# taz.de -- Website „Wiebkes Wirre Welt“: Preisgekrönte Schwurblerprävent… | |
> Die interaktive Website „Wiebkes Wirre Welt“ informiert über | |
> Verschwörungstheorien. Sie funktioniert als Mischung aus Spiel und | |
> Lerninhalten. | |
Bild: Tief im Internet-Keller: Screenshot der Website „Wiebkes Wirre Welt“ | |
Zuerst ist Wiebke bloß neugierig und ein bisschen misstrauisch. Sie starrt | |
auf einen ihrer Bildschirme, tippt, liest, tippt wieder. Plötzlich bleiben | |
ihre Augen an dem kleinen Fenster hängen, an unseren Augen: Wir beobachten | |
sie aus ihrer eigenen Kamera heraus. Wiebke. „Scheiße“, sagt Wiebke | |
panisch, „die ist ja an“, und deckt das Fenster ab. Erwischt! | |
[1][„Wiebkes Wirre Welt“] ist ein Online-Lernraum, der über | |
Verschwörungstheorien aufklären soll, vor allem Jugendliche. | |
Online-Lernraum bedeutet, dass „Wiebkes Wirre Welt“ (WWW) eine Mischung ist | |
aus Computerspiel und Informationssammlung. Die Spieler*innen müssen | |
Wiebke radikalisieren, indem sie ihr über den Computer immer neue | |
Verschwörungstheorien ins Hirn schicken. Ist das geschafft, können sie sich | |
selbst weiter informieren. Hinter Feldern auf dem Bildschirm lernen sie zum | |
Beispiel, welche Merkmale Verschwörungstheorien haben oder hören im | |
Interview mit einem Sektenbeauftragten Tipps, wie man mit Menschen umgeht, | |
die sich im Internet radikalisieren. | |
Kubikfoto Studios aus dem niedersächsischen Stuhr und die | |
Baff-Filmproduktion aus Bremen haben WWW gemeinsam konzipiert, unterstützt | |
von Expert*innen wie der Sozialpsychologin Pia Lamberty, der | |
Rechtsextremismuskennerin Andrea Röpke und von Mitarbeiter*innen | |
einer Initiative für politische Bildung im Netz namens „Achtsegel“. Die | |
Bundeszentrale für politische Bildung hat das Projekt finanziell gefördert. | |
Für WWW hat das Thema gerade den Corona-Sonderpreis des Deutschen Digital | |
Awards gewonnen. | |
Wiebke hat keine Chance gegen uns. Nachdem sie eine ihrer Kameras abgedeckt | |
hat, sind wir einfach zur nächsten gesprungen. Ihre Welt ist bloß ein | |
Kellerzimmer. Drei Bildschirme hängen als schräg gebaute Fenster an der | |
Wand vor ihr. Ein paar Pizzakartons und Bierflaschen liegen herum und auf | |
dem Sessel in der Ecke ein Freund. Die Stimme flüstert, dass wir uns | |
beeilen sollen. Sie muss die Mondlandung bezweifeln. Wenn sie das erst | |
einmal glaubt, können wir ihr fast alles einreden. | |
Wiebkes Keller ist die perfekte Visualisierung des Ortes, an dem sich | |
Menschen über das Internet radikalisieren: Die Zeit rast in dunklen | |
Schlieren vorbei, die Luft ist stickig. Die Macher*innen hinter WWW | |
haben sich für ein Bild digitaler Welten entschieden, das allerdings einige | |
von deren Eigenschaften ausklammert: dass es Spaß macht, sich darin zu | |
bewegen, zum Beispiel. Der digitale Lernraum, sagt Holger Weber von | |
Kubikfoto, sei eben „kompakter als die Realität“. | |
Das Kellerzimmer als visuelle Abkürzung für Internet-Abhängigkeit – richtig | |
neu ist die Idee nicht: In ihrem frisch veröffentlichten Roman „No One is | |
Talking About This“ zeigt Patricia Lockwood Social Media als Portal, hinter | |
dem keine Etiketten am Körper kratzen und Bilder schwerelos vorbeifließen. | |
Die US-amerikanische Autorin bringt mit diesem Bild etwas auf den Punkt, | |
das in Diskussionen um Social Media und Verschwörungstheorien oft verloren | |
geht: Das Internet macht nicht nur unglücklich. Nur wer auch seine | |
merkwürdige, gemeinschaftliche Schönheit sieht, wird diese Dinge angemessen | |
nachvollziehen können. | |
Geschafft – Wiebke ist fanatisch. Sie glaubt jetzt, dass Aliens als | |
Echsenmenschen in den Körpern von Politiker*innen leben. Daran, dass | |
ein Insider aus der US-Regierung, der sich Q nennt, über Messageboards | |
verschlüsselt brisanteste Informationen weitergibt. Ein paar Klicks haben | |
