# taz.de -- Pädagogin über ihre Arbeit: „Das Leben anpacken“ | |
> Cläre Bordes ist seit 50 Jahren pädagogisch in Hamburg tätig. Ein | |
> Gespräch über den Apparat Schule und unvergessliche Momente. | |
Bild: Seit 50 Jahren pädagogisch tätig: Cläre Bordes | |
taz: Frau Bordes, wir sitzen in der neuen Mediathek der Stadtteilschule | |
Stellingen, Sie sind pensioniert, aber hier tätig … | |
Cläre Bordes: Ich bin im Sommer 2016 pensioniert worden, also vor fünf | |
Jahren. Dieses Jahr bin ich 70 geworden, aber fühle mich nicht so. Ich | |
freue mich, dass ich hier weiter pädagogisch tätig sein kann und vor allem, | |
dass ich weiter mit jungen Menschen zusammenarbeite. | |
Was ist denn Ihr Status? | |
Ich bin Wettbewerbsleiterin, angedockt als Honorarkraft der | |
Bildungsbehörde, weil ich zwei Schulwettbewerbe leite: den „PaintBus“ und | |
den Fotowettbewerb ‚… Sucht.Motiv‘, an dem sich Schülerinnen und Schüler | |
aus allen Schulen Hamburgs beteiligen können. Und ich arbeite weiterhin an | |
dieser Schule mit, an der ich im Jahr 2000 angefangen habe: wie zuletzt im | |
Öffentlichkeitsbereich. Ohne Honorar, einfach ehrenamtlich. Ich habe 1971 | |
mein Studium begonnen und bin 1974 im Schuldienst gestartet. Das heißt: Ich | |
bin seit 50 Jahren pädagogisch unterwegs. | |
Wie wird man Lehrerin? | |
Das hat erst mal eine persönliche Ausrichtung: Meine Eltern sind beide | |
Friseurmeister gewesen; wir waren vier Kinder, und wir waren immer arm, | |
kein Auto und so weiter. Aber mein Vater und meine Mutter hatten folgende | |
Philosophie: „Wir nehmen Auszubildende, die keinen Schulabschluss haben und | |
geben ihnen eine Chance.“ Wir wohnten auf der Uhlenhorst, benachbart war | |
die Schule Imstedt, damals eine Sonderschule. Und so haben meine Eltern von | |
dort junge Menschen im Alter von 14, 15 Jahren als Auszubildende | |
eingestellt, Anfang der 1960er Jahre. Wir Kinder haben ihre Schicksale | |
mitbekommen, wir lernten, warum Kinder so sind, wie sie sind, schon damals | |
habe ich erfahren, dass es Missbrauch gibt. Sie haben im Geschäft unserer | |
Eltern ihren Gesellenbrief gemacht, konnten so ihren Schulabschluss | |
nachholen – ohne den pädagogischen Einfluss meiner Eltern wären diese | |
jungen Menschen nicht dahingekommen, wohin sie kamen. | |
Und Sie selbst? | |
Ich bin in der christlichen Jugendbewegung sozialisiert worden, schon im | |
Kindergartenalter. Dann kam die Jungschar, dann kamen die Pfadfinder, ich | |
war im Kirchenchor, hab Musik gemacht – ich war also immer in Gruppen | |
unterwegs und kenne von früh auf dieses Wohlgefühl, etwas erreicht zu haben | |
und etwas bewirken zu können. Dazu dann folgten die Austauschaufenthalte, | |
denn meine Eltern haben Wert darauf gelegt, dass auch ihre Kinder raus in | |
die Welt zogen. So war ich das erste Mal mit 13 Jahren in England und zu | |
uns kam ein Mädchen aus England und nächstes Jahr noch mal, weil es so toll | |
war. Schüleraustausche, das gab es noch gar nicht so richtig Anfang der | |
1960er Jahre. Mein Vater hat auch viel geschrieben, hat nach der | |
Pensionierung am Theater gearbeitet, wie meine Mutter auch. Erst am | |
Ernst-Deutsch-Theater, später unter Zadek am Schauspielhaus, hatte auch | |
Sprechrollen. Meine Eltern waren große Vorbilder, von denen ich gelernt | |
