| # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie loten den richtigen Weg aus | |
| > Im Ruhrpott liebt man Familie. Auch Marleen Derißen und Mats Welzbacher | |
| > sprechen über Kinder. Aber auch darüber, wie Kind und Arbeit vereinbar | |
| > sind. | |
| Bild: Beamten-Paar Mats Welzbacher und Marleen Derißen | |
| Wenn es nach ihr geht, ist der Weg klar vorgezeichnet. Er hingegen | |
| mäandert. Das muss nicht unbedingt Konflikt bedeuten. Marleen Derißen (28) | |
| und Mats Welzbacher (29) gehen aufeinander zu. | |
| Draußen: Derißen und Welzbacher wohnen mitten im Ruhrpott, im Essener | |
| Südviertel, also am Stadtrand. Es regnet. Eine Textilreinigungsfirma macht | |
| gerade ein Angebot. An das Schaufenster sind große Buchstaben geklebt: | |
| „Brautkleider ab 30 Euro“. | |
| Drinnen: Marleen Derißen hat noch kein Brautkleid. Es ist kaum ein Jahr | |
| her, dass sie und ihr Freund Mats Welzbacher in die 3-Zimmer-Wohnung | |
| gezogen sind. Auf dem Balkon mit Blick zum großen Garten wird geraucht, | |
| auch wenn es regnet. Hier ist mehr Platz als in der Küche, die aussieht wie | |
| aus einem Katalog – sie strahlt und glänzt. Im Wohnzimmer stehen große | |
| Möbelstücke, aber kaum Nippes. Nur am Fenster gibt es einige kleine | |
| Dekoobjekte, symmetrisch nebeneinandergestellt. Welzbacher meint, er habe | |
| vor dem Hausbesuch gründlich aufgeräumt. | |
| Ruhrpott: Auch Hagen, wo er groß geworden ist, gehört zum Ruhrpott. Wie die | |
| Nachbarstadt Oberhausen, der Geburtsort seiner Freundin. Die Kultur und die | |
| Mentalität machten den Unterschied, meinen die beiden. Er, der Hagener, sei | |
| ruhig, diplomatisch und druckse oft lange herum. Sie, die Oberhauserin, sei | |
| straighter, ehrlicher, direkter und spreche klare Worte. Im Vergleich zu | |
| ihr, sagt Mats Welzbacher, schaffe er es nicht oft, Nein zu sagen. | |
| Die Erziehung: Sie ist Beamtin. Ob es das ist, was sie so streng und | |
| gradlinig macht? „Es ist die Erziehung“, antwortet sie. „Wenn mein Vater | |
| gesagt hat, um neun Uhr muss ich zu Hause sein und ich bin zwei nach neun | |
| heimgekommen, war das schon zu spät.“ Unpünktlichkeit möge sie deshalb auch | |
| heute noch nicht und sie werde sehr schnell sauer, wenn jemand sie warten | |
| lasse. Sie schaut einige Male auf die Zeiger ihrer Armbanduhr, während sie | |
| durch ihre Wohnung führt und von ihrem Job erzählt. | |
| Die Beamtin: Marleen Derißen hat Wirtschaftswissenschaften studiert. | |
| Mittlerweile hat sie einige Arbeitsstellen gewechselt. Vom Landesamt für | |
| Finanzen zur Finanzverwaltung in Nordrhein-Westfalen. Heute betreut sie die | |
| Digitalisierungsprojekte bei der Fortbildungsakademie des Landes NRW. „Ich | |
| möchte Beamtin bleiben“, sagt Derißen. „Weil ich eine Frau bin und | |
| finanziell abgesichert bleiben will.“ | |
| Pragmatisch: Drei Jahre sind die beiden ein Paar. Marleen Derißen wollte | |
| mit Mats Welzbacher schnell zusammenziehen. „Ich wollte es lieber früher | |
| ausprobieren, ob wir zusammen passen“, sagt sie. Sie wohnte damals in einer | |
| kleinen Wohnung und suchte etwas Besseres. Ihr Freund wiederum hatte sein | |
| Studium in Politik und Wirtschaft in den Niederlanden beendet und kehrte | |
| zurück. So ergab es sich, dass sie zusammenzogen. „Obwohl ich am liebsten | |
| erst das Zusammensein und dann das Zusammenwohnen getestet hätte“, sagt er. | |
| Kinderwunsch: In Essen wohnen auch andere aus der Familie, Geschwister, | |
| Eltern, Nichten, Neffen. Da sei immer was los. Derißen will zum Trubel | |
| beitragen, sie will Kinder. „Ich bin nicht mehr Anfang 20. Die Zeit läuft“, | |
| sagt sie. In den nächsten zwei, drei Jahren ist das mit dem Mutterwerden | |
| geplant. „Am besten ein Junge. So ein kleinen Mats.“ Und der große Mats ist | |
| still. „[1][Kinderwunsch habe ich] auch. Doch nicht gerade jetzt. Ich habe | |
| Hobbys in alle Richtungen.“ Das Thema ist ein heißes Eisen und kommt nicht | |
| selten auf den Tisch. Und wenn für ihn kein Kind infrage kommt? „Das wäre | |
| definitiv ein Grund zur Trennung für mich“, antwortet sie. „Am Ende ist es | |
| wichtig, dass wir beide glücklich sind.“ | |
| Emotionen im Job: Wenn nur die Arbeit nicht so sehr belastend wäre, meint | |
| Mats Welzbacher. „Ich bin zu emotional involviert in meine Arbeit. Ich | |
| kriege den Abstand nicht hin, und das macht mich fertig.“ Er arbeitet im | |
| öffentlichen Dienst im Jobcenter. „Als Arbeitsvermittler muss ich ein | |
| Vertrauensverhältnis schaffen“, so lautet seine Devise. „Die | |
