# taz.de -- Berliner Inklusionsbeauftragter: „Der Mangel wird noch wachsen“ | |
> Mit der Inklusion an den Schulen geht es schleppend voran. Trotzdem ist | |
> Mario Dobe, neuer Inklusions-Chefberater der Bildungssenatorin, | |
> optimistisch. | |
Bild: Auch für RollstuhlnutzrerInnen sind immer noch nicht alle Schulen barrie… | |
taz: Herr Dobe, das Land Berlin bekennt sich schon seit Längerem zur | |
inklusiven Schule. Warum haben wir dann, über 10 Jahre nach Verabschiedung | |
der UN-Behindertenrechtskonvention 2009, immer noch eigene Förderschulen | |
für Kinder mit Behinderung? | |
Mario Dobe: Weil die Politik sich dafür entschieden hat, einen fließenden | |
Übergang zu ermöglichen, bei dem den Eltern ein Wahlrecht gegeben wird: | |
Wollen sie ihr Kind inklusiv beschulen, also in eine Regelschule schicken, | |
oder lieber auf eine Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt? | |
Ist es ein fließender Übergang – oder treten wir vielmehr auf der Stelle? | |
Die Zahl der Schüler*innen an den Förderschulen geht kaum zurück. | |
Nein, wir treten nicht auf der Stelle. Wir haben eine deutliche Entwicklung | |
zu verzeichnen. Wir hatten vor 11 Jahren 49 Prozent der Kinder mit | |
sonderpädagogischem Förderbedarf in der Integration, also in der | |
Regelschule. Inzwischen sind es über 72 Prozent. Das haben andere | |
Bundesländer auch geschafft. Aber die Exklusionsquote ist in Berlin auch | |
insgesamt gesunken: Anteilig zur Gesamtschüler*innenzahl gehen | |
weniger Kinder auf Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt. | |
Dennoch: Der Rückgang bei der Exklusionsquote, von dem Sie sprechen, ist | |
vergleichsweise gering – minus 0,6 Prozent laut dem Bericht des Fachbeirats | |
Inklusion von 2021. Und es gibt Bezirke, zum Beispiel in Mitte, wo das | |
Schulamt sagt: Die Nachfrage nach Förderschulplätzen steigt. Warum ist das | |
so? | |
Die Exklusionsquote ist in den letzten fünf Jahren um diese 0,6 Prozent | |
gesunken und lag 2019 bei 2,4 Prozent. Das ist der drittbeste Wert unter | |
allen Bundesländern. Das Steigen der Nachfrage nach Plätzen an Schulen mit | |
sonderpädagogischem Förderschwerpunkt hat sehr komplexe Ursachen. | |
Erklären Sie. | |
Ich fange mal mit der Barrierefreiheit in Schulgebäuden an. Da haben wir | |
einen irrsinnigen Nachholbedarf, obwohl schon sehr viel investiert worden | |
ist. Wir haben aber in Berlin auch immer noch Grund- und Sekundarschulen – | |
von den Gymnasien rede ich hier mal gar nicht – die sich ein Stück weit | |
verweigern. Wo Eltern schon bei der Anmeldung im Sekretariat auf Ablehnung | |
stoßen. Da sagen dann viele: Nein, an diese Schule möchte ich mein Kind | |
nicht schicken, hier ist es nicht willkommen. Und noch ein Punkt: Aus | |
Elternsicht ist die Qualität der sonderpädagogischen Förderung an | |
Regelschulen oft noch nicht gegeben. Sie erhoffen sich von den | |
Spezialschulen die personelle Kompetenz, die sie sich für ihr Kind | |
wünschen. | |
Welche Gruppen sind es denn, die in der Regelschule ankommen? | |
Auch in den sogenannten harten Förderbedarfen, also zum Beispiel Autismus, | |
Sehen oder Hören und Kommunikation ist die absolute Zahl der Kinder, die an | |
einer Regelschule lernen, deutlich gestiegen. Über 50 Prozent der Kinder | |
mit diesen Förderbedarfen sind inzwischen dort angekommen. Auch das waren | |
vor 11 Jahren weniger als die Hälfte. Was derzeit Sorge macht: Die | |
Gesamtzahl der Kinder mit Förderbedarf geistige Entwicklung steigt. | |
Also die Zahl derjenigen Schüler*innen, die eine „hochgradige und | |
dauerhafte“ Entwicklungsverzögerung haben, wie es im Berliner Schulgesetz | |
heißt. Warum ist das so? | |
Für mich ist das nicht klar. Zumindest wissen wir, dass nicht mehr Kinder | |
mit dieser Behinderung geboren werden. Also werden wir schauen müssen: Hat | |
es mit der sonderpädagogischen Diagnostik zu tun, wurde vielleicht bisher | |
eine Dunkelziffer nicht erfasst? Das muss die Bildungsverwaltung jetzt | |
herausfinden. | |
Es gibt ja auch noch die inklusiven Schwerpunktschulen, die Kinder mit | |
einem bestimmten Förderbedarf aufnehmen und dafür auch entsprechend | |
ausgestattet werden. 36 sollten es werden – wo stehen wir da? | |
Es sind im Moment 20. Es fehlen also noch welche. Aber das hängt auch mit | |
unterschiedlichen Bedingungen in den Bezirken zusammen. In Pankow zum | |
Beispiel haben wir bislang nicht eine einzige inklusive Schwerpunktschule. | |
Warum? Weil der damalige Schulstadtrat gesagt hat: Solange in meinem Bezirk | |
