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# taz.de -- Pussy-Riot-Aktivist über Ukraine: „Die Menschen fühlen sich nic…
> Piotr Wersilow protestierte, wurde festgenommen, vergiftet. Während des
> Angriffskriegs auf die Ukraine hat er Selenski getroffen –  und den
> Papst.
Bild: Piotr Wersilow (l.) mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski …
taz: Herr Wersilow, gerade sind Sie zurück in Berlin, wo Ärzte Ihnen 2018
das Leben retteten, [1][nachdem Sie in Moskau vergiftet wurden]. Hätten Sie
in Ihrer Heimat Russland überlebt?
Piotr Wersilow: Nein. Der Geheimdienst FSB kontrollierte das gesamte
Krankenhaus. Meine Familie und die Anwälte blieben draußen. Ich wurde nicht
richtig behandelt. Deshalb wurde ich evakuiert, erst über die Ukraine, dann
nach Deutschland.
Zwei Jahre nach ihnen wurde auch [2][der Oppositionsführer Alexei Nawalny]
vergiftet. Der Fall wurde weltbekannt. Warum wurden Sie vergiftet?
Präsident Wladimir Putin sah unser Protest während des FIFA-Finales der
Fußballweltmeisterschaft in Moskau. Die ganze Welt schaute zu. Er saß neben
dem französischen Präsidenten Macron und verstand, dass Pussy Riot
unbedingt gestoppt werden musste. Mehrere Mitglieder, darunter meine
Ex-Frau, wurden bereits zu Haftstrafen verurteilt. Aber das hat nicht
geholfen. Deshalb haben sie versucht, mich zu töten. In Russland gilt das
Gesetz nicht.
Ihre Aktion beim Finale der Fußballweltmeisterschaft gegen den russischen
Polizeistaat sah die ganze Welt.
Wir hatten diese Art von öffentlichem und wirksamem Protest schon jahrelang
mit Pussy Riot eingesetzt. Russland versuchte damals, vor Hunderttausenden
von ausländischen Fans ein liberales Gesicht des Landes zu zeigen. Sie
hörten sogar auf, Leute mit Bier auf der Straße festzunehmen.
Wir haben bei unserem Performance aber darauf hingewiesen, dass es
politische Gefangene und keine freie Presse gibt. Wir stürmten in
Polizeiuniformen auf den Platz, da die Polizei uns unterdrückt.
Mit Protesten dieser Art riskieren die Aktivisten vom [3][Kunst- und
Musikgruppe Pussy Riot] immer wieder Repressionen. Trotzdem machen sie
weiter. Welche Erfolge hat Pussy Riot damit?
Wir haben es geschafft, so etwas wie Tapferkeit zu zeigen. Das ist sehr
wichtig, wegen der Unterdrückung in Russland. Um keine Angst zu haben. Wir
sehen unseren Einfluss auf Künstler und Politiker, auf Generationen, die
sich für ihr Land einsetzen.
Fühlen Sie sich im Westen freier?
Obwohl ich jahrelang gegen Putin gekämpft habe, fühle ich mich auch in
Moskau pudelwohl. Trotz der Zeit im Gefängnis, wo ich regelmäßig wochenlang
festgehalten wurde. Aber dann ist man wie gelähmt, man kann nichts tun.
Sie waren der erste Russe [4][während des Krieges in der Ukraine], der
Präsident Wolodimir Selenski interviewte.
Ja. Für unser unabhängiges Portal Mediazona, das jeden Monat 45 Millionen
Besucher hat, obwohl unsere Webseite in Russland blockiert ist. Jeder
benutzt deshalb VPN, um die Blockade zu umgehen. Insgesamt waren wir zwei
Monate in der Ukraine.
Wie war ihr Treffen mit Selenski?
Es war sehr bewegend. Er ist die richtige Person, um das Land zu führen. Er
ist ein erstaunlicher Held des Krieges. Ich sprach mit ihm und dem
amerikanischen Filmemacher Beau Willimon, der House of Cards entwickelt
hat, über die Idee eines Dokumentarfilms.
Sie haben ihr Land verlassen, genauso wie Schachlegende Gari Kasparow, der
in den Vereinigten Staaten lebt. Auch er protestierte jahrelang in der
Öffentlichkeit gegen Putin, wurde oft verhaftet.
Ich stehe mit meiner Webseite und meinem Foto auf der „Most-wanted-Liste“
der meistgesuchten Menschen in Russland, weil ich angeblich nicht die
Wahrheit über den Krieg erzählt hebe. Jetzt wird man schon verhaftet, wenn
man vermeintliche Fake News über die russische Armee und ihre spezielle
Operation verbreitet.
