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# taz.de -- Buch über Familientragödie: Von schwarzen Raben umschwärmt
> Die Fotografin Bettina Flitner erzählt in ihrem autobiografischen Roman
> „Meine Schwester“ von den Suiziden in ihrer Familie.
Bild: Ausschnitt des Covers „Meine Schwester“: Bettina Flitner und ihre Sch…
Ein Suizid ist wie die Explosion einer Atombombe, sagte einmal ein
Psychologe zu einem Freund von mir, dessen Vater sich das Leben genommen
hatte. Was im direkten Umfeld des Toten nicht sofort zerstört wird, bleibt
auf Jahre und Jahrzehnte kontaminiert und von der Tat belastet.
Umso mehr muss das gelten, wenn dieses Umfeld ohnehin schon familiär
vorbelastet ist, etwa durch eine Neigung zu Depression. So ist es in der
Familie von [1][Bettina Flitner], die nach dem Freitod ihrer Schwester
Susanne, fast auf den Tag genau 33 Jahre nach dem Suizid der Mutter,
beschloss, die Geschichte dieser langsamen Zerstörung zu erzählen. So
entstand ihr autofiktionaler Roman „Meine Schwester“.
Es sind die „schwarzen Raben“ der Depression, die in der Familie ihrer
Mutter viele umflattern, den Onkel, die Tante, aber auch den Großvater, der
oft am Fenster steht und ins Leere starrt. Bei den Großeltern in Celle
verbringen die Schwestern viele Sommer, so auch Ende der 60er Jahre, als
die Eltern bei einem Urlaub ohne Kinder noch einmal ihre Ehe retten wollen.
Es wird ihnen nicht gelingen, doch ebenso wenig werden sie die Kinder vor
dem ehelichen Trümmerfeld bewahren. Die Illusion soll gewahrt bleiben, die
Familie bleibt zusammen, doch die Eltern haben ständig wechselnde – und
kaum verborgene – Affären.
## Saat des Unglücks
Es sind die inneren Widersprüche von 1968 in ihrer zweifelhafteren Form,
die in dieser Familie die Saat des Unglücks keimen lassen. Die soziale und
sexuelle Befreiung bleibt auf halbem Wege stecken und wird auf dem Rücken
der Kinder ausgetragen. Denn die müssen all die unausgesprochenen Konflikte
und sonderbaren Szenen mit „Freunden der Familie“ ertragen, ohne sie
verarbeiten zu können. Müssen ständig „Position beziehen“ und entfernen
sich dadurch auch voneinander.
Die Celler Großeltern bilden dazu ein Gegengewicht. „Hier bei Ami und Api
ist die Welt noch in Ordnung“, die Schwestern bilden eine „unzertrennliche
Einheit“. Erst spät bemerken sie, dass unter all der Unbeschwertheit, die
sie bei dem schrulligen, großbürgerlichen Ehepaar genießen, ein durchaus
autoritärer Charakter ihres „Api“ schlummert. Wenn der etwa „morgens uns…
Begrüßung nicht angemessen findet, spricht er den ganzen Tag nicht mit
uns“. Und wenn die Kinder bei Tisch nicht ganz lieb fragen, bevor sie von
der „Apiwurst“ essen, setzt es einen Wutanfall.
Schlimmer aber sind die Eltern des Vaters, der bekannte [2][Reformpädagoge
Wilhelm Flitner] und die Ehrenvorsitzende des Kinderschutzbundes,
Elisabeth Flitner. Deren freundliche Strenge lehrt auch die Mutter der
Mädchen das Fürchten, und selbst ihr sonst so selbstbewusster Mann mutiert
in Gegenwart seiner Eltern zum aufgescheuchten Huhn.
Es ist wohl kein Zufall, dass dieser scheinbare Freigeist später beim
Nachhilfeunterricht für die strauchelnde Susanne ungeduldig Kopfnüsse
verteilt und von seinen immerhin schöngeistigen Berufswünschen für die
Töchter keine Abweichung erträgt.
## Düster und komisch zugleich
Es ist das Wunder dieses Buchs, dass Bettina Flitner all das mit feiner
Ironie erzählt und dem zunehmend düsteren Hintergrund stets strahlende
Miniaturen und hinreißend komische Episoden entlockt. So das heitere
Porträt einer Hannoveraner Waldorfschule, die vielen Urlaubsabenteuer der
diversen Großfamilien oder ein halbes Jahr in New York mit Auftritten von
Hannah Arendt und Kermit dem Frosch. Und hinter allem steht die Bewunderung
für die eigentlich so lebensfrohe, starke große Schwester.
Doch die Rabenschwärme um die Mutter werden dichter. Am Tag der
Abiturprüfungen der Töchter versucht sie sich zum ersten Mal das Leben zu
nehmen. Zu Ende bringen wird sie es ein paar Jahre später. Auch Susanne
wird 33 Jahre danach zwei Anläufe brauchen. Und doch wird es auch bei ihr
niemandem gelingen, die ernsten Hilferufe von den täglichen Ängsten und
Sorgen zu unterscheiden.
Bettina Flitner macht es sich nicht leicht, wenn sie die vielen Male
schildert, wie sie – inzwischen gefragte Fotografin – gereizt auf ihre
Schwester reagiert, die mit Ende 50 ihren Job als Verkäuferin verliert und
ihre Angst vor dem Jobcenter mit echten Existenzängsten zu verwechseln
scheint.
Oder wie sie den womöglich entscheidenden Anruf am Morgen des Todes
verpasst und daraufhin den Tag über vergeblich versucht, ihre da schon tote
Schwester zu erreichen. Diese Schilderung zieht sich in kleinen Episoden
durch das ganze Buch. Wie übrigens auch die ruhende Präsenz von Flitners
jahrzehntelanger Lebensgefährtin, der Publizistin Alice Schwarzer.
Am Ende steht die große Frage, „warum“ sie – Schwester wie Mutter – �…
getan“ haben, offen. Es bleiben die Erinnerung – und die Erzählung.
17 Feb 2022
## LINKS
[1] https://www.bettinaflitner.de/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Flitner
## AUTOREN
Tom Wohlfarth
## TAGS
Suizid
Familie
Alice Schwarzer
Selbsttötung
Alice Schwarzer
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