# taz.de -- Umbau und Abrisse in Saudi-Arabien: Die Unerwünschten | |
> Saudi-Arabien baut die Großstadt Dschidda radikal um. Weichen müssen | |
> dafür vor allem migrantische Viertel – mit weitreichenden Folgen für die | |
> Bewohner. | |
Bild: Das alte Dschidda im Jahr 2019: Holzfenster und Backsteine statt Glas und… | |
DSCHIDDA taz | Im März beginnt Ahmeds Familie zu packen; sie zieht zurück | |
nach Pakistan. Er habe Schuldgefühle, sagt er damals. „Meine Tochter hört | |
nicht auf zu weinen. Sie liebt Dschidda sehr.“ Ahmed, der seinen vollen | |
Namen nicht veröffentlicht sehen will, stammt aus Pakistan. Fast zwei | |
Jahrzehnte lebte er in der saudischen Großstadt, wo er im Finanzsektor | |
arbeitete. | |
Seine 15-jährige Tochter wurde dort geboren – eine andere Heimat kennt sie | |
nicht. Doch auf dem Papier sind sie Pakistani, die saudische | |
Staatsbürgerschaft hat keiner der Familie. Damit sind sie nicht allein: | |
Fast 40 Prozent der Einwohner des Königreichs haben keinen saudischen Pass | |
– denn das Land vergibt im Normalfall keine Staatsbürgerschaften. | |
Wer – meist aus Südasien oder arabisch-sprachigen Ländern – dorthin zieht, | |
gilt als ausländische Arbeitskraft. Und von denen wird erwartet, dass sie | |
das Land wieder verlassen, sobald ihr Vertrag ausläuft. | |
In manchen Industriezweigen dürfen nur noch Saudis arbeiten, Ausländer, die | |
ihre Familien zu sich nachholen, müssen eine zusätzliche Steuer zahlen – | |
politische Maßnahmen, die es Migrierenden immer schwerer machen, im Land | |
Fuß zu fassen. | |
## Ein neues Stadtzentrum für Dschidda | |
„Viele Leute, die ich kenne, mussten bereits zurück in ihre Heimatländer, | |
aber ich habe es bisher immer geschafft“, so Ahmed. „Meine Tochter ist hier | |
aufgewachsen, hat all ihre Freunde hier. Das wollte ich ihr nie nehmen.“ | |
Mittlerweile haben auch sie das Königreich verlassen. | |
Im Frühling wurde die Familie zwangsgeräumt. Eine neue Wohnung kostete fast | |
das Doppelte, die Mieten sind in den letzten Jahren stark gestiegen. In | |
Dschidda zu leben, so Ahmed, sei nicht mehr tragbar. | |
Das Viertel der Familie gehört zu den 63 Bezirken, die in Dschidda – der | |
zweitgrößten Stadt Saudi-Arabiens – einer umfassenden Initiative zur | |
Stadtsanierung weichen müssen. Nach Angaben der Stadtverwaltung steht das | |
in Einklang mit der „Vision 2030“ – ein Projekt, das Wirtschaft und | |
Gesellschaft des Königreichs modernisieren soll. Kronprinz Mohammed bin | |
Salman brachte im Dezember 2021 einen Sanierungsplan für Dschidda auf den | |
Weg. | |
Das Projekt ist etwa [1][75 Milliarden Saudische Rial] – über 20 Milliarden | |
Euro – schwer. Im neuen Stadtzentrum sollen sich ein Opernhaus, ein Museum, | |
ein Sportstadion, ein Sandstrand und ein Jachthafen befinden. Um das zu | |
ermöglichen, werden mindestens eine halbe Million Menschen – viele davon | |
Nichtsaudis wie Ahmed und seine Familie – vertrieben. | |
## Die zu räumenden Bezirke seien unterentwickelt | |
[2][Berechnungen des Institute for Gulf Affairs zufolge] wurde allein bis | |
März 2022 bereits eine Fläche von 169 Quadratmeilen (umgerechnet etwa 437 | |
Quadratkilometer) abgerissen – darunter Wohnhäuser, Schulen, Moscheen und | |
Krankenhäuser. | |
Die Stadtverwaltung beharrt darauf, dass die zu räumenden Bezirke eine | |
