| # taz.de -- Die Wahrheit: Bahnfahren mit Karnickelschein | |
| > Dreißig Jahre unterwegs mit der Bahncard. Und schon die Vorläufer | |
| > gewährten Rabatte für Zugreisen – wenn auch nicht für alle Mitfahrer. | |
| Meine erste Bahncard kaufte ich mir im Einführungsjahr 1992. Zuvor war ich | |
| allerdings schon Besitzer eines „Junior-Passes“ gewesen. Nie hingegen | |
| durfte ich die Vorteile des „Wuermeling“ genießen. Dieser Ausweis für | |
| kinderreiche Familien, auch „Karnickelschein“ genannt, war auf Betreiben | |
| des in den fünfziger und sechziger Jahren tätigen Bundesfamilienministers | |
| Franz-Josef Wuermeling eingeführt worden und gewährte dem Nachwuchs von | |
| Eltern mit mindestens „drei ledigen Kindern“ einen fünfzigprozentigen | |
| Fahrpreisrabatt. | |
| Der „Wuermeling“ war einkommensunabhängig, so dass ich, als alleine bei | |
| meiner Putzfrauen-Mutter aufwachsendes Kind, bei meinen ersten | |
| selbstständigen Teenager-Reisen den vollen Fahrpreis zahlen musste, | |
| wohingegen mein mitfahrender Kumpel Micha, ein Unternehmerssohn, grinsend | |
| halbpreisig fuhr, da er nun mal wuermelingskonform einen Bruder und eine | |
| Schwester hatte. So weit zum Sozialstaat in der alten BRD. | |
| Auf alle Fälle habe ich seit 1992 durchgehend eine Bahncard besessen. | |
| Zeitweise sogar eine 100er. Wenn mich früher jemand fragte, was meine | |
| Vorstellung von Glück sei, sagte ich: ein Bibliotheksausweis, | |
| Kabelfernsehen, neben dem angebrochenen, stets noch eingeschlossenes Glas | |
| Nutella im Küchenschrank – und eine Bahncard 100. | |
| Nun habe ich meine letzte Bahncard vor einem Monat auslaufen lassen. Weil | |
| ich nicht gegen die mir selbst auferlegten Regeln der Gewaltfreiheit | |
| verstoßen möchte. Grundsätzlich gilt: Ob Staat oder gesellschaftlicher | |
| Wandel – in den seltensten Fällen kann man mit Gewalt ein Problem | |
| langfristig lösen. Kurzfristig hilft sie durchaus mal. | |
| Zum Beispiel in Situationen, wie sie einem früher bei den | |
| „Gewissensprüfungen“ zur Kriegsdienstverweigerung präsentiert wurden. | |
| Damals ging es meist um russische oder sowjetische Soldaten, die irgendwo | |
| im Wald die Freundinnen der Drückeberger vergewaltigen wollten, aber ich | |
| aktualisiere die Frage mal schnell auf meine heutigen Lebensumstände hin: | |
| Wenn Ihnen vor Ihrer Haustür fünf Neonazis auflauern, die Ihre Adresse über | |
| einen Frankfurter Polizeicomputer abgerufen haben und Ihr Leben mit | |
| Baseballschlägern, Handfeuerwaffen und Brandsätzen bedrohen, Sie aber | |
| zufällig eine Panzerfaust dabeihaben – wie reagieren Sie? Da gilt | |
| selbstverständlich heute wie damals, Pazifismus hin oder her: Draufhalten | |
| und wegblasen! | |
| Ich bin mir aber relativ sicher, dass dieser Baller-Impuls in Bezug auf die | |
| Maskenverweigerer und Nase-raus-Pimmler in deutschen Zügen zwar | |
| verständlich, aber letztlich doch nicht angebracht ist. Auch die | |
| Bahnangestellten betreffend, die nicht willens sind, die Arschgeigen zu | |
| sanktionieren, oder die teilweise sogar augenzwinkernd mit ihnen | |
| sympathisieren. | |
| Da ich aber nun mal so fühle, habe ich das Bahnfahren eingestellt und meine | |
| fast dreißigjährige Mitgliedschaft im Bahncard-Club beendet. Es war eine | |
| überfüllte, oft sehr patzige, im Bistro meist geschmacklose, aber irgendwie | |
| doch auch eine schöne Zeit. | |
| Danke, Deutsche Bahn! | |
| 26 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Hartmut El Kurdi | |
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