habe, das Leben anzupacken und etwas draus zu machen. | |
Wussten Sie von Anfang an: „Ich werde Lehrerin“? | |
Oh, gar nicht. Ich hatte großes Interesse an Biochemie, ich hatte eine Art | |
Onkel, der war Mediziner, er hat die Apotheke im Heidberg-Krankenhaus | |
geleitet. Ich wollte auch Goldschmiedin werden, habe später den großen | |
Maschinenschein erworben und folgerichtig auch das Fach Arbeitslehre | |
unterrichtet. Dann gab es noch mein Interesse für Meeresbiologie, ich bin | |
auch Seglerin, habe Hochseesegeln gemacht und eigentlich hätte ich auch | |
Lust gehabt, Kunst zu studieren … | |
Wie war Ihre eigene Schulzeit? | |
Meine Grundschulzeit war so gar nicht erfreulich, weil wir eine | |
Nazi-Lehrerin hatten. Erst jetzt tausche ich mich mit einer ehemaligen | |
Mitschülerin über diese Zeit aus, denn ich habe vieles verdrängt, vieles | |
vergessen. Die wenigen Momente, die ich erinnere, sind gewaltbetont: | |
Schläge auf den nackten Hintern, wir hatten einen Vorhang in der Ecke, | |
hinter den man sich stellen musste, wenn man bestraft wurde. Als die | |
Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium anstand, hat diese Lehrerin gesagt: ‚Also | |
Cläre – Gymnasium geht gar nicht.‘ Mein Vater aber hat mich bei der Prüfu… | |
angemeldet, die ich bestanden habe. Und meine Lehrerin: ‚Also, das verstehe | |
ich überhaupt nicht …‘ Ich habe diese Lehrerin übrigens noch lange besuch… | |
bis zu ihrem Tod. Einfach um ihr zu zeigen: Aus uns wird etwas! | |
Und nach der Grundschule? | |
Ich kam an die heutige Helmuth-Hübener-Schule und hatte das Glück, dass | |
dort ein sozialkundlicher Zweig eingerichtet wurde, 1964, 65 war das. Unser | |
Lehrer, Dr. Grassmann, kam frisch von der Uni und hat sehr auf soziales | |
Lernen gesetzt. Er hat mit uns Projektwochen durchgeführt, wir konnten | |
Schulpraktika absolvieren, Betriebe besuchen, haben etwa hautnah den | |
Strafvollzug kennengelernt. Das alles ist heute selbstverständlich, aber | |
damals gab es das sonst in Hamburg nicht. | |
Sie haben vermutlich in Hamburg studiert? | |
Ich bin Urhamburgerin, fühle mich hier sehr verwurzelt, wobei ich auch gern | |
in der Welt bin; Sarajewo etwa ist meine zweite Heimat geworden. Jedenfalls | |
habe ich Germanistik und Pädagogik studiert, auch Psychologie. Habe aber | |
das kürzeste Studium gewählt – ich wollte schnell Geld verdienen, ich | |
wollte auch eine Familie gründen. Also habe ich sechs Semester studiert, | |
ganz kurz. Dann Referendariat, da war ich 22. Ich habe mich gewehrt, | |
Realschullehrerin zu sein, ich war immer Hauptschullehrerin. | |
Wie sind Sie mit dem Apparat Schule zurechtgekommen? | |
Den muss man teilweise ausblenden, wenn man projektorientiert unterrichtet. | |
Man darf das gar nicht sagen, aber ich habe die Lehrpläne nicht weiter | |
angeguckt. Ich habe geschaut: Was ist das Thema? Und dann habe ich | |
überlegt, was kann man mit Schülerinnen und Schülern dazu machen. Mich | |
haben manchmal Kollegen gefragt: „Wieso gehen bei dir 70 Prozent in die | |
Oberstufe?“ Ein Erlebnis, das mir grad einfällt, da war ich noch im | |
Referendariat: Ich ging an den Klassen vorbei, eine Tür flog auf, eine | |
Lehrerin schubste einen Schüler auf den Flur, sodass er hinfiel und brüllte | |
ihn an: ‚Ich will dich nie wieder sehen!‘ Da war ein kurzer Moment, wo ich | |
