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# taz.de -- Prozess um Waffenschein: Nur Schreckschüsse gegen Drohbriefe
> Der Bürgermeister der niedersächsischen Gemeinde Harsum fühlt sich und
> seine Familie akut bedroht – einen Waffenschein bekommt er trotzdem
> nicht.
Bild: Sieht sich und seine Familie bedroht: Marcel Litfin, der Bürgermeister d…
Hamburg taz | Marcel Litfin, der parteilose Bürgermeister der Gemeinde
Harsum (Landkreis Hildesheim) darf auch weiterhin keine scharfe Schusswaffe
tragen. Das hat das Verwaltungsgericht Hannover am Montag entschieden.
Litfin hatte beim Landkreis Hildesheim einen Waffenschein beantragt, weil
er sich durch persönliche Anfeindungen und tätliche Angriffe dreier
Personen an Leib und Leben bedroht fühlt. Der Landkreis lehnte den Antrag
ab, weil Litfin weder sachkundig noch persönlich besonders bedroht sei. Nun
klagte der Bürgermeister gegen diese Entscheidung vor dem
Verwaltungsgericht Hannover – und verlor.
„Der Kammer ist bewusst, dass es Angriffe auf Mandatsträger in Deutschland
gibt“, sagte das Gericht und folgte am Ende doch der Gefährdungsanalyse der
Polizei, die von keiner ernstzunehmenden Gefahr ausgeht. Litfin habe alle
nicht alle erforderlichen Gesichtspunkte einer Deeskalation ausreichend
berücksichtigt. Es gebe keine konkreten Ansätze für Angriffe, betonte die
Kammer.
[1][Hintergrund der Auseinandersetzung] ist vor allem der Umgang mit einem
vermutlich psychisch kranken Mann. Er hatte Litfin mit dem Tode bedroht: In
Briefen und Anrufen, berichtete der NDR, drohte er, dem Bürgermeister die
Zähne aus- und den Schädel einzuschlagen. Und es gibt Gründe, die Drohung
ernst zu nehmen: Dem Tatverdächtigen wird vorgeworfen, im Sommer
vergangenen Jahres zwei Gullydeckel von einer Brücke auf die A7 geworfen zu
haben – zwei Menschen wurden dabei schwer verletzt.
Der Mann saß zwar in Untersuchungshaft, ihm wurde versuchter Mord zur Last
gelegt. Mangels „dringendem Tatverdacht“ wurde er aber wieder auf freien
Fuß gesetzt, sagte die Staatsanwaltschaft Hildesheim. Sie klagte ihn dafür
jüngst [2][wegen einer per Mail versandten Bombendrohung] an. Den möglichen
Anschlag auf ein Justizzentrum, der einen „umfangreichen Einsatz“ nach sich
zog, werteten die Ankläger als Störung des öffentlichen Friedens. Auch
wirft die Staatsanwaltschaft dem Mann vor, einen Drohanruf auf dem
Anrufbeantworter des Betreuungsvereins in Hildesheim hinterlassen zu haben.
## Litfin verlässt abends das Haus nicht mehr
Bürgermeister Litfin sieht sein Leben und das seiner Familie schon länger
bedroht. Der 36-jährige Verwaltungsfachwirt, ein Harsumer „von klein auf“,
[3][wie er schreibt], verlasse abends das Haus nicht mehr, um seine Frau
und seine beiden Töchter nicht allein zu lassen, berichtete die
[4][Hannoversche Allgemeine Zeitung]. Öffentliche Termine nehme er abends
nicht mehr wahr, heißt es. Litfin sprach von einer „deutlichen
Einschränkung der Lebensqualität“. 2021 wurde er ohne Gegenkandidat:in
mit 87 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt; im Gemeinderat haben CDU und
Rot-Grün fast gleich viele Sitze.
Vor Gericht trug Litfin vor, das er noch von zwei weiteren Personen bedroht
wird. Einer habe ihn auf der Straße mit „Heil Hitler, Herr Bürgermeister!“
begrüßt. Dem Gericht zeigte er vier Aktenordner voller Briefe und
Drohschreiben. Zusätzlich präsentierte er Bilder von Äxten, die bei einer
Hausdurchsuchung bei einem Drohbriefschreiber gefunden wurden. „Gegen einen
Angriff mit solchen Waffen kann ich mich nur mit einer Schusswaffe wehren“,
sagte Litfin vor Gericht.
Litfin besitzt bereits einen kleinen Waffenschein, der ihm das verdeckte
Führen einer Schreckschusswaffe erlaubt. Diese hält er in der
Selbstverteidigung für unwirksam: „Ich könnte mich mit der auch selbst
außer Gefecht setzen“, so Litfin. Seine Rechtsanwältin Sarah Spiegelberg
betonte die abschreckende Wirkung, die eine Schusswaffe auf einen Angreifer
haben könnte.
