# taz.de -- Die Wahrheit: Vincent und die Bürsteninvasion | |
> Wie der weltberühmte Impressionist Vincent van Gogh einmal ein | |
> beeindruckendes Gemälde nicht vollenden mochte. | |
Die Spülbürsten hüpften aufgeregt vor Vincent van Gogh auf und ab. Der | |
Künstler war beinahe am Ende seiner Geduld. Seit Stunden schon versuchte | |
er, die munteren Gesellen, die mittlerweile seine gesamte Stube | |
bevölkerten, zu malen. Van Goghs Gedanken schweiften in wellenartigen, bunt | |
verwirbelten und mit sirrenden Harfenklängen unterlegten Bildern ins | |
Gestern oder Vorgestern oder Vorvorgestern zurück… | |
Er hatte die ersten beiden nur zufällig entdeckt. Sie lagen eng | |
aneinandergeschmiegt im Schatten der Stufen, die zu seiner bescheidenen | |
Behausung führten, als Vincent versehentlich die Treppe hinuntergepurzelt | |
war und vor ebendieser zu liegen kam. Der Schrecken war zunächst auf beiden | |
Seiten groß, denn die beiden Spülbürsten hatten von Vincents Existenz | |
ebenso wenig gewusst wie er von der ihren. Doch nach einer kleinen Feier, | |
in deren Verlauf einige Flaschen Rotwein und auch endlich Vincents schon | |
monatelang vor sich hin wartender Abwasch erledigt wurden, schlossen sie | |
eine enge Freundschaft. So schien es zumindest. | |
Die Harmonie geriet jedoch bald aus dem Gleichgewicht, denn Vincents | |
Spülbürstenfreundlichkeit hatte sich offenbar herumgesprochen, und bald | |
fanden sich unzählige Spülbürsten in allen Formen und Farben ein. Aus Holz, | |
Metall oder Altpapier – alles war vertreten, die Spülbürstenmenge war quasi | |
nicht mehr zu überschauen. | |
Und weil sich alle im Zuhause des Genies sichtlich wohlfühlten und wort- | |
und spülwasserreich ihre Dankbarkeit schworen und seine gottgleiche | |
Gastfreundlichkeit bis in den Himmel priesen, wusste sich Vincent nicht | |
anders zu helfen, als die Anwesenheit seiner immer lästiger werdenden neuen | |
Mitbewohner zu akzeptieren. | |
Es wurden unentwegt mehr, sie bildeten für ihre undurchschaubaren | |
Wanderungen durch van Goghs kleines Schlafzimmer ein eigenes, immer enger | |
werdendes Straßennetz. Der Maler konnte bald kaum noch einen Schritt wagen, | |
ohne beinahe auf eine Spülbürste zu treten. Als sei das noch nicht genug, | |
gewahrte er nach einer Weile sogar verschiedene feuchte Lappen in den Ecken | |
und an den Wänden kleben, ein gelbes Schwammtuch pappte sogar unter der | |
Decke und drohte, jeden Moment auf Vincent herunterzufallen. | |
## Fiebriger Traum | |
Das alles war kaum noch auszuhalten, aber es sollte noch schlimmer kommen. | |
Als Vincent eines Nachts aus unruhigen und fiebrigen Träumen erwachte, | |
traute er seinen Augen kaum: Die Spülbürsten – es mussten mittlerweile | |
abertausende sein, die in Form, Farbe und Vielfalt abwechslungsreicher | |
nicht hätten sein können –, diese Millionen Spülbürsten also hatten sich | |
wie auch ein paar Gruppen von Akopads und Drahtschwämmen vor seinem Bett | |
versammelt, sie hatten sich in seinem Bett versammelt, sie hatten sich auf | |
und unter seinem Tischchen und auf den Stühlen versammelt, sie waren unter | |
den Stühlen, auf dem Fensterbrett, sie hingen vom Handtuchhalter und den | |
Kleiderhaken, sie drängten sich auf den Bettpfosten und sie hatten sich | |
wahrscheinlich auch unter seinem Bett versammelt – und ihre Köpfe | |
phosphorizierten eigenartig. | |
Wohin er auch blickte, sah er die glühenden Bürstenköpfe, die ihn gleich | |
einer Heerschar hypnotischer Bedroher fixierten. Es war fast wie ein | |
Alptraum. Dann richtete eine besonders stattliche, biologisch abbaubare und | |
Würde ausströmende Bürste mit voluminösem Natur-Holzgriff und | |
austauschbaren Echthaar-Schweineborsten das Wort an Vincent: „Höre, | |
Künstler. Mein Name ist Waldkraft, geschiedene Wechselkopf. Ich bin die | |
Königin aller Spülbürsten. Und auch du stehst jetzt unter meiner | |
Herrschaft. Deshalb gebiete ich dir: Male mich und mein Volk, und malst du | |
uns gut, dann soll es dein Schaden nicht sein.“ | |
Van Gogh wusste nicht, ob er wachte oder träumte, ob er lachen oder | |
schreien sollte, doch er stellte wie in Trance seine Staffelei auf, heizte | |
den Ofen an, um sich ein Glas Absinth zu kochen, vergaß auch nicht, seine | |
Palette mit Farben zu füllen, und nahm einen Pinsel zur Hand… | |
## Aufgeregte Bürsten | |
Und jetzt hüpften alle Spülbürsten aufgeregt vor Vincent van Gogh auf und | |
ab und riefen immerzu: „Dürfen wir schon gucken? Wann ist es fertig? Wie | |
lange dauert es noch? Dürfen wir schon gucken?“ Vincent nahm noch eine | |
Portion Absinth und entgegnete: „Nein, ihr dürft noch nicht gucken. Hört | |
auf mit der Hampelei, sonst nimmt das hier nie ein Ende!“ | |
Aber die Spülbürsten waren so ungeduldig und neugierig, sie hielten die | |
Spannung kaum aus und konnten nicht mehr warten. Einige sprangen plötzlich | |
euphorisiert wie Bettfedern auf und ab, um doch einen Blick auf die | |
Leinwand zu erhaschen. Mit einer blitzschnellen Bewegung nach rechts | |
schleuderte Vincent das Gemälde von der Staffelei. Dabei geriet er so sehr | |
in Schwung, dass er selbst mit einer rasanten Linksdrehung zu Boden | |
stürzte. Bevor er aufprallte, riss er sich am glühend heißen Ofen noch ein | |
Ohr ab. Jetzt reichte es ihm aber. | |
„Jetzt reicht es mir aber!“, rief van Gogh. „Dann male ich euch halt gar | |
nicht, sondern was anderes!“ Und er stürmte zornig erregt aus dem Haus, | |
hinein in die kühle Frische des anbrechenden Abends, um Sterne zu zeichnen. | |
Und so kam es, dass Vincent van Goghs wunderschönes, schillerndes und | |
rätselhaftes Gemälde „Spülbürstennacht“ nie gemalt wurde. Schade. | |
7 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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