unterentwickelte Infrastruktur und eine große Zahl illegaler Siedlungen | |
aufwiesen. Saleh Al-Turki, Bürgermeister von Dschidda, betonte, dass die | |
Vision 2030 darauf abziele, die Lebensqualität, insbesondere in den – wie | |
er sie nannte – „Slums“, zu verbessern. Dem saudischen Fernsehen sagte er: | |
„Es mangelt an Sicherheit, es gibt keine Baupläne, Infrastruktur ist kaum | |
vorhanden, es ist eine Brutstätte der Kriminalität.“ Ahmed ist anderer | |
Meinung: „Mein Viertel war extrem sicher und ein Zuhause für angesehene | |
Leute.“ | |
Im Februar [3][berichtete die taz], dass ihr ein Dokument der | |
Stadtverwaltung vorliege. Darin sind 63 Viertel aufgelistet, die bis Ende | |
des Jahres abgerissen werden sollen. Es belegte auch, dass die | |
Kündigungsfrist für die Bewohnenden sehr kurz ist. Manche seien erst | |
informiert worden, als die Abrissarbeiten bereits begonnen hatten. | |
Sie sind vor allem von Migrierenden bewohnt, viele von ihnen sind älter und | |
weisen entsprechende Infrastruktur auf. Andere, wie Asharifiya, wo Ahmed | |
lebte, sind mit der Zeit gewachsen, alte und neue Gebäude wechseln sich ab. | |
## Die Zukunft vieler ist ungewiss | |
Bilal, ein Techniker aus Bangladesch, der nur seinen Vornamen nennen will, | |
erzählt, er sei im Januar darüber informiert worden, dass er einen Monat | |
Zeit habe, eine neue Wohnung zu finden. Schon vor Ablauf der Frist wurden | |
ihm Wasser und Strom abgestellt. Er zog zu seinem Cousin, ins Viertel | |
Aziziya, auch bekannt als „Little Pakistan“, doch die Zukunft ist für beide | |
ungewiss. Aziziya steht ebenfalls auf der Liste der abzureißenden Gebiete. | |
Aisha, 17 Jahre alt, somalischer Herkunft, hat ihr ganzes Leben in einem | |
der „Slums“ verbracht. Im Frühling wurde dieser abgerissen. Sie ist in | |
Dschidda geboren, Migrantin in zweiter Generation – und hat keine | |
Aufenthaltsgenehmigung. | |
„Meine beiden Großväter kamen in den 1960er Jahren für die Pilgerreise nach | |
Mekka hierher und beschlossen dann, hier zu bleiben. Sie brachten ihre | |
Frauen mit und gründeten eigene kleine Unternehmen“, erzählt sie. Nach | |
Somalia zurück wollte keiner der Familie. | |
Damals sei die Situation in Saudi-Arabien eine andere gewesen: „Es zogen | |
viele Menschen hierher, niemand kümmerte sich darum, ob man einen Pass oder | |
eine Iqama hatte, also machten sie sich nicht die Mühe, einen zu bekommen.“ | |
Die Iqama ist der saudische Aufenthaltstitel. | |
## Dschidda ist ein Tor für Pilgernde | |
Aishas Großeltern waren nicht allein. Millionen Menschen leben ohne Papiere | |
in Saudi-Arabien. Die meisten haben ihre Wurzeln in Südasien, Ostafrika und | |
ärmeren arabischen Ländern wie dem Jemen und leben in der Region Mekka, in | |
der auch Dschidda liegt. Die Hafenstadt ist seit Jahrhunderten ein Tor für | |
Pilgernde, die oftmals auf unbestimmte Zeit blieben, statt in ihre | |
Heimatländer zurückzukehren. | |
Auch nach der Gründung des saudischen Staates [4][im Jahr 1932] blieben die | |
Einwanderungsgesetze locker – bis die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft | |
Saudi-Arabien zu der Regionalmacht erhoben, die es heute ist. | |
„Meine Großeltern haben mir erzählt, dass es damals nichts gab hier. Sie | |
gehören zu der Generation, die Saudi-Arabien zu dem gemacht hat, was es | |
ist“, sagt Aisha. Das Land habe damals jeden willkommen geheißen. „Man | |
