# taz.de -- Apps für Heimweg-Schutz: Wishful thinking | |
> Apps sollen Frauen vor sexueller Gewalt schützen. Doch können sie die | |
> Angst auf dem Nachhauseweg nehmen oder verschieben sie nur Verantwortung? | |
Bild: „Text me when you're home“: Hilft eine App für den sicheren Heimweg? | |
Es ist zwei Uhr nachts, ich laufe durch eine dunkle Straße. Rechts ein | |
düsterer Park. Keine Häuser, keine Laternen. Am Parkeingang ein paar | |
Männer. Sie rufen mir irgendwas hinterher. Ich senke den Kopf, laufe ein | |
bisschen schneller, umklammere mein Handy. Mein Blick fixiert Google Maps. | |
Ich bin neu in Berlin und das erste Wochenende nachts unterwegs. Als ich | |
meinen Freund:innen am nächsten Morgen von meinem Heimweg erzähle, sagen | |
sie, ich sei verrückt. „Doch nicht da am Park entlang!“ Ich fühle mich in | |
meiner Angst der letzten Nacht bestätigt. Und frage mich: Wieso sagt Google | |
Maps mir, was der schnellste Weg ist. Aber nicht, ob ich ihn als Frau auch | |
alleine gehen sollte? | |
Über sexuelle Übergriffe auf Frauen wurde in den vergangenen Monaten | |
endlich mal viel geredet. [1][Als Anfang März die Britin Sarah Everard von | |
einem Polizisten auf dem Heimweg entführt und umgebracht wird], gibt es | |
Diskussionen in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag „Text me when you | |
get home – schreib mir, wenn du zu Hause bist“. Frauen berichten von ihren | |
nächtlichen Heimwegen und Erfahrungen. [2][Im Herbst meldeten außerdem | |
Hunderte von Frauen in Großbritannien Übergriffe durch Spiking], also | |
K.-o.-Tropfen in Drinks. Im Gedränge der Clubs soll es sogar Angriffe mit | |
Spritzen gegeben haben. Frauen berichten von Einstichstellen. Die | |
Initiative „Night in“ ruft Frauen und weiblich gelesene Personen in | |
England daraufhin zum Boykott von Clubs und Bars auf. | |
[3][Am Ende solcher Debatten wird die Verantwortung, nachts sicher nach | |
Hause zu kommen, immer den Frauen zugeschoben.] Lediglich neue | |
vermeintliche Hilfsmittel werden ihnen an die Hand gegeben: Pfeffersprays, | |
Alarmknöpfe für Schlüssel oder Schutz-Armbänder, die angeblich | |
K.-o.-Tropfen im Drink nachweisen können. Und immer mehr Apps, die den | |
Heimweg von Frauen sicherer machen sollen. Aber können sie wirklich helfen? | |
## Gleichmal wieder löschen | |
Ich lade mir vier Apps herunter: „Wayguard“, „Kommgutheim“, „Vivatar�… | |
„Glympse“. Sie haben alle ein ähnliches Prinzip: Ich kann meinen Standort | |
entweder mit Freund:innen aus meinen Kontakten, mit anderen User:innen | |
der App oder mit einem Bereitschaftsteam der App teilen. Im Notfall kann | |
ich einen Knopf drücken, anrufen, meinen Standort mit der Polizei oder dem | |
Rettungsdienst teilen. Alle vier Apps sind erst mal kostenlos. Allerdings | |
kann ich bei „Vivatar“ – von Bosch entwickelt – kostenlos nur meinen | |
Standort mit Freund:innen teilen. Notruffunktion und Bereitschaftsteam | |
kosten 4,99 Euro pro Monat. Auch „Glympse“ entpuppt sich schnell als nicht | |
mehr als eine App zum Live-Standort-Teilen. | |
Deshalb lösche ich sie beide sofort wieder. Standort teilen kann ich | |
schließlich auch mit Whatsapp. Und „Kommgutheim“ funktioniert schlichtweg | |
nicht richtig. Die App stürzt ständig ab, es lassen sich keine Kontakte | |