In Russland wird man mittlerweile schon festgesetzt, wenn man nur mit einem
weißem Blatt Papier protestiert. Manche Menschen, die demonstrieren,
schicken sie in sibirische Straflager.
Ja, so ist es.
Gibt es heutzutage einen neuen Form des Stalinismus?
Es ist anders als im letzten Jahrhundert. Aber das stalinistische System,
das es wirklich in Russland gibt, und nur dort, ist die alleinige
Herrschaft einer Person. Putin hört jedoch nicht auf seine Eliten.
Sie trafen mit Müttern aus Mariupol den Papst. Hat er denn Einfluss auf
Putin?
Der Papst ist sehr wichtig. Erst vor Kurzem wurden mit seiner Hilfe Bürger
aus Mariupol evakuiert, auch mit Unterstützung der UN und des Roten
Kreuzes. Es gab dort bei den Asow-Kämpfern im belagerten Stahlwerk kein
Wasser, keine Ernährung, keine Medizin. Die Leute bekamen ein Glas am Tag
zu trinken.
Warum reist der Papst nicht in die Ukraine?
Er möchte mit beiden Kriegsparteien sprechen. Er wollte zuerst nach Moskau,
zu Präsident Putin und Patriarch Kyrill, und dann nach Kiew. Doch Putin
lehnte ab.
Sind die Sanktionen gegen den Patriarchen Kyrill gut?
Ja, denn er unterstützt den Krieg. Er stellt sich gegen den Papst. Sie
sprachen lange miteinander. Fast eine halbe Stunde hat Kyrill nur russische
Kriegspropaganda vom Blatt abgelesen.
Nun drängt sich immer wieder der Eindruck auf, dass die russische Offensive
in der Ukraine nicht mehr so schnell vorankommt. Zumindest nicht so schnell
wie von Putin erhofft.
Die ganze Welt ist von den Fehlern der russischen Armee überrascht. Putins
Armee ist korrupt und ineffizient. Ihre Kampfmoral ist niedrig. Er kann
nicht wirklich etwas dagegen tun.
Wie lange wird es dann wohl noch dauern, bis die russische Bevölkerung
wirklich aufbegehrt?
Schwer zu sagen. Sie können nicht länger als vier, fünf Monate Krieg
führen. Sie sind erschöpft. Aber in meinem Land gibt es keine Kultur des
Protests gegen die Polizei.
Es gibt immer noch viel Unterstützung für den Krieg.
Ja, etwa zwanzig bis dreißig Prozent der russischen Bevölkerung, schätze
ich. Die finden es gut, was passiert. Vor allem wegen der Propaganda und
der Nostalgie nach der Sowjetunion.
Die Russen werden noch lange mit der Schuld für die Verbrechen in diesem
Krieg leben müssen.
Ja, aber die Menschen fühlen sich nicht für diesen Krieg verantwortlich.
Sie sehen nur fern. Sie sind isoliert von der Schuldfrage.
Und wie ist die Situation für Sie als Russe?
Ich ging in Kanada zur High School, habe einen kanadischen Pass. Und ich
habe mich seit Jahren gegen das russische System eingesetzt.
Im russischen Fernsehen wird zur Hauptsendezeit gezeigt, wie schnell die
Atomraketen auf Westeuropa zusteuern könnten. In wenigen Minuten von
Kaliningrad nach Berlin, Paris und London.
Die Armee ist ineffektiv und korrupt. Viele Teile werden geklaut und
weiterverkauft.
Was würde denn geschehen, wenn Putin seinen Willen wirklich nicht
durchsetzt?
Es ist gut, wenn er in die Ecke gestellt wird. Ich bin sicher, dass er
keine Atomwaffen einsetzt. Ich weiß nicht, ob sie funktionstüchtig sind. Es
besteht die Möglichkeit der Sabotage.
Das russische Narrativ bleibt gleich, sie sprechen immer wieder von „Nazis“
in der Ukraine.
Völliger Blödsinn. Die russische Propaganda hat sich geändert. Zum ersten
Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sieht man in Europa eine riesige Armee, die
in großem Stil Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübt. Wir haben es in
Butscha und Kiew gesehen. Menschen wurden gefesselt, sie wurden erschossen,
es gab Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen, Folter. Das gleiche Verhalten
wie bei den Nazis im Zweiten Weltkrieg.
Die Nationalsozialisten waren verantwortlich für den Holocaust und dutzende
Millionen Tote. Das ist ein Unterschied. Und Sie vergessen, wie viele
Leute, die Balkankriegen in den neunziger Jahren. Im ehemaligen Jugoslawien
kamen Hunderttausende ums Leben.
Ja, aber jetzt sterben schon in den ersten Monaten so viele Menschen. Das
ist eine neue Dimension des Krieges in Europa.
26 Jun 2022
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## AUTOREN
Rob Savelberg
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Pussy Riot
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