicht nur in Athen stehen die Zeichen auf einen Sieg Mitsotakis’: 500
Kilometer weiter nördlich ist die neu gebaute Uferpromenade der
Hafenmetropole Thessaloniki in ein blaues Fahnenmeer getaucht – die
Parteifarbe der ND.
Der ehemalige – und vielleicht bald wieder neue – Premier Mitsotakis trägt
ein blütenweißes Hemd und keine Krawatte. Er steht vor dem Denkmal des
makedonischen Welteroberers Alexander des Großen und bläut durch ein
Mikrofon mit erhobenem Zeigefinger seinen Anhängern und Anhängerinnen immer
und immer wieder ein: In Athen will er weiter alleine regieren. „Am Sonntag
wählen die Griechen ihre Regierung, am Montag krempeln wir die Ärmel hoch“,
ruft Mitsotakis, voll Zuversicht. „Ganz Griechenland wird blau sein“, ruft
er. Die Menge jubelt.
Die Chancen dafür stehen gut. Die ND-Parteistrategen streben etwa 160
Mandate an. Das wäre eine „stabile Mehrheit“, um bis 2027 „noch viele Di…
zu tun“, wie Mitsotakis betont. Die Betonung liegt auf „stabile“, nicht
„überwältigende“. Die Wähler sollen bloß nicht verschreckt werden.
Ein Grund für Mitsotakis’ schier grenzenlosen Elan: Am Sonntag erhält die
erstplatzierte Partei – ob eines jüngst veränderten Wahlrechts – bis zu 50
Bonusmandate.
## Syriza warnt vor Allmacht der Nea Dimokratia
Einer Umfrage des Forschungsinstituts MRB zufolge könnte die ND ihren
Stimmenanteil im Vergleich zum Mai um 2 Prozentpunkte auf 43,5 Prozent
ausbauen. Syriza, unter Ex-Premier Alexis Tsipras, würde laut Umfrage bei
20 Prozent verharren.
[3][Die arg geschrumpfte Syriza] regierte von Anfang 2015 bis Juli 2019 in
Athen – und warnt nun von einer Allmacht der ND. Nur eine wiedererstarkte
Syriza könne Mitsotakis wirklich bremsen, so der Tenor. Die Schere von 20
Prozent zur ND müsse sich, so weit es geht, schließen. Das sei, so
Parteioberhaupt Tsipras, „eine Sache der Demokratie“. Sonst bewege sich
Griechenland innerhalb der Europäischen Union auf Länder wie Ungarn und
Polen zu, in denen jeweils eine Partei im Land durchregierte, fürchtet
Tsipras.
Eine Wiederwahl von Mitsotakis schürt in Teilen der hiesigen Politik und
Gesellschaft wachsende Ängste. Diese sind begründet: In Griechenland blühen
Klientelismus, Vetternwirtschaft und Korruption, ein gewaltiger
Abhörskandal erschütterte unter Mitsotakis das Land – und trug dazu bei,
dass Griechenland um 42 Plätze auf Rang 107 der globalen Rangliste der
Pressefreiheit abstürzte, nun das abgeschlagene Schlusslicht der EU.
Dazu kommen eine schwarze Coronabilanz mit 37.000 Toten und wiederholten
Lockdown-Brüchen von Mitsotakis, die massive Inflation, sinkende Reallöhne,
verheerende Waldbrände, eine [4][Zugtragödie mit 57 Toten] oder die jüngste
Havarie eines [5][Flüchtlingbootes mit wohl über 600 Ertrunkenen] – doch
der Popularität von Mitsotakis und seiner ND scheint das nicht geschadet zu
haben.
## Die bisher Unentschlossenen entscheiden die Wahl
Der sich abzeichnenden Dominanz der ND sieht nicht nur der bei der Wahl im
Mai tief gedemütigte Tsipras mit Sorge entgegen. Der Autor und Analyst
Georgios Romanos stochert in einem Lokal im gutbürgerlichen Athener Vorort
Holargos eher lustlos in einem griechischen Bauernsalat herum.
Für die kommende Wahl hat er eine Vision: Romanos spricht sich unverhohlen
für „einen legalen Umsturz“ aus. „Es müssten sechs, sieben, acht oder n…
Parteien im neuen Parlament sitzen. Je mehr, desto besser ist das für die
Demokratie“, erklärt er. Zuletzt saßen im Parlament fünf Parteien. Der
drohenden Allmacht einer ND-Einparteienregierung schöbe das einen Riegel
vor, so Romanos’ Lesart. “Es ist gefährlich, wenn Mitsotakis tun kann, was
er will.“
Romanos’ Wunsch ist keine Utopie. Laut Umfragen könnten am Sonntag
zusätzlich vier Parteien den Sprung über die in Griechenland für den Einzug
ins Parlament geltende Dreiprozenthürde schaffen: die ultrarechte
Neugründung Spartaner, die ultrareligiöse Niki (der Sieg), die
linksnationale Pflefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit) sowie die linke,
transnationale Mera25 unter [6][Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis].
Entscheiden werden dies bei einer erwarteten Wahlbeteiligung von erneut nur
etwa 60 Prozent der Bevölkerung maßgeblich die vielen Unentschlossenen, so
Experten. Geben sie letztlich dem haushohen Favoriten ND ihre Stimme oder
womöglich einer kleineren Partei?
## „Griechenland verfällt. Schon seit Jahren“
Was sie diesmal wählen wird, weiß auch Alexandra Motsiou, 29, noch nicht.
Kräuter, Nüsse, Marmelade, Säfte, Bohnen, Kosmetik – die quirlige Griechin
packt gerade eine neue Lieferung aus. Vom vornehmen Kifissia weit entfernt
am anderen Ende des Molochs Athen betreibt sie im dichtbesiedelten
Arbeitervorort Nikäa seit bald drei Jahren einen Bioladen. Schon mal zwölf
Stunden und mehr am Tag müssten sie und ihr Mann schuften, um mit ihrem
kleinen Sohn über die Runden zu kommen, klagt sie.
„Politisch stehe ich links“, sagt sie. Nach der letzten Wahl habe sie sich
jedoch gefragt: „Hey, was macht das für einen Sinn, was ich wähle?“ Mit
ihrer Situation im heutigen Hellas sei sie gar nicht zufrieden, so wie das
Gros ihrer Kunden, erzählt sie. „Griechenland verfällt. Schon seit zehn,
fünfzehn Jahren. Die regierenden Politiker tun alles, um uns aus unserem
Land zu vertreiben.“ Als sie noch ein Kind war, sei das Leben noch viel
besser gewesen, ist sie sich sicher.
Zweifel daran, dass Mitsotakis am Sonntag der strahlende Wahlsieger sein
wird, hat sie nicht. Das gefalle ihr nicht, sagt sie. Vielen Griechen und
Griechinnen geht das anders.
24 Jun 2023
## LINKS
[1] /Parlamentswahl-in-Griechenland/!5935819
[2] /Flucht-und-Migration-nach-Europa/!5925482
[3] /Wahlniederlage-der-griechischen-Syriza/!5934965
[4] /Toedliches-Unglueck-in-Griechenland/!5919411
[5] /Nach-Bootsunglueck-vor-griechischer-Kueste/!5938713
[6] /Griechischer-Politiker-Varoufakis-zu-Wahlen/!5932517
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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