hinzufügen und die Karte hakt. Deshalb lösche ich sie auch. Nur „Wayguard“ | |
bleibt auf meinem Handy und begleitet mich in den nächsten Wochen auf | |
meinem Heimweg. | |
Laut eigenen Angaben hat „Wayguard“ über 420.000 Nutzer:innen in | |
Deutschland und der Schweiz. Beim Öffnen der App wird das Prinzip noch mal | |
erklärt: „Du kannst dich von Freunden oder dem Team WayGuard virtuell | |
begleiten lassen, wenn du dich unbehaglich fühlst.“ Auf der Internetseite | |
stehen dazu Verhaltenstipps für Frauen auf dem Heimweg. Unter anderem: | |
Plane deinen Heimweg schon vorher. Strahle Selbstbewusstsein aus. | |
Für Carola Klein sind solche Heimweg-Apps nur eine weitere Verschiebung der | |
Verantwortung: weg vom Täter, hin zum Opfer. Klein arbeitet bei der | |
[4][Frauenberatungsstelle Lara e. V.] Täglich spricht sie mit Frauen, die | |
belästigt, verfolgt, bedroht, begrabscht, betäubt oder vergewaltigt wurden. | |
„So eine App kann eine Ergänzung sein. Aber trotzdem ist die Frau damit am | |
Ende wieder selbst dafür verantwortlich, dass ihr nichts passiert. Und das | |
kann einer Frau nicht zugemutet werden“, sagt Klein. Verlässliche Zahlen, | |
wie viele betroffene Frauen es in Deutschland genau sind, gibt es nicht. | |
Viele Vorfälle werden nicht gemeldet. | |
## Jede dritte Frau | |
Laut BKA-Statistik von 2019 ist jede dritte Frau einmal im Leben von Gewalt | |
betroffen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Ifop gibt jede | |
dritte deutsche Frau an, schon einmal auf der Straße verfolgt worden zu | |
sein. Jede zehnte Befragte berichtet, Opfer sexualisierter Gewalt auf der | |
Straße geworden zu sein. In einer Umfrage des Vereins „Plan International“ | |
zur gefühlten Sicherheit von Frauen und Mädchen in deutschen Städten wurden | |
80 Prozent der abgefragten Orte von Frauen als unsicher bewertet: suspekte | |
Personen, schlechte Beleuchtung, sexuelle Belästigung. | |
Als ich einmal nachts am Landwehrkanal in Berlin entlang nach Hause laufe, | |
stelle ich mir vor, es gäbe einen Notfall und ich bräuchte Hilfe. Ich habe | |
mein Handy in der Hand, die Wayguard-App ist geöffnet und ich teile meinen | |
Standort mit dem Team. Ich blicke auf den Notfall-Button, würde ich nach | |
rechts wischen, würde ich ihn auslösen. Mein Handy würde jemandem in der | |
Zentrale anrufen und mein Standort könnte an die Polizei oder | |
Rettungsdienste weitergeleitet werden. So soll möglichst schnell Hilfe | |
kommen. So also die Theorie, doch wie sieht es in einer akuten Not aus? | |
„Die Täter schlagen den Frauen die Handys aus der Hand“, erzählt Carolina | |
Klein. Viele junge Frauen würden ihr davon berichten. Deshalb trügen sie | |
kein Handy, sondern zum Beispiel eine leere Bierflasche in der Hand. Aber | |
die meisten Frauen, sagt Klein, erstarrten sowieso vor Angst, wenn sie | |
angegriffen werden. Klein erzählt auch von den K.-o.-Tropfen, den | |
sogenannten rape drugs. Vergewaltigungsdrogen. Sie seien neben häuslicher | |
Gewalt das größte Problem. Und es würde auch in Deutschland mehr werden. | |
Das betreffe dabei nicht nur junge Frauen in Clubs, sagt Klein. Sogar bei | |
Geschäftsessen würden Frauen K.-o.-Tropfen ins Glas gekippt. Vor sexuellen | |
Übergriffen sei man mit einer App nicht geschützt. | |