Ein Vertreter des Landkreises sagte vor Gericht, es gebe keine konkreten
Anhaltspunkte dafür, dass die Drohungen in die Tat umgesetzt würden. Bisher
sei es zu keinem direkten körperlichen Angriff auf Litfin gekommen, zudem
habe es „Gefährderansprachen“ bei den Beschuldigten gegeben. Eine
Schusswaffe könne auch zu einer Eskalation beitragen. „In jeder größeren
Gemeinde gibt es gewalttätige Menschen und Herr Litfin ist nicht der
Einzige, der Drohbriefe bekommt“, sagte der Sprecher des Kreises.
## Personenschutz wird abgelehnt
Litfin hatte beim niedersächsischen Innenministerium bereits Personenschutz
eingefordert – auch ohne Erfolg. „Der Schutz von Amts- und
Mandatsträger:innen hat bei der Polizei einen hohen Stellenwert“, hieß
es bei der ermittelnden Polizei, und dass man mit dem Bürgermeister „in
engem persönlichen Kontakt“ stehe. Die Polizeiinspektion Hildesheim hat
nach eigenen Worten „umfassende Schutzmaßnahmen angeordnet“, wollte aber
keine Details nennen.
[5][Im Vorfeld des Prozesses] hatte die Polizeiinspektion dem Gericht
erklärt, Litfin sei nie Opfer einer Straftat geworden. Insgesamt sei nicht
erkennbar, dass der Bürgermeister im Vergleich zu anderen
Mitarbeiter:innen der Verwaltung einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sei.
Eine Vertreterin der Polizei beschrieb die Gefährdungslage vor Gericht als
„abstrakt“ und „nicht konkret“. Eine Gefährdung sei polizeilich objekt…
nicht festzustellen, einer der Aggressoren befände sich derzeit in Haft.
Für eine Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie ist die Polizei
nicht zuständig. Die muss das Betreuungsgericht auf Antrag des Landkreises
anordnen. Voraussetzung für so eine Freiheitsentziehung ist, dass von der
Person eine „erhebliche Gefahr“ für Dritte ausgeht. Der Landkreis sagt: Es
gab einen entsprechenden Antrag, im September 2022. Aber: „Die
Unterbringung wurde auf richterlichen Beschluss aufgehoben.“ Die
Pressestelle des zuständigen Gerichts konnte keine Nachfragen beantworten:
Betreuungsverfahren seien grundsätzlich nicht-öffentlich.
Der [6][Sozialpsychiatrische Dienst] des Landkreises [7][soll dem NDR
zufolge] den Tatverdächtigen bereits untersucht haben. Dabei sei aber keine
Fremdgefährdung festgestellt worden, heißt es, auch Hinweise auf
Eigengefährdung habe es laut eines Berichts der Deutschen Presseagentur
nicht gegeben. Nach Gerichtsangaben stand der Mann bis zum Sommer 2022
unter rechtlicher Betreuung. Diese wurde auf Antrag seines Betreuers aber
aufgehoben, weil der Mann jegliche Unterstützung abgewehrt hatte.
## Nur die aktuelle Situation im Blick
Konkrete Nachfragen beantwortet der Landkreis Hildesheim mit Hinweis auf
das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten nicht. „Der Sozialpsychiatrische
Dienst des Landkreises steht in Kontakt mit dem Betroffenen“, sagt die
Sprecherin nur. Laut dem [8][Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und
Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke] erfolge eine Beurteilung der
Bedrohungslage „immer in einer akuten Situation“. Dabei spiele es keine
Rolle, „was in der Vergangenheit vorgefallen ist oder was perspektivisch
geschehen könnte“. Und: „Eine verbale Drohung alleine ist noch keine
Begründung für eine Einweisung“.
Litfin bezeichnete die Entscheidung als „Farce“. Er sei tief enttäuscht,
sagte er nach dem Urteil. Das Gericht habe eine Täter-Opfer-Umkehr
vorgenommen. „Der Staat schützt seine Organe nicht angemessen.“
13 Feb 2023
## LINKS
[1] /Harsums-Buergermeister-wird-bedroht/!5890507
[2] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Sta…
[3] http://marcel-litfin.de/uebermich/
[4] https://www.haz.de/der-norden/todesdrohungen-harsums-buergermeister-verlang…
[5] https://www.verwaltungsgericht-hannover.niedersachsen.de/aktuelles/pressemi…
[6] https://www.landkreishildesheim.de/Sozialpsychiatrische-Gesundheit.php?obje…
[7] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Harsums-Buergermeister-beantra…
[8] https://www.psychiatrie.niedersachsen.de/download/155487/Nds._Gesetz_ueber_…
## AUTOREN
Jan Zier
David Speier
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