# taz.de -- Abriss in Saudi-Arabien: Die Bulldozer des Prinzen | |
> Saudi-Arabiens Thronfolger will die Stadt Dschidda zu einer globalen | |
> Marke machen – mit Oper und Jachthafen. Zehntausende verlieren ihr | |
> Zuhause. | |
Bild: Einst dicht besiedelt: der Stadtteil Ghulail in Dschidda, Saudi-Arabien | |
Hier und da ragt noch ein Minarett in die Höhe, eine Palme, auch Überreste | |
von Gebäuden stehen noch. Ansonsten mutet die Trümmerwüste gespenstisch an, | |
erinnert an Bilder aus Syrien oder Libyen. Doch in Dschidda am Roten Meer, | |
Saudi-Arabiens zweitgrößter Stadt, herrscht kein Krieg. Bagger und | |
Bulldozer am Straßenrand zeigen: Hier wurde nach Plan zerstört. Von | |
Zerstörung sprechen jedenfalls die einen, andere nennen es | |
Stadtentwicklung. | |
Seit Oktober sind mitten in Dschiddas Innenstadt gigantische Abrissarbeiten | |
im Gang. In einst dicht besiedelten Vierteln wie Ghulail und Petromin | |
wurden komplette Häuserblöcke dem Erdboden gleichgemacht. Wohnungen, | |
Autowerkstätten, Supermärkte, alles ist platt. Schutt häuft sich links und | |
rechts der wenigen noch befahrbaren Straßen. | |
„Jemand kommt und schreibt ‚Räumung‘ an die Hauswand. Manchmal haben die | |
Leute nur wenige Wochen, um ihre Häuser zu räumen. In Ghulail hatten sie | |
nur 24 Stunden.“ So beschreibt Khulud al-Harthi das Vorgehen der Behörden | |
gegenüber der taz. Die 26-Jährige ist in Kilo 14 aufgewachsen, einem | |
Viertel, das bald auch der Vergangenheit angehören könnte. | |
Auf Tiktok, Instagram und Youtube kursieren Tausende Fotos und Videos der | |
Trümmerlandschaften unter den Stichworten [1][„Zerstörung Dschiddas“] und | |
[2][„Räumung der Slums“]. Ein Sinnbild, wie radikal die Behörden vorgehen, | |
war für viele in Dschidda ein Friedhof im Stadtteil Kandara. Wie an anderen | |
Häusern des Viertels fand sich im Januar plötzlich auch am Friedhofsgebäude | |
das Wort „Räumung“ in großen roten Lettern an die Wand gesprüht. Noch be… | |
die Behörden reagieren konnten, verbreiteten sich die Aufnahmen im Netz. | |
Kurz darauf [3][teilte die Stadtverwaltung mit], es handele sich um einen | |
Fehler. Es sei nie geplant gewesen, den Friedhof zu beseitigen. | |
Betroffen von den Zerstörungen sind aktuell vor allem Viertel südlich und | |
östlich der Altstadt, dem [4][Balad, das sich in Teilen | |
Unesco-Weltkulturerbe nennen darf]. In diesen Stadtteilen lebten vor der | |
Räumung jeweils zwischen 10.000 und 50.000 Menschen. Zehntausende dürften | |
also ihr Zuhause verlieren. Schätzungen, die von Dissidenten und Kritikern | |
der Abrissarbeiten verbreitet werden, gehen von mehreren Hunderttausenden | |
bis zu einer Million aus. Die zuständigen Behörden sowie die saudische | |
Botschaft in Berlin äußerten sich auf Nachfrage der taz nicht zur Zahl der | |
Betroffenen. | |
Aufnahmen, teils aus Drohnenperspektive, geben eine Vorstellung von dem | |
Ausmaß: Die Viertel Ghulail und Petromin wurden jeweils zur Hälfte | |
nivelliert, ebenso wie große Teile von Mada’en Fahad, Nuzla Yamaniya, | |
Qurayat und anderer Stadtteile. Ende Januar wurde der [5][Abriss von | |
Kandara und Hindawiya] vorbereitet, indem den Bewohnern Strom und Wasser | |
abgedreht wurden, um die Räumung zu beschleunigen. Hindawiya gleicht | |
mittlerweile einer [6][Geisterstadt]. | |
Die Stadtteile rund um das Balad sorgen seit Jahren für Diskussionen. In | |
der saudischen Presse, die schon einen „Sieg über die Slums“ ausgerufen | |
hat, wurde eine [7][„visuelle Deformation“ der Stadt] beklagt; auch sollen | |
Drogenkonsum und kriminelle Machenschaften verbreitet sein. Ein vergangene | |
