| # taz.de -- Wladimir Kaminers Zukunftsversion: Hey Kids, wie gehts weiter? | |
| > Die Welt von morgen schon heute: Die Kinder von Wladimir Kaminer | |
| > berichten aus der Zukunft. Ist da für einen Vater wie ihren noch Platz? | |
| Bild: Und der Zukunft zugewandt: Fahrraddemo auf der gesperrten Autobahn | |
| Wir sitzen mit Mama und den Kids auf dem Balkon, Vorderhaus, erster Stock. | |
| Das Wetter ist perfekt, nicht zu kalt und nicht zu heiß. Das vegane | |
| nepalesische Restaurant im Erdgeschoss ist knackevoll, der Geruch von | |
| gekochten Teigtaschen, Ananas und Desinfektionsmitteln drängt in die | |
| Wohnung. | |
| Lustige Gesichter lächeln uns von den Straßenlaternen und Bäumen zu, sie | |
| wollen uns in die Zukunft führen, die nebelig ist. Deswegen [1][formulieren | |
| sie auf ihren Plakaten möglichst undeutlich]: Respekt, Kompetenz, | |
| Sicherheit, aber normal, sozial gerecht aufstocken, zurück zur Normalität, | |
| gemeinsam in die Zukunft. Direkt vor meinem Balkon steht etwas über die | |
| Autobahn 100. Wollen sie den Ausbau beschleunigen oder verhindern? | |
| Meine Kindheit und Jugend fand unter solchen nichtssagenden Plakaten statt. | |
| Sie waren eine immer präsente Requisite, die uns im Alltag begleitete. Sie | |
| hingen das ganze Jahr über an den Geschäften und Hausfassaden: mutig in die | |
| Zukunft, unser Ziel ist Kommunismus, Streichhölzer sind kein | |
| Kinderspielzeug, Fünfjahresplan in vier Jahren. | |
| Niemand hat sie kritisch hinterfragt, niemand regte sich auf: Warum sollten | |
| wir diesen mysteriösen Fünfjahresplan in vier Jahren schaffen, und was | |
| machen wir dann das ganze fünfte Jahr? Autobahn ausbauen? Allen war klar, | |
| unsere Regierenden taten nur so als ob. Sie wollten die Welt nicht wirklich | |
| umbauen, vor allem aber mussten wir, Bürger, nichts tun, nur loyal sein und | |
| optimistisch grinsen. Es war nicht alles gut damals, aber irgendwie | |
| entspannter war es schon. | |
| ## Hey Kids, wie sieht die Zukunft aus? | |
| Heute leben wir in einer sehr komplexen Welt, die Angst macht. Die | |
| industrielle Ökonomie mit ihrem vorgegebenen Lebenslauf („Du gehst einmal | |
| studieren und arbeitest bis zum Rentneralter“) liegt im Ruin. Alte | |
| politische Parteien stecken in der Krise, die Familie wird umstrukturiert. | |
| Die Jugend zieht es vor, alles Mögliche gleichzeitig zu studieren, in | |
| Projekten zu arbeiten und in Kollektiven zu leben. Beinahe täglich | |
| entstehen neue Identitäten, neue Gender, neue soziale Rollen. | |
| Millionen Menschen sind unterwegs, sie vermuten ausgerechnet in Deutschland | |
| einen besseren Ort, bringen ihre Kulturen, ihre Religionen, Bakterien, | |
| Viren mit. Dazu spielt das Klima verrückt. Die Menschen von den Plakaten | |
| wollen beruhigend wirken: Lehnt euch zurück in den Sessel, ihr braucht uns | |
| nur zu wählen, wir schaffen das, niemand bleibt im Regen stehen, | |
| vorausgesetzt, wir werden Minister. Natürlich sind das leere Versprechen. | |
| Die Plakate kennen die Zukunft nicht – aber die Kids. Immerhin werden sie | |
| diese Zukunft aufbauen. | |
| Hey Kids, wie sieht die Zukunft aus? Wird die Autobahn aus- oder abgebaut?, | |
| fragte ich auf dem Balkon. Du wirst dich wundern, Papi, lachten sie. Wir | |
| werden die Autobahn 100 um die Stadt mächtig ausbauen, mit zehn | |
| Fahrradstreifen in beiden Richtungen, Autos müssen raus aus der Stadt auch | |
| [2][die selbstfahrenden Elektroautos] werden sich nicht durchsetzen, sorry, | |
| so viel Strom haben wir nicht. Die Parteien werden abgeschafft, tut uns | |
| leid für die Menschen auf den Plakaten, die Bürgerinnen und Bürger werden | |
| das Regieren übernehmen. | |
| Das Amt der Bürgermeisterin wird jedes halbe Jahr von einer anderen | |
| Bürgerinitiative besetzt – in der alphabetischen Reihenfolge von ALvonSo | |
| (Arabische Lesben von Sonnenallee) bis Zynische Tierfreunde e. V. In leer | |
| stehende Büroräume und ehemalige Gewerberäume des Einzelhandels ziehen | |
| Berliner Kommunen, Menschen, die sich nach Interessengruppen zusammentun | |
| und ihre „Wohn- und Arbeitsbüros“ als alternative Lebensentwürfe | |
| verwirklichen. In die Betonklötze der leeren Parkhäuser und in die | |
| pleitegegangenen Einkaufspassagen, die zu Kollateralschäden der | |
| Internetökonomie wurden, ziehen Landwirte ein, die Gemüse und Kunstfleisch | |
| ökologisch gerecht anbauen. | |
| ## Eine ruhmvolle Zukunft für die Berliner Küche | |
| Die unzähligen Fitnessstudios werden zu freiwilligen Stromerzeugungsstätten | |
| umgebaut, wo die Menschen an Geräten trainieren, die gleichzeitig Strom für | |
| die Stadt (nicht für Autos!) produzieren können. Der Berliner Flughafen | |
| wird geschlossen. Wenn Gott wollte, dass die Menschen fliegen, hätte er | |
| ihnen Flügel gegeben. | |
| Die Hertha BFC spielt erfolgreich in der Frauenfußball-Bundesliga, in der | |
| Mitte der Tabelle, behauptet sie sich sogar gegen die BorussInnen Dortmund | |
| und WerderInnen Bremen. Aufgrund sinkender Einschaltquoten werden Männer | |
| etliche Sportarten zugunsten der Frauen aufgeben und sich auf Dart, | |
| Gymnastik mit Band und Synchronschwimmen konzentrieren. | |
| Die Berliner Küche hat eine ruhmvolle Zukunft, sie ist überall auf der | |
| Welt, aber besonders in China hochgeschätzt. Die Deutschen werden | |
| paneurasisch kochen. Ein typisches Gericht wird die Berliner Pho-Suppe | |
| sein mit Falafelnudeln und Tofu-Currywurst. Die türkischen Läden bieten | |
| fleischfreie Döner mit Melone und Salat an, die Russen drehen Russian | |
| Sushi: Reistaschen mit Salzgurke und Schnaps. | |
| Und ich? Was mache ich in dieser Welt? Nichts, meinten die Kinder. Du sitzt | |
| weiter auf dem Balkon und erzählst, dass früher alles besser war. | |
| 19 Sep 2021 | |
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