konnte in einem Büro in der Nähe des Flughafens einen saudischen Pass für | |
20 bis 25 Saudische Rial kaufen“, berichtet sie. Nie hätte ihre Familie | |
geglaubt, eines Tages nachweisen zu müssen, dass sie das Recht habe, dort | |
zu leben. | |
## Aishas Familie hat Angst, abgeschoben zu werden | |
In einer Studie schreibt [5][Hisham Mortada], Professor an der King | |
Abdulaziz University in Dschidda: Das schnelle Bevölkerungswachstum der | |
Stadt habe in den 1970er Jahren begonnen – während des Ölbooms in | |
Saudi-Arabien. In den folgenden Jahrzehnten habe die Bevölkerung weiter | |
zugenommen, die staatlichen Mittel jedoch nicht Schritt gehalten. Eine | |
Folge: Einige ältere Viertel – wie das von Aisha – seien nie | |
weiterentwickelt worden. | |
Rassismus und eine feindliche Stimmung gegenüber Migranten hätten mit den | |
Jahren ebenso zugenommen, auch die Abschiebung Tausender ohne Papiere – | |
darunter auch einige von Aishas Verwandten, die Dschidda ihr Zuhause | |
nannten. | |
„Mein Cousin wurde zurück nach Somalia abgeschoben“, sagt Aisha. „Er war | |
noch nie in Somalia. Auch seine Eltern kennen das Land nicht.“ In den | |
letzten Jahren hat sich Aishas Familie aus Angst vor einer Abschiebung | |
immer seltener aus dem Haus getraut und noch seltener aus ihrem Viertel | |
hinaus. | |
Als die Benachrichtigung über die anstehende Räumung kam, zog die | |
fünfköpfige Familie bei einem Verwandten ein. Als Papierlose eine | |
Unterkunft zu finden sei schwierig, sagt Aisha. „Die meisten Menschen in | |
unserem alten Viertel hatten keine Papiere, mein Vater kannte den Vermieter | |
seit seiner Kindheit. Keine Ahnung, was jetzt passieren wird und wie wir | |
uns das leisten sollen.“ | |
## Entschädigungen nur für saudische Bürger | |
„Wir haben kein Dach über dem Kopf, keine Schule, die wir besuchen können, | |
und jeden Tag Angst davor, in ein Land abgeschoben zu werden, von dem wir | |
nichts wissen. Saudi-Arabien hat eines Tages plötzlich beschlossen, dass | |
wir nicht willkommen sind, und seitdem steht unser Leben auf dem Kopf“. | |
Finanzielle Entschädigungen für den Abbruch ihrer Eigenheime erhalten nur | |
Saudis. Diejenigen, die im Besitz von Eigentumsurkunden sind, können über | |
ein Online-Portal einen [6][Antrag auf Entschädigung] stellen. Das Land hat | |
zwar angekündigt, dass Betroffene auch ohne gültige Eigentumsurkunden eine | |
Entschädigung erhalten könnten und die Fälle derzeit geprüft würden – do… | |
das ist ein Entgegenkommen, das nur für saudische Staatsbürger gilt. | |
Al-Turki hatte – nachdem Bürger ihrem Unmut Luft machten – außerdem | |
angekündigt, man werde eine mögliche Reorganisation der Viertel, statt | |
eines Abbruchs, prüfen. Das gelte aber nur für Stadtteile, die mehrheitlich | |
von Saudis bewohnt würden. | |
19 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.khaleejtimes.com/gulf/saudi-crown-prince-launches-75-billion-ri… | |
[2] https://www.gulfinstitute.org/2022/02/03/firm-led-by-crown-prince-leads-mas… | |
[3] /Abriss-in-Saudi-Arabien/!5830979 | |
[4] https://www.saudiembassy.net/history | |
[5] https://www.linkedin.com/in/hisham-mortada-ph-d-aia-074591150/?originalSubd… | |
[6] https://saudigazette.com.sa/article/616529/SAUDI-ARABIA/Free-housing-among-… | |
## AUTOREN | |
Rabiya Jaffery | |
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