| Arbeitsuchenden müssen zu mir ehrlich sein. Wenn sie mir vorlügen und nicht | |
| kooperativ sind, kann ich nichts für sie machen.“ Leider gebe es viele | |
| solcher Fälle. | |
| Sanktionieren im Jobcenter: Kund*innen werden die Arbeitsuchenden im | |
| Jobcenter genannt. Arbeitsvermittler wie Welzbacher müssen die Kund*innen | |
| in Arbeit bringen. Doch wenn sie die Zusammenarbeit verweigern, müssten sie | |
| dem Gesetz zufolge sanktioniert werden, erklärt er. Wenn sie etwa nicht zu | |
| einem vereinbarten Gesprächstermin erscheinen, werden zehn Prozent von der | |
| Grundsicherung für drei Monate abgezogen. Bestraft man die Menschen also | |
| für ihre Arbeitslosigkeit oder hilft man ihnen dabei, ihre Arbeitslosigkeit | |
| zu bekämpfen? „Wir bestrafen. Und ich bin dagegen“, sagt er. „Ich habe n… | |
| nie sanktioniert“, bekennt Welzbacher. Deswegen bekomme er aber auch | |
| „Mitteilungen“ von der Leitung. Der Druck werde von oben nach unten | |
| weitergegeben. | |
| Kritik: „Es ist auch unser Fehler, weil wir die Situationen der Menschen | |
| ohne Arbeit teilweise falsch eingeschätzt haben und oft Menschen in falsche | |
| Berufe und Umschulungen gedrängt haben“, meint er. Auch in seinem Beruf | |
| gibt es Personalmangel. Pro Vermittler*in gebe es 300 bis 350 | |
| Kund*innen. Wenn Welzbacher die Arbeitszeit rechnet, dann habe er nur ein | |
| paar Minuten Zeit für eine Person. „Dagegen findet für einen Antrag von | |
| sechs Euro ein riesen Prüfverfahren statt. Ich frage mich, wozu?“ | |
| Die andere Seite der Medaille: Dass Marleen Derißen anderer Meinung ist, | |
| zeigt ihr Gesichtsausdruck. „Mats ist der Gutmensch, doch muss er lernen, | |
| sich abzugrenzen.“ Sie weiß, wovon sie redet. Sie hat zwei Jahre eine | |
| ähnliche Arbeit im Landesamt für Finanzen gemacht. Ihre Haltung zu ihrer | |
| Kundschaft sei strenger gewesen: „Ihr habt Kinder, ihr müsst arbeiten | |
| gehen. Punkt.“ Sie mache da keine Kompromisse und habe kein Mitgefühl, wenn | |
| zum Beispiel jemand 25 Jahre als Drucker gearbeitet hat und sich nun | |
| weigert, einen Job in einer Bäckerei anzunehmen. Keine Ausnahmen? „Nur wenn | |
| die Menschen krank sind, habe ich Verständnis“, sagt sie. | |
| Harte Arbeit: Sie redet aus eigener Erfahrung. Als sie 12 Jahre alt war, | |
| fing sie an zu arbeiten. Als Türsteherin, Kellnerin, Helferin für | |
| Behinderte in Sportgruppen, später als Mitarbeiterin bei der Inventur, wo | |
| sie in einem riesigen Laden stand und die einzelnen Schrauben mit einem | |
| Gerät anpiepste. „Ich musste immer arbeiten neben meinem Studium, denn mit | |
| BAföG zu studieren war nicht leicht, wenn man keinen finanziellen | |
| Hintergrund hatte.“ Deswegen habe sie auch kein Verständnis für Menschen, | |
| die in einer Notsituation wählerisch sind oder den Sozialstaat ausnutzen | |
| wollten, weil es auf der Couch mit Hartz IV bequemer sei. „Wenn man damit | |
| glücklich ist, lass sie das machen, doch wenn Kinder dranhängen, habe ich | |
| null Verständnis.“ | |
| Perspektive: Welzbacher will nicht mehr [2][lange beim Jobcenter] bleiben. | |
| Auch wenn die Menschen sich freuen würden, wenn sie ihn am Telefon hätten. | |
| An seinen Kolleg*innen aber erkennt er: „Je länger man diesen Job macht, | |
| desto zynischer wird man.“ So weit will er es nicht kommen lassen. Er will | |
| bei der Stadt Essen arbeiten. Klimaschutzmanagement in der Kommune, das | |
| wünscht er sich für die Zukunft. Dabei soll ihm seine Fähigkeit helfen, | |
| „Menschen zuhören und sie zusammenbringen zu können“. | |
| Politik und Sport: „Ich komme aus der linken Sparte“, sagt Welzbacher. | |
| „Früher war ich gegen das gesamte System.“ Bis ins Alter von 23 Jahren war | |
| er solidarisch mit den Linken. Mittlerweile nicht mehr. Ob er | |
| kapitalistisch geworden sei? „Das würde ich nicht sagen. Ich verstehe | |
| besser, dass finanzielle Sicherheit wichtig ist, und ich stelle Ideologien | |
| und Utopien nicht mehr über alles.“ Für Fridays for Future geht er in | |
| seiner Stadt schon noch demonstrieren. Auch seine Freundin hat Sympathie | |
| für die Grünen. Früher war sie SPD-Mitglied, aber die Partei habe sie mit | |
| ihrer langweiligen Agenda genervt. Sie stehe aber sowieso mehr auf Sport | |
| als auf Politik, erzählt sie. Ihr ganzes Leben schon spiele sie Basketball. | |
| Und dabei habe sie auch ihren Mats kennengelernt. Sie sind schon ein | |
| sportliches Paar. | |
| 30 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
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