Schulraumknappheit herrscht, kann ich es nicht zulassen, dass | |
Schüler*innen von außerhalb des Einzugsbereichs einer Schule bevorzugt | |
aufgenommen werden. Das wäre an inklusiven Schwerpunktschulen für Kinder | |
mit entsprechendem Förderbedarf der Fall. So hat sich der Prozess | |
verlangsamt. Allerdings hat es nun Anfang Juni eine Tagung der inklusiven | |
Schwerpunktschulen gegeben, da waren auch neue interessierte Schulen dabei. | |
Der Raumbedarf für die Inklusion ist das eine. Bildungssenatorin | |
Astrid-Sabine Busse (SPD) hat aber auch gesagt, dass im kommenden Schuljahr | |
rund 1.000 Pädagog*innen fehlen werden. Was ist da in Zukunft noch in | |
Sachen Inklusion zu leisten, wenn die Schulen froh sein müssen, den | |
Fachunterricht stemmen zu können? | |
Klar, wenn ich keine gut ausgebildeten Fachkräfte habe, werde ich Kinder | |
zum Beispiel mit den Förderbedarfen Lernen, sozial-emotionale Entwicklung | |
oder Sprache kaum adäquat fördern können. Dafür brauche ich aber nicht | |
unbedingt Sonderpädagog*innen. Ich brauche gut ausgebildete Pädagog*innen. | |
Und ich sehe, dass es in Zukunft auch mit der Ressource der | |
Quereinsteiger*innen schwierig sein wird, die Qualität beim Personal | |
zu halten. Die Bildungsverwaltung hat das Problem längst erkannt und führt | |
seit mehreren Jahren entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen durch. | |
Diese Personalressource ist doch jetzt schon erschöpft – der | |
Fachkräftemangel wächst. | |
Ja, wir sind fast am Ende angekommen, wo der Quereinstieg noch eine Chance | |
für die Schulen bedeutet hat. Für Kinder, die einen erhöhten Förderbedarf | |
haben, ist das nochmal ein besonderes Problem. | |
Es ist eine Frage der Chancengerechtigkeit. Die leidet. | |
Aber nicht nur für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, auch für | |
Kinder, die zum Beispiel der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Das ist | |
ja auch Inklusion: Es kommt bei der guten inklusiven Schule nicht alleine | |
darauf an, ob das Kind eine Behinderung hat. Inklusion muss die Stärken, | |
die jedes Kind mitbringt, stärken, und es da fördern, wo es diese Förderung | |
benötigt. Darum bemüht sich die Mehrzahl der Lehrkräfte, aber auch das | |
andere pädagogische Personal. Dennoch wird der Mangel wachsen. | |
Es gibt kaum inklusive Gymnasien in Berlin. Warum tut sich diese Schulform | |
so schwer mit der Inklusion? | |
Ich glaube, es hat etwas mit dem Selbstverständnis der Schulen zu tun. Eine | |
Schule, die für die Schüler*innen als einzigen Abschluss das Abitur | |
vorsieht – warum sollte die sich für ein Kind mit Förderschwerpunkt | |
geistige Entwicklung öffnen? Dieses Kind wird niemals Abitur machen. | |
Gymnasien tun sich übrigens nicht so schwer, wenn es zum Beispiel um Kinder | |
mit dem Schwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung geht. Wenn es baulich | |
funktioniert, ist ein Rollstuhl oft kein Problem. Auch seh- oder | |
hörbehinderte Schüler*innen trifft man öfter an Gymnasien. | |
Sind Sie trotzdem optimistisch? Die rot-grüne-rote Koalition hat sich | |
schließlich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, auch die Gymnasien „zu | |
inklusiven Schulen weiterzuentwickeln“. | |
Am Hans-Carossa-Gymnasium in Kladow ist jetzt ein Schulversuch dazu | |
gestartet. Dort werden in einer von vier Klassen pro Jahrgang | |
Schüler*innen mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung aufgenommen, | |
jeweils drei pro Klasse. Das ist ein erster Schritt. Die Klassenfrequenz | |
wird gesenkt – das heißt, die Schule kann weniger Kinder mit | |
Gymnasialempfehlung aufnehmen. Die Akzeptanz bei den Eltern ist übrigens | |
sehr hoch: Es gibt interessanterweise für die inklusiven Klassen insgesamt | |
eine höhere Nachfrage als für die anderen Klassen. | |
Warum ist das so? | |
Weil die Eltern sehen, dass ihre Kinder auf diese Art ein Stück weit das | |
„normale“ Leben kennen lernen. Wenn ich an meine Kindheit vor etwa 60 | |
Jahren denke, habe ich damals im Schulalltag nie Kontakt zu Kindern mit | |
geistiger Behinderung gehabt. Aber unsere Gesellschaft ist bunt, und zu der | |
Buntheit gehören nun mal Menschen dazu, die langsamer lernen, die | |
Trisomie21 haben oder blind sind oder gehörlos. Alle gehören dazu, und das | |
muss die Berliner Schule abbilden. | |
8 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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