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# taz.de -- Anhaltende Krise in Haiti: Wo Willkür und Gangs regieren
> Ein Jahr nach dem Mord an Haitis Präsident Jovenel Moïse versinkt der
> Inselstaat in Gewalt und Chaos. Gangs haben die Kontrolle übernommen.
Bild: Der Anführer des Gang-Zusammenschlusses G9 im Oktober 2021 in Port-au-Pr…
Berlin taz | Wenn man in Haiti mit Personen des öffentlichen Lebens Kontakt
aufnehmen will, ist das zurzeit eine schwierige Sache. Haiti ist das Land
mit der höchsten Entführungsrate: Täglich verschwinden im Schnitt sieben
Personen. Also versucht jeder den Aufenthaltsort oder das Telefon
regelmäßig zu wechseln.
Doch der Direktor des haitianischen Menschenrechtsnetzwerks, Pierre
Esperance, ist wie immer telefonisch in seinem Büro anzutreffen. Auf die
Frage, ob das nicht zu gefährlich sei, sagt er nur: „Ich ändere mein
Verhalten nicht.“ Seine Tochter habe er vor einigen Jahren außer Landes
gebracht, weil es einen Entführungsversuch gab. Aber er und viele andere
Menschenrechtler harren aus, veröffentlichen regelmäßig Berichte über den
Stand der Ermittlungen im Mordfall Moïse und über die Gewalt krimineller
Gangs, die in Haiti ein nie gekanntes Ausmaß angenommen hat.
Seit Juli vergangenen Jahres sitzen 18 kolumbianische Söldner wegen ihrer
mutmaßlichen Beteiligung an der [1][Ermordung des haitianischen Präsidenten
Jovenel Moïse] am 7. Juli 2021 in Haft. Bis heute, so Esperance, hätte
keiner von ihnen einen Haftrichter gesehen. Ebenso erginge es den
haitianischen Inhaftierten, die im Zusammenhang mit dem Mord festgenommen
wurden.
Viele in Haiti glauben mittlerweile, dass der Mord nie aufgeklärt werden
wird. Für Esperance ist klar, warum das so sein könnte: Laut einem Bericht
seines Netzwerks reichten die Kontakte der Mörder und Hintermänner,
darunter der nach wie vor flüchtige haitianisch-US-amerikanische Arzt
Joseph Felix Badio aus Miami, bis in höchste Regierungskreise und zu
Ministerpräsident Ariel Henry.
Bis heute ist der damalige Polizeichef Leon Charles nicht in Haft, sondern
stattdessen Botschafter bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).
Charles trug die Oberaufsicht über die Präsidentengarde, die die Mörder
ohne einen Schuss abzugeben in das Haus des Präsidenten in Pelerin oberhalb
von Port au Prince hineinließ.
## Gangs am Obersten Gerichtshof
[2][Straflosigkeit war schon zuvor ein großes Problem in Hait]i. Wem
Strafe drohte, der ließ sich ins Parlament wählen und genoss vollständige
Immunität. Vor wenigen Monaten wurde der oberste Gerichtshof durch eine
bewaffnete Gang besetzt.
Gangs kontrollieren mittlerweile die Hälfte des Landes.
Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass es um die 300 davon gibt. Die
Hauptstadt befindet sich an ihren wichtigsten Verbindungsstrecken in den
Rest des Landes vollständig unter der Kontrolle zweier bewaffneter Gruppen:
dem Gangzusammenschluss G9 unter dem ehemaligen Polizisten Jimmy Cherizier
und der brutalen Mazowo 300.
Im April dieses Jahres lieferte sich Mazowo 300 mit einer anderen Gang
einen verheerenden Kampf um Vorherrschaft, bei dem es hunderte Tote gab,
darunter Frauen und Kinder. 18 Fälle von Vergewaltigung konnte das
Menschenrechtsnetzwerk von Esperance feststellen. 17 der Frauen wurden
danach exekutiert.
## Premier Henry unter Verdacht
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, sprach in
ihrem jüngsten Bericht davon, dass in Haiti die „bewaffnete Gewalt ein (…)
unerträgliches Ausmaß angenommen hat“. Einer Studie des US-amerikanischen
Instituts für Frieden – ein Thinktank, der sich an der offiziellen
US-Politik orientiert – zufolge haben die Gangs enge Verbindungen in die
Politik. Ihre Bewaffnung sei viel moderner als die der Polizei.
Die [3][Regierung unter Ariel Henry] hat wegen ihrer mutmaßlichen
Verwicklung in den Präsidentenmord wenig Legitimität. Derzeit gibt es kein
Parlament, die Parlamentswahlen sind lange überfällig. Henry stützt seine
Legitimität allein auf die internationale Core-Group, die Gebergemeinschaft
für Haiti unter US-Führung, die den Ministerpräsidenten im Juli letzten
Jahres genehmigte.
Alle Bemühungen der Zivilgesellschaft, die sich im Montana-Accord
zusammengeschlossen hat, stoßen bei der Core-Group auf wenig Interesse.
Angesichts der Krisen Haitis bleibt die unverbrüchliche Unterstützung der
internationalen Kräfte für Henry rätselhaft. Esperance hat wenig Hoffnung,
dass sich daran etwas ändert: „Sie hören nicht auf die Haitianer“. Solange
keine Lösung für die Gewalt gefunden werde, die Straflosigkeit ende und die
Korruption bekämpft werde, könne von Menschenrechten in Haiti keine Rede
sein.
7 Jul 2022
## LINKS
[1] /Nach-Praesidentenmord-in-Haiti/!5781078
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## AUTOREN
Katja Maurer
## TAGS
Haiti
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Kriminalität
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Schwerpunkt Flucht
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