Die Heimweg-Apps fordern alle ähnliche Daten beim Anmelden: Name, | |
Telefonnummer, Geburtsdatum, Adresse, Zugriff auf Standort, Kontakte, | |
Bluetooth und einmal sogar auf das Mikrofon. In einigen Apps kann man sich | |
direkt mit dem Facebook-, Google- oder Apple-Konto anmelden. Die größte | |
Heimweg-App Wayguard ist kostenlos, wird aber von der Axa-Versicherung | |
bezahlt. Es braucht die Einwilligung zur Datenschutzerklärung, eine zweite | |
Option würde erlauben, Werbung für Axa-Produkte an mich zu schicken. | |
Datenschutzexperte Gerd-Jürgen Golze rät auch bei Begleit-Apps wie Wayguard | |
zu einem Blick in die jeweilige Datenschutzerklärung. Dabei werde schnell | |
klar: „Das Geschäftsmodell ist auch hier oft Werbung. Logisch. Irgendwie | |
muss sich eine kostenlose App ja finanzieren.“ | |
## In einem Berliner Club | |
Geht es denn auch ohne Apps? Google Maps arbeitet an einer Funktion, die | |
Wege sicherer machen soll. „Lighting“ ist eine integrierte Funktion. Gelbe | |
Linien sollen gut ausgeleuchtete Strecken auf der Route markieren. Im | |
Dezember 2019 erklärte Google, das Feature werde noch getestet. Seitdem | |
gibt es keine Info, wann das Feature live gehen soll. US-amerikanische | |
Medien berichten, Google scheitere an der Sammlung und Aktualisierung der | |
Daten. Auf Nachfrage, wie es um das Lighting-Projekt steht, will Google | |
keine Informationen preisgeben. | |
Eine weitere Nacht in einem Berliner Club. Bei einer Zigarette erzählt ein | |
Freund von der iPhone-Funktion „Notruf SOS“. Drei Mal kurz hintereinander | |
den Power-Button gedrückt, sendet das Handy automatisch einen Notruf an | |
Rettungskräfte und vorher eingestellte Notfall-Kontakte, mit aktuellem | |
Standort. Eigentlich genau das, was eine Heimweg-App auch macht, nur ohne | |
zusätzliche App. Was viele Frauen auch nicht wissen: Es gibt schon lange | |
ein [5][ehrenamtliches Heimweg-Telefon]: (030) 12 07 41 82. | |
Deutschlandweit, Sonntag bis Donnerstag 20 bis 24 Uhr. Und Freitag und | |
Samstag von 22 bis 4 Uhr. Ganz ohne App und ohne Datenschutzerklärung. | |
Für Carola Klein sind die Apps eine gute Ergänzung, aber die Lösung müsse | |
eine andere sein: mehr Licht in Städten und weniger dunkle Wege, mehr Fokus | |
auf die Täter. [6][Den Frauen müsse seitens der Polizei mehr Vertrauen | |
entgegengebracht werden], sie dürfen sich nicht rechtfertigen müssen, wenn | |
sie Hilfe rufen. Nur wenn die Opfer ernst genommen würden, könne „den | |
Frauen endlich die Verantwortung genommen werden.“ | |
Ich lösche die Apps wieder von meinem Handy. Sicherer habe ich mich mit | |
ihnen nicht gefühlt, meine Angst konnten sie mir nicht nehmen. Nicht mehr | |
zumindest als das, was ich auf dem Heimweg eh schon immer tue: Parks | |
meiden, Schlüssel zwischen die Finger klemmen, mit einem guten Freund | |
telefonieren und meinen Standort mit Freund:innen teilen. Und ihnen | |
schreiben, wenn ich zu Hause bin. | |
30 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Tod-von-Sarah-Everard/!5755122 | |
[2] /K-o-Spritzen-in-britischen-Clubs/!5806571 | |
[3] /Gewalt-gegen-Frauen/!5760234 | |
[4] https://lara-berlin.de/home | |
[5] https://heimwegtelefon.net/helfen/ | |
[6] /Gewalt-gegen-Frauen/!t5014588 | |
## AUTOREN | |
Luisa Thomé | |
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