Woche veröffentlichtes [8][Video der Regionalregierung], das Verständnis | |
wecken soll für den Abriss, zeigt verdreckte Straßen, heulende Sirenen und | |
Schwarze Männer, die vor anrückenden Polizisten flüchten. | |
Laut einem Dokument der Stadtverwaltung, das der taz vorliegt, gelten 63 | |
Viertel oder knapp 40 Prozent der Stadtfläche Dschiddas als sogenannte | |
Ashwa’iyat: ungeplante Stadtteile oder „Slums“, die es zu entwickeln | |
beziehungsweise zu beseitigen gilt. | |
Von „Slums“ allerdings will Atef Alshehri nicht sprechen. Der saudische | |
Architekt forscht über Stadtentwicklung auf der Arabischen Halbinsel. | |
„Diese Stadtteile sind organisch gewachsen“, sagt er, „sie entsprechen | |
schlicht nicht den Prinzipien modernistischer Stadtplanung.“ Anders als im | |
Norden der Stadt Dschidda, wo sich ein schickes Restaurant ans nächste | |
reiht, leben in einem Ring um das Balad Familien mit niedrigen und | |
mittleren Einkommen. | |
Ihre Vorfahren kamen einst aus dem Süden Arabiens, wanderten vom | |
afrikanischen Kontinent ein oder kamen als Sklaven auf die Halbinsel und | |
fanden in Siedlungen rund um das damals von Mauern umgebene Dschidda ein | |
Zuhause. Wieder andere waren auf Pilgerfahrt und ließen sich dauerhaft | |
außerhalb von Dschidda nieder, das als Hafenstadt für das 80 Kilometer | |
entfernte Mekka diente. Erst nachdem 1947 die Stadtmauer fiel, die | |
kommerzielle Ölförderung in Saudi-Arabien begann und mehr Menschen in die | |
Städte zogen, wurden die Siedlungen rund um die heutige Altstadt vom | |
Stadtgebiet vertilgt. | |
Verwinkelte Gassen und teils unklare Eigentumsverhältnisse zeugen noch | |
heute vom ungeplanten Wachstum, erklärt Alshehri. In wenigen Jahrzehnten | |
wuchs Dschidda auf seine heutigen viereinhalb Millionen Einwohner an. Als | |
historisch gewachsene Stadt, sagt der Architekt, sei das alte Dschidda | |
vielleicht „nicht sexy genug“, um mit der globalisierten Glas- und | |
Stahlarchitektur in Dubai, Singapur oder Hongkong mithalten zu können, | |
dafür aber einzigartig und voller lokaler Identität. | |
Unter Mohammed bin Salman (MBS), seit 2017 Kronprinz von Saudi-Arabien, | |
wird mit den vermeintlichen Slums nun kurzer Prozess gemacht. Mit seiner | |
Reformagenda „Vision 2030“ gibt er vor, das Königreich zu modernisieren. Er | |
stellte Kritiker kalt und zentralisierte die Macht; zeitgleich baute er | |
einen Hunderte Milliarden schweren Staatsfonds auf, mit dem er | |
Direktinvestitionen anziehen und die Wirtschaft unabhängig machen will vom | |
Erdöl. Mit der von oben gesteuerten gesellschaftlichen Öffnung dürfen seit | |
2019 selbst Individualtourist*innen das Land bereisen. Die | |
Ashwa’iyat in Dschidda, der potenziellen Vorzeigemetropole des Landes, | |
passen da nicht ins Bild. | |
Im Dezember gab MBS persönlich den Startschuss für das Großprojekt | |
[9][„Jeddah Central“]. Anders als auf den neu entstehenden Freiflächen im | |
Süden und Osten, für die keine Bauvorhaben bekannt sind, sollen an der | |
Rotmeerküste nördlich der Altstadt ein Jachthafen und Strandresorts mit | |
Shoppingmöglichkeiten entstehen, dazu Saudi-Arabiens erstes Opernhaus, ein | |
Sportstadion und ein „Ozeanarium“. Hinzu kommen 17.000 Wohneinheiten, | |
Hotelprojekte und „integrierte Lösungen für den Unternehmenssektor“. Mitt… | |
im Stadtgebiet soll eine Fläche deutlich größer als der Central Park in New | |
York neu bebaut werden. 18 Milliarden Euro Startfinanzierung hat der | |
Staatsfonds unter Vorsitz von MBS gegeben, um auch private Investoren ins | |
Boot zu holen. Von einem „New Dschidda“ [10][schwärmte ein Kommentator] des | |
