# taz.de -- Bestseller über Entscheidungsfähigkeit: Kaum Verlass auf die Urte… | |
> „Noise“ verzerrt menschliche Entscheidungen. Nobelpreisträger Daniel | |
> Kahneman zeigt, was Entscheidungsrhythmen verbessert. | |
Bild: Zahlreiche Faktoren spielen bei der Entscheidungsfindung eine Rolle | |
Und weil der Mensch ein Mensch ist und keine Maschine, pflegt er oft zu | |
irren. Menschen haben vorgefasste Haltungen zur Welt, die ihre Urteile | |
beeinflussen; sie haben Körper, deren Befindlichkeiten sich unbemerkt auf | |
Entscheidungen auswirken; sie unterliegen Stimmungsschwankungen und | |
verschiedenen Tagesformen. | |
Bei Ersterem handelt es sich um [1][Bias], vulgo Vorurteile. Bias trägt | |
dazu bei, dass in den USA mehr dunkel- als hellhäutige Menschen zu langen | |
Gefängnisstrafen verurteilt werden, und Bias führt dazu, dass Menschen mit | |
fremdländisch klingenden Nachnamen in Deutschland überdurchschnittliche | |
Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche haben. Bias ist relativ gut | |
erforscht. | |
Es gibt daneben aber noch zahlreiche andere Faktoren, die menschliche | |
Entscheidungen verzerren und die dazu führen, dass in praktisch jedem | |
Bereich, in dem eine Entscheidung oder Beurteilung getroffen werden muss, | |
eine große Streuungsbreite von Ergebnissen festzustellen ist. | |
Das betrifft Gerichtsurteile ebenso wie medizinische Diagnosen, | |
Wetterprognosen, Leistungsbewertungen oder Versicherungsleistungen. Und | |
natürlich betrifft es geschäftliche Entscheidungen innerhalb von | |
Unternehmen. Dieses breitgestreute Grundrauschen, Noise genannt, haben | |
Daniel Kahneman und seine Co-Autoren Olivier Sibony und Cass R. Sunstein | |
jetzt erstmals umfassend beschrieben. | |
## Nicht identisch mit sich | |
Noise hat viele Ursachen und liegt, sehr allgemein gefasst, darin | |
begründet, dass Menschen verschieden und auch mit sich selbst nicht von | |
einem Tag zum anderen hundertprozentig identisch sind. | |
Die Autoren führen frappierende Noise-Beispiele aus sehr verschiedenen | |
Bereichen an. So berichten sie etwa über eine Studie über die Urteile von | |
Asylrichtern. Dabei „kam heraus, dass ein Richter 5 Prozent der | |
Asylsuchenden anerkannte, während ein anderer 88 Prozent anerkannte. Der | |
Titel der Studie sagt alles: ‚Flüchtlingsroulette‘.“ (Im übrigen fallen | |
Gerichtsurteile grundsätzlich strenger aus, wenn RichterInnen hungrig sind, | |
Verhandlungen also etwa kurz vor der Mittagspause stattfinden.) | |
Eine Studie, die sich mit medizinischer Diagnostik befasste, brachte | |
zutage, dass bei der Begutachtung von [2][Mammografie-Aufnahmen] zwar | |
manche ÄrztInnen fast jeden Fall von Brustkrebs richtig diagnostizierten, | |
andere dafür aber in mehr als der Hälfte der Fälle irrten. Und sogar in als | |
absolut eindeutig geltenden Disziplinen wie der kriminalistischen Forensik | |
gibt es ein bedenkliches Grundrauschen. | |
Der britische Kognitionswissenschaftler Itiel Dror untersuchte in mehreren | |
Studien, ob auch bei der Auswertung von Fingerabdrücken sogenanntes | |
Occasion Noise vorkommt. Der Begriff bezeichnet das Phänomen, dass ein und | |
dieselbe Person dieselben Fragestellungen nicht immer gleich entscheidet, | |
sondern je nach Gelegenheit möglicherweise unterschiedliche Einschätzungen | |
vornimmt. | |
## Zweimal derselbe Fingerabdruck | |
In nicht vorher bekanntgegebenem zeitlichem Abstand wurde den an der Studie | |
teilnehmenden ExpertInnen zweimal derselbe Fingerabdruck zur Analyse | |
vorgelegt – das erste Mal ohne, das zweite Mal mit darüber hinausgehenden | |
fiktiven, den Fingerabdruckinhaber entlastenden Informationen. (Tatsächlich | |
werden auch im kriminalistischen Alltag oft solche Informationen an die | |
Forensik weitergegeben.) | |
Das Ergebnis fiel erschreckend aus: „In der ersten Studie änderten vier von | |
fünf Experten ihre frühere Identifikationsentscheidung, als sie starke | |
kontextuelle Informationen erhielten.“ | |
„Noise ist ein unsichtbarer Feind“, schreiben die Autoren. Ein | |
entscheidungsverzerrendes Grundrauschen ist schwieriger zu fassen als Bias, | |
da es ganz verschiedene, zudem auch völlig zufällige Ursachen haben kann. | |
Doch gibt es durchaus Wege, Noise zu reduzieren, was allerdings | |
voraussetzt, sich dessen Existenz bewusst zu sein. Kahneman & Co. empfehlen | |
Unternehmen und Organisationen, ein „Noise Audit“ durchzuführen, und geben | |
dazu auch konkrete Hinweise und Hilfen. | |
Tatsächlich gibt es ein paar einfache Methoden der Noise-Reduzierung (neben | |
dem Einsatz von Algorithmen, die zwar auch ihre Tücken haben, aber | |
zumindest bei einfachen Sachentscheidungen durchschnittlich besser | |
abschneiden als Menschen). | |
## Ich und die Gruppe | |
Gruppenentscheidungen sind zum Beispiel extrem anfällig für Noise. Das | |
lässt sich minimieren, wenn die Entscheidungen nicht in offener Diskussion | |
gefällt werden, sondern jedes Mitglied der Gruppe die Möglichkeit hat, | |
allein zu seinem persönlichen Urteil zu kommen. Aus allen individuellen | |
Einschätzungen kann ein einigermaßen gerechter Mittelwert gebildet werden. | |
Ein noch besseres/gerechteres Ergebnis kommt dann zustande, wenn alle | |
Begründungen für die individuellen Ansichten öffentlich gemacht werden und | |
anschließend eine weitere geheime Entscheidungsrunde absolviert wird. | |
Diese Methode bildet im Kleinen die sogenannte „Weisheit der Menge“ nach, | |
ein faszinierendes Phänomen, das 1907 zum ersten Mal gezielt erfasst wurde: | |
Von 787 Bewohnern eines englischen Dorfes, die damals gebeten wurden, das | |
Gewicht eines Ochsen zu schätzen, traf zwar keine einzige Person genau den | |
richtigen Wert. Der Mittelwert aller Schätzungen aber lag lediglich um ein | |
Kilo daneben. | |
14 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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