mich fragte: Willst du wirklich an der Schule arbeiten? | |
Neben vielen Projekten haben Sie sich besonders für Schulen in Bosnien | |
engagiert. Wie kam es dazu? | |
Ich hatte einem meiner Schüler, der während des Bosnienkrieges mit | |
anderthalb Jahren an der Hand seiner Mutter sein Dorf zu Fuß verlassen | |
hatte, eine Videokamera mitgegeben, als er in den Ferien sein Heimatdorf | |
besuchte. Mit der Bitte: „Film dein Bergdorf, filme deine Großeltern.“ Er | |
brachte ein einstündiges Dokument des zerstörten Bergdorfes mit, er hatte | |
seine Großeltern interviewt, und er zeigte uns die dortige Schule: Das | |
UNHCR hatte einen Container bereitgestellt, jeder brachte morgens seinen | |
Stuhl mit, in der Ecke stand ein kleiner Ofen. Die Kinder hatten oft keine | |
Schuhe, keine Brillen. Und er brachte einen Aufruf der dortigen | |
Schulleitung mit: „Helft uns!“ Darin war jedes Kind mit Gewicht, mit Größ… | |
mit seinem Alter aufgeführt. Und meine Zehnjährigen haben morgens im | |
Stuhlkreis beschlossen: „Wir helfen Samirs Dorf.“ Er studiert jetzt | |
übrigens Höheres Lehramt und will irgendwann wieder nach Bosnien. | |
Wie ging es damals weiter? | |
Samirs Mitschüler haben über Monate Geld und vor allem Hilfsgüter | |
gesammelt, bis der Klassenraum voll war. Mein Schulleiter hat gefragt: „Wie | |
wollt ihr denn das nach Bosnien kriegen?“ Zum Glück hat sich auf einen | |
Aufruf hin das Technische Hilfswerk gemeldet, denn wir brauchten einen Lkw | |
und damit kannten die sich aus. Also bin ich drei Jahre lang in den | |
Sommerferien mit Oberstufenschülern, Kollegen und jeweils immer zwei | |
Schülern aus meiner Klasse mit dem THW in Samirs Bergdorf gefahren – was | |
wir da erlebt haben, das sind unvergessliche Momente. | |
Mit Folgen, oder? | |
Ich war damals mit zuständig für Schüleraustausche, und anvisiert war ein | |
Austausch mit Australien, denn da waren auch meine Kinder gewesen. Aber nun | |
sagte ich: „Nee – es geht nicht nach Australien, es geht nach Bosnien.“ In | |
ein Nachkriegsland! Da waren die hier erst mal richtig sauer, 2005 war das. | |
Seitdem fahren jedes Jahr 16 Schülerinnen und Schüler unserer | |
Stadtteilschule nach Sarajewo und 16 aus Sarajewo kommen nach Hamburg. Es | |
ist wunderbar, dass ich diesen Austausch an zwei junge Kolleginnen | |
übergeben konnte, die das mit Herzblut weitermachen. | |
Gibt es neue Projekte, an denen Sie stricken? | |
Es gibt in dem Sinne keine neuen Projekte. Ich bereite gerade die nächste | |
Runde des Paint-Busses vor und freue mich darauf, den nächsten | |
Fotowettbewerb wieder zu leiten. Ansonsten stehen weitere Reisen nach | |
Island und in die Arktis an. | |
Was zieht Sie in die Arktis? | |
Die Einsamkeit, die Leere, die aufregenden Farben – aber auch die Energie | |
dieser Landschaft. Ich habe über viele Jahre schamanische Wanderungen in | |
Cornwall mitgemacht, mit Musik und Stille, ich bin auch eine absolute | |
Naturfrau. Wenn du durch Schweden fährst, immer weiter nach Norden, durch | |
Norwegen und Finnland und dann stehst du an der Barentssee, begegnest der | |
Kultur der Sami, das ist ein Gefühl, schwer zu beschreiben. Da wird man | |
geerdet, da fühlt man sich selbst, das bringt einen so richtig runter. | |
1 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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