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# taz.de -- Ukrainische Behörden im Clinch: Bizarre Jagdszenen in Kiew
> In der Ukraine hat die Antikorruptionsbehörde versucht, dem
> Inlandsgeheimdienst einen Ex-Richter abzujagen. Der Fall wirft viele
> Fragen auf.
Bild: Chef der ukrainischen Antikorruptionsbehörde Nabu: Artem Sytnik
Kiew taz | Es war eine wilde Verfolgungsjagd auf Kiews Straßen.
[1][Dienstwagen der ukrainischen Antikorruptionsbehörde Nabu jagten
dunkelgraue VW-Busse] mit getönten Scheiben. Bei der Jagd wurde ein
Motorradfahrer verletzt, die Verfolgten versuchten die Angreifer
abzuschütteln, indem sie mit einem VW-Bus die Straße sperrten.
Doch die Verfolgten waren keine korrupten Geschäftsleute, sondern Beamte
des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU. Und sie waren vor ihren
Verfolgern auch dann noch nicht in Sicherheit, als sie den Parkplatz ihres
Büros in Kiew erreicht hatten.
Ohne lange zu fragen oder sich von der Wache abschütteln zu lassen, drangen
die Fahrzeuge des Nabu auf das SBU-Gelände und versuchten, ihnen einen
Gefangenen, den Ex-Richter Mykola Tschauss, zu entreißen. Doch bald mussten
sie ohne diesen das Gelände verlassen.
Wenige Stunden zuvor war in dem ukrainischen Dorf Masurowka unweit der
moldauischen Grenze ein halbnackter, verschmutzter und hungriger Mann
aufgetaucht. Er sei entführt worden, hatte er dem lokalen Bürgermeister
gesagt, und bitte um Essen und Polizeischutz.
## Zwei Behörden streiten sich um den gleichen „dicken Fisch“
„Als der Mann, der keine Papiere bei sich hatte, sagte, er sei Mykola
Tschauss, reagierte die Polizei schnell. Der Inlandsgeheimdienst SBU eilte
herbei, und dann ging es per Hubschrauber nach Kiew. Doch nun interessierte
sich auch eine andere Behörde für den „dicken Fisch“, so die Ukrajinska
Prawda.
Tschauss müsse sich wegen Korruption verantworten, so die Nabu. Und
deswegen müsse man Tschauss der Nabu überstellen. Tatsächlich war dieser
2016 angeklagt worden, weil er hundertfünfzigtausend Dollar von einer
Rentnerin angenommen haben soll, der er dafür eine Bewährungsstrafe
zugesichert habe.
Doch beim SBU, der dem ukrainischen Präsidenten untersteht, dachte man gar
nicht daran, der Forderung der unabhängig von der Regierung tätigen Nabu
nachzukommen. Und so begann die wilde Jagd durch Kiew, kaum dass dort die
Ankunft von Tschauss bekannt geworden war.
Es ist eigentlich nicht verständlich, warum sich die Behörden für den
„dicken Fisch“ Tschauss, der als Richter eigentlich nur eine kleine Nummer
war, so sehr interessieren. Zwar hatte er in einigen Fällen gegen Anhänger
des Maidan entschieden. Doch wäre nicht der Korruptionsfall vom August 2016
gewesen, würde sich der 54-Jährige am Gericht des Kiewer Rayons Dneprowsk
wahrscheinlich heute schon ausrechnen, wie lange er noch bis zu seiner
Pensionierung arbeiten müsse.
## Der Ex-Richter berichtet von Entführungen
Doch während 2016 die Ermittlungen liefen und man eine Aufhebung der
Immunität durch das Parlament abwarten musste, war Tschauss plötzlich wie
vom Erdboden verschluckt. Wenig später meldete er sich aus dem Nachbarland
Moldau. Nein, freiwillig sei diese Reise 2016 nach Moldau nicht gewesen,
erklärte Tschauss in einer Videonachricht am 17. Mai dieses Jahres. Das sei
eher eine Entführung gewesen.
Kurz nachdem die Behörden Moldaus den Asylantrag von Tschauss abgelehnt
hatten, wurde er am 3. April 2021 in der moldauischen Hauptstadt Chișinău
erneut entführt. Die moldauischen Behörden sind sich sicher, dass diese
Entführung auf das Konto ukrainischer Geheimdienste geht, berichtet das
ukrainische Radio Hromadske unter Berufung auf den moldauischen
Generalstaatsanwalt Alexander Stojanoglo.
Viele Fragen bleiben offen. Wo war Tschauss zwischen seiner Entführung am
3. April und dem 30. Juli, dem Tag seines Auftauchens in dem Dorf
Masurowka? Warum war er an diesem Tag halbnackt und ausgehungert? Die
Ukrajinska Prawda berichtet, die Ehefrau von Tschauss vermute, hinter der
Entführung von 2016 in die Republik Moldau stünden Personen aus dem Umfeld
des damaligen Präsidenten Petro Poroschenko.
Gleichzeitig beruft sich die Ukrajinska Prawda auf Gesprächspartner in der
Administration des jetzigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, denen zufolge
Tschauss von einer Einheit des Geheimdienste 2016 nach Moldau entführt
worden sei. Sevgil Musaieva, Chefredakteurin der Ukrajinska Prawda,
verurteilt das staatliche Vorgehen. „Kidnapping ist ein Verbrechen in allen
Staaten der zivilisierten Welt. Und bei uns sind offizielle Strukturen des
Staates für Kidnapping verantwortlich.“
„Was hier passiert ist, ist wirklich hollywoodreif“ erklärt der Anwalt von
Tschauss, Rostislaw Krawez. Mehr wolle er nicht zu den Details der
Entführung seines Mandanten sagen, fürchte er doch weiter um dessen Leben.
Auch seinen Aufenthalt in der Ukraine wolle er nicht preisgeben. Doch
längst gehe es nicht nur um das Schicksal seines Mandanten. „So etwas
zerstört nicht nur das Vertrauen in die Rechtsschutzorgane, es zerstört das
Vertrauen in den Staat als solchem“, erklärte der Anwalt in einer
Videobotschaft am Montag. Nun gelte es, das Image der Ukraine zu schützen.
Auch der Politologe Wiktor Taran fürchtet auf gordonua.com um einen
Imageschaden für die Ukraine. Nun wisse jedermann, dass sich Mykola
Tschauss jetzt tatsächlich in der Ukraine aufhalte. Und das wisse man auch
in Moldau. So sei es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die ersten
diplomatischen Noten aus Moldau und den USA in der Ukraine einträfen.
3 Aug 2021
## LINKS
[1] https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=2999194106992922&id=1612729…
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Ukraine
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Moldau
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