| # taz.de -- Krimi-Serie auf RTL +: Wie man es auch wendet | |
| > In „Zwei Seiten des Abgrunds“ trifft eine Mutter auf den Mörder ihrer | |
| > Tochter. Das hat Potential – leider aber strotzt die Serie nur so von | |
| > Klischees. | |
| Bild: Luise (Anne Ratte-Polle) spricht Dennis (Anton Dreger) in der Schwebebahn… | |
| Dass deutsche Serien auch im Ausland ihr Publikum finden, ist ein noch eher | |
| junges Phänomen. [1][„Dark“ wurde weltweit zum Hit,] „Deutschland 83“ … | |
| in den USA sogar deutlich besser an als bei uns, und sogar [2][die zweite | |
| Staffel von „Para] – Wir sind King“ ist schon beim US-Streamer HBO Max zu | |
| sehen. Dort läuft nun auch „Zwei Seiten des Abgrunds“ an, zeitgleich zum | |
| Start in Deutschland, der wiederum parallel auf RTL+ im Streaming und | |
| Warner TV-Serie im Pay-TV stattfindet. Eine Free-TV-Ausstrahlung bei Vox | |
| folgt in Kürze ebenfalls. Ziemlich viel Aufmerksamkeit also für eine Serie, | |
| die sich dann leider doch als reichlich enttäuschend entpuppt. | |
| Kern der sechs Episoden ist wie so oft, wenn es um Thrillerspannung geht, | |
| der Mord an einer jungen Frau. Rund sieben Jahre ist Teenager Merle | |
| (Josephine Thiesen) inzwischen tot, als ihre Mutter, die Polizeibeamtin | |
| Luise Berg (Anne Ratte-Polle), bei einem Routineeinsatz im Baumarkt | |
| zufällig den Täter wiedersieht. Dennis (Anton Dreger), damals ein schwer | |
| übergewichtiger, kaum sprechender junger Mann mit psychischen Problemen, | |
| wurde ohne ihr Wissen vorzeitig aus der Haft entlassen. | |
| Vom Ex-Ehemann über den Vorgesetzten bis zur Polizeipsychologin scheinen | |
| sich alle sicher zu sein, dass er als resozialisiert gilt und nicht nur | |
| äußerlich eine echte Wandlung durchgemacht hat. Dass Luise ihm dagegen | |
| finstere Rachepläne unterstellt, tun sie als panische Überreaktion ab; | |
| selbst zwei Morde geschehen, die sich ohne Weiteres mit ihm in Verbindung | |
| bringen lassen. Auf eigene Faust beginnt sie zu ermitteln, doch dass Dennis | |
| sich auch unerkannt in das Leben ihrer jüngeren, inzwischen ebenfalls | |
| 17-jährigen Tochter Josi (Lea van Acken) zu drängen beginnt, bleibt lange | |
| unbemerkt. | |
| Vielleicht auch, um einem internationalen Publikum etwas fürs Auge zu | |
| bieten, spielt „Zwei Seiten des Abgrunds“ in Wuppertal. Neben der immer | |
| wieder pittoresk durchs Bild gleitenden Schwebebahn setzt die von Kristin | |
| Derfler erdachte und von Anno Saul inszenierte Serie thematisch allerdings | |
| auf starken Tobak. Wer trägt die Verantwortung für die aus der Bahn | |
| geratenen Lebenswege? Wie unterschiedlich kommen Schuldgefühle zutage, die | |
| mit aller Macht unterdrückt werden sollen? Und wie dicht liegen Ursache und | |
| Wirkung beieinander, wenn es um Trauma geht? | |
| ## Schlecht erzählt | |
| So weit, so spannend, doch leider wird hier so ziemlich alles falsch | |
| gemacht, was man falsch machen kann. Was schon damit anfängt, dass man | |
| einen kleinen Ausblick aufs Finale gleich zu Beginn und dauernde, in der | |
| Farbgebung überdeutlich markierte Rückblenden für interessantes Erzählen | |
| hält. Dabei ist ebendiese Struktur längst zum narrativen Klischee | |
| verkommen, wie es in „Zwei Seiten des Abgrunds“ überhaupt nur so strotzt | |
| vor abgenutzten, plumpen Stereotypen: nicht zuletzt in der Darstellung von | |
| Gewalt gegen Frauen, Pädophilie oder – denn auch die kommen hier noch ins | |
| Spiel – brutalen Faschogangstern, die, nachdem sie sich in Russland schwer | |
| bewaffnet haben, auf den Endkampf vorbereiten wollen. | |
| Selbst in der Handlung, im Verhalten der Figuren und in den Dialogen ist es | |
| leider mit der Glaubwürdigkeit selten weit her. Die Schauspieler*innen | |
| stehen vor unlösbaren Aufgaben. Anne Ratte-Polle, zu deren Stärken sonst | |
| die Subtilität gehört, muss als gebrochene Polizistin, die zu Hause kaum | |
| mehr als ranzige Erdnüsse im Schrank hat und Nähe nur noch bei anonymen | |
| Sexdates zulassen kann, in einer Tour mit den Augen rollen und Trauer als | |
| Variante von Irrsinn ausdrücken. | |
| Noch schlimmer trifft es vor allem den theatererprobten Newcomer Anton | |
| Dreger: Während auf der Gegenwartsebene in erster Linie starre Blicke und | |
| ein gelegentlich diabolischer Tonfall angesagt sind, wird er in den | |
| Rückblenden nicht zuletzt mittels eines hochnotpeinlichen Fatsuits und | |
| einer fettigen Langhaarperücke zur mehr als fragwürdigen Karikatur eines | |
| verhaltensauffälligen Heimkinds mit psychologischen Problemen. | |
| Am besten schlägt sich in diesem Debakel noch Lea van Acken, wobei die | |
| 24-Jährige für die Rolle einer reichlich irrationalen Schülerin (die noch | |
| dazu seltsam häufig Taxi fährt) inzwischen denn doch erkennbar zu alt ist. | |
| Wie man es also auch dreht und wendet: Um weltweit die Qualitätsfahne | |
| deutscher Serienproduktionen hochzuhalten, ist „Zwei Seiten des Abgrunds“ | |
| denkbar schlecht geeignet. | |
| 7 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patrick Heidmann | |
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