staatsnahen Nachrichtensenders al-Arabiya bereits. | |
„Niemand ist gegen Modernisierung“, sagt Architekt Alshehri über die | |
Abrissarbeiten, „diese Viertel sind teilweise runtergekommen und die | |
Kriminalität ist hoch.“ Doch was in Dschidda entstehe, befürchtet er, werde | |
jeglicher lokaler Identität entbehren. Man müsse sich nur die | |
Finanzdistrikte von Singapur, Hongkong oder Riad anschauen: „Das Gleiche | |
passiert jetzt in Dschidda. Hier wird Raum durch Kapital produziert.“ Die | |
Bewohner spielten keine Rolle. „Die Gemeinschaft wird durch | |
Master-Developer ersetzt.“ | |
In gut informierten Kreisen wird befürchtet, dass ein großer Teil der | |
Stadtbevölkerung in die Obdachlosigkeit getrieben wird. Wie viele Familien | |
entschädigt werden, ist unbekannt. Wer Grundeigentum nachweisen kann, soll | |
Geld für Land und Immobilien bekommen – was allerdings die Wenigsten sein | |
dürften: Daten der Stadtverwaltung zufolge liegen für nur 11 Prozent der | |
Fläche in den Ashwa’iyat Dokumente vor. Zudem liegt hier der Prozentsatz | |
der Nicht-Saudis bei bis zu 70 Prozent. | |
Im Januar veröffentlichte die Stadtverwaltung Zahlen, nach denen 550 | |
Familien bereits temporär umgesiedelt wurden. Insgesamt sollen dieses Jahr | |
noch rund 4.800 neue Wohneinheiten entstehen. Was mit jenen geschieht, die | |
keine Dokumente vorweisen können, ist unklar. „Die Bewertung ihrer Lage | |
läuft noch“, [11][teilte die Stadtverwaltung] mit und verwies auf ihre | |
Zusammenarbeit mit Wohltätigkeitsorganisationen. | |
Allerdings sind längst nicht alle in den betroffenen Vierteln mittellos. | |
Alshehri beobachtet bereits einen „Exodus von Leuten“, die in Dschidda auf | |
den Miet- und auf den Eigentumsmarkt strömen. Er befürchtet deshalb sowohl | |
einen Anstieg der Mietpreise als auch eine problematische Entwicklung auf | |
dem Immobilienmarkt: „Der Zustrom von neuen Käufern könnte eine neue | |
Spekulationskrise auslösen.“ | |
Die Abrissarbeiten haben mittlerweile auch die saudische Exilopposition auf | |
den Plan gerufen. „Sie nennen es Modernisierung“, sagt der Dissident Ali | |
AlAhmed am Telefon aus Washington, D. C. Aber in Wirklichkeit würden den | |
Leuten Grundstücke und Häuser zu günstigen Preisen abgekauft oder gegen | |
geringe Entschädigungszahlungen weggenommen, damit Mitglieder der | |
Königsfamilie und deren Günstlinge Hotels bauen können. In Dschidda setze | |
sich fort, was anderswo längst Realität sei. „Wenn man sich Mekka und | |
Medina ansieht, wird klar, dass historische Viertel zerstört werden, um | |
gläserne Hochhaustürme zu errichten. Mohammed bin Salman möchte Dschidda zu | |
so etwas umbauen wie Dubai.“ | |
14 Feb 2022 | |
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[1] https://twitter.com/search?q=%23%D9%87%D8%AF%D8%AF_%D8%AC%D8%AF%D8%A9&s… | |
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[3] https://www.okaz.com.sa/news/local/2093949 | |
[4] http://whc.unesco.org/en/list/1361 | |
[5] https://saudigazette.com.sa/article/616368/SAUDI-ARABIA/Jeddah-to-have-majo… | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=nGqq6XmK76k&feature=youtu.be | |
[7] https://www.okaz.com.sa/articles/authors/2094926 | |
[8] https://twitter.com/makkahregion/status/1490630169278787586?s=20&t=Cysu… | |
[9] https://www.jeddahcentral.com/ | |
[10] https://www.alarabiya.net/saudi-today/views/2021/12/27/-%3C0x0646%3E%3C0x0… | |
[11] https://twitter.com/makkahregion/status/1487788277499371520?s=20&t=i23… | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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