gereicht, jetzt hämmert Wiebke nur noch stumpfsinnig in die Tasten. Auf | |
einem ihrer Bildschirme macht Attila Hildmanns Gesicht Sprünge nach oben. | |
WWW erzählt von Wiebkes Radikalisierung, indem er Verschwörungstheorien als | |
rutschige Ebene darstellt. Aber Wiebke hat in dieser Welt schon von Anfang | |
an ein Problem: Ihr Freund macht sich bloß über sie lustig, ihre Mutter | |
schreit von oben herunter, dass Wiebke nicht so viel Zeit am Computer | |
verbringen soll – auch die Umstände sorgen für ihre Radikalisierung. Wer | |
„Wiebkes Wirre Welt“ betritt, ist danach belustigt und ein bisschen | |
traurig; ein bisschen wie im echten Leben, nur eben ohne die Anstrengung, | |
jemandem wie Wiebke tatsächlich nahe zu sein. Das Spiel ist ziemlich | |
realistisch, ohne zu dramatisch zu sein. Weber sagt, dass niemand im echten | |
Leben so eine verrückte Person kenne – aber das stimmt natürlich nicht. | |
## Unerwartete Perspektive | |
„Agent 13, läuft bei dir“, sagt eine Stimme in unser Ohr, „jetzt müssen… | |
Profis ran.“ Wiebke ist gerade aus dem Zimmer gerannt, nachdem es oben | |
geklingelt hat. Von der Treppe her hören wir Tumult. Die Tür zum Keller | |
öffnet sich, zwei Männer in Anzügen und mit Sonnenbrillen kommen herein. | |
Sie schauen sich um, sprühen etwas in die Luft, entdecken uns – kurz ist | |
alles schwarz. Nun ist Wiebkes Keller auf einem Bildschirm zu sehen. Davor | |
sitzen zwei Männer und eine Frau. „Aber das ist doch eine Verschwörung“, | |
meckert der eine, „ihr könnt doch nicht mit einer Verschwörungstheorie über | |
Verschwörungstheorien aufklären.“ Hinter ihnen sehen wir auf einmal wieder | |
die grauen Herren. Wir sind wieder ich, und ich bin verwirrt. | |
Weber sagt, dass sich das Team früh gefragt habe, welche Perspektive auf | |
das Thema Verschwörungsglaube das Spiel haben soll. „Wir haben uns | |
überlegt, wie wir Jugendliche für so was begeistern können“, sagt auch | |
Sebastian Heidelberger von Baff Filmproduktion, und dass Jugendliche | |
einfach gern „den Bösen spielen“ würden. Nutzer*innen blieben | |
durchschnittlich zwölf Minuten auf der WWW-Seite, sagt Weber, und er klärt | |
das damit, dass sie selbst mitverschwören könnten. | |
Für den Unterricht sei das super, sagt Uta Brammer, Fachreferentin in der | |
Stabsstelle Digitalisierung der Behörde für Kinder und Bildung in Bremen. | |
„Davon können Schülerinnen und Schüler auf jeden Fall was lernen, wenn es | |
richtig in den Unterrichtskontext eingebettet ist.“ Brammer hält WWW für | |
einen guten Anlass, um im Unterricht über Verschwörungstheorien zu | |
sprechen. Auch die unerwartete Perspektive, also dass die Schüler*innen | |
Wiebke radikalisieren sollen, trage dazu bei. | |
Eigentlich ist es merkwürdig, dass sich das Angebot vor allem an | |
Jugendliche richtet – das sagt auch Weber, der selbst zwei jugendliche | |
Söhne hat: „Ja, politische Bildung brauchen auch Leute über 60, die | |
vielleicht noch mehr.“ Das Projekt sei auch nicht ausschließlich für | |
Jugendliche, aber dort sei der Bedarf an Online-Angeboten während der | |
Coronapandemie einfach gestiegen. Es sei gut, dass es solche Angebote gebe, | |
so Brammer: „Ein Arbeitsblatt kann ich alleine zu Hause am Schreibtisch | |
erstellen, so was nicht.“ | |
Der Online-Lernraum verzerrt die Realität auf die Art, wie es | |
Bildungsangebote meistens tun. Das ist okay – solange es nicht dazu führt, | |
dass missverstanden wird, was die Anziehungskraft von Verschwörungstheorien | |
und überhaupt der digitalen Welten ist: Wiebke sitzt nicht nur mit ihrem | |
furchtbaren Freund im Keller, sie ist durchs Portal – an einem Ort, den | |
Jugendliche wohl am besten kennen. | |
21 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wiebkes-wirre-welt.de/ | |
## AUTOREN | |
Lisa Bullerdiek | |
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