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# taz.de -- Kurden in der Türkei: Richter schießen quer
> Das türkische Verfassungsgericht lehnt den Antrag auf ein HDP-Verbot ab.
> Das offenbart, dass die gesamte Anklage mit heißer Nadel gestrickt ist.
Bild: Der HDP-Abgeordnete Omer Gergerlioglu (M.) protestiert gegen den Entzug s…
Berlin taz | Es kam nicht ganz überraschend, ist aber dennoch eine kleine
Sensation: Das Verfassungsgericht der Republik Türkei hat den Antrag des
Generalstaatsanwaltes, ein Verbotsverfahren gegen die kurdisch-linke HDP
einzuleiten, zurückgewiesen. Aus formalen Gründen, wie es heißt. Wie
türkische Medien berichteten, waren anscheinend unter den 680
Parteifunktionären, die im Verbostverfahren gleichsam in einem Aufwasch
nach dem Willen des Generalstaatsanwaltes für mindestens fünf Jahre mit
einem generellen Politik-Verbot belegt werden sollten, auch einige, die
bereits verstorben sind.
Offenbar war die gesamte Verbots-Anklage mit heißer Nadel gestrickt. Das
spricht mit dafür, dass der Generalstaatsanwalt bei dem gesamten Verfahren
nicht nur aus eigenem Antrieb gehandelt hat, sondern Anweisungen aus der
Politik folgte. Der für ihn zuständige Innenminister Süleyman Soylu ist
seit langem gegen einen schärferen Kurs gegen die HDP, wurde aber von
Präsident Recep Tayyip Erdogan wohl nicht eindeutig instruiert, weshalb er
wochenlang zögerte. Anders der Vorsitzende der rechtsradikalen MHP, Devlet
Bahceli. Er drängt seit längerem offensiv auf ein Verbot der HDP, weil nur
so „die PKK wirkungsvoll bekämpft werden könne“.
Auftrieb bekam Bahceli, dessen MHP de facto mit Erdogans AKP koaliert, als
Mitte Februar eine Befreiungsaktion türkischer Spezialkräfte im Nordirak
scheiterte und 13 türkische Gefangene der PKK, alle Soldaten und
Polizisten, getötet wurden. Die HDP hatte seit längerem darauf gedrängt,
dass die Gefangenen durch Verhandlungen ausgelöst werden sollten, doch die
Regierung hatte das empört zurückgewiesen. Jetzt wurde die HDP zum
Blitzableiter für die gescheiterte Befreiungsaktion. Man warf ihr erneut
vor, mit der PKK zusammen zu arbeiten.
In dieser Situation verschärfte Bahceli seine Forderung nach einem Verbot
der HDP und versuchte alle anderen, die ihn dabei nicht unterstützen
wollten, zu Sympathisanten „der Terroristen“ zu machen. Das zeigt in der
Türkei immer Wirkung – vor allem bei der sozialdemokratischen CHP und der
rechten IYI-Parti, die in der Opposition zumindest indirekt mit der HDP
zusammengearbeitet hatten.
## Verunsicherung allerorten
Selbst im Ausland sind viele verunsichert. So beschwerten sich die beiden
HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar in einem offenen Brief an
Bundesaußenminister Heiko Maas, dass dieser zwar den Verbotsantrag gegen
ihre Partei kritisiert, gleichzeitig aber die HDP aufgefordert habe, sich
eindeutig von der PKK zu distanzieren. Das sei eine Wiederholung der
Propaganda der Regierung, merkten die beiden an.
Auch wenn ein großer Teil des türkischen Establishments den Vorwurf der
Zusammenarbeit zwischen HDP und PKK nicht nur propagandistisch erhebt,
sondern tatsächlich davon überzeugt ist, gibt es für den Verbotsantrag
einen weiteren, triftigen Grund. Die HDP bedroht die Mehrheit der
Regierungskoalition und eine Wiederwahl von Erdogan bei der Wahl 2023.
Wie sich bei den Kommunalwahlen 2019 in den großen Städten des Landes
gezeigt hat, gewinnt die Opposition, wenn sie von der HDP unterstützt wird.
Sollte es also zu halbwegs regulären Wahlen kommen und die Opposition einen
gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten präsentieren, der dann auch von der
HDP unterstützt wird, hat Erdogan wenig Chancen wiedergewählt zu werden.
Deshalb sollen die knapp 7 Millionen Wählerstimmen, die die HDP erringen
konnte, durch ein Verbot der Partei neutralisiert werden.
Vor diesem Hintergrund war es durchaus mutig von den Richtern des
Verfassungsgerichts, den Antrag auf ein Verbot der HDP erst einmal
zurückzuweisen. Bahceli sagte in einer Reaktion auf den Richterspruch, man
solle das Verfassungsgericht mit der HDP gleich mit abschaffen.
## Langsame Zermürbung
Das ist aber erst einmal unwahrscheinlich. Denn nun müssen der
Generalstaatsanwalt beziehungsweise die Regierung überlegen, ob sie eine
neue Klageschrift formulieren sollen oder nicht. Die Alternative zu einem
Verbot ist [1][die langsame Zermürbung der HDP].
Seit der Kommunalwahl wurden von über 60 der HDP nahestehenden
Bürgermeister 56 aus dem Amt entfernt und [2][durch Zwangsverwalter]
ersetzt. Gegen etliche Abgeordnete der HDP liegen dem Parlamentspräsidenten
Anträge auf Aufhebung ihrer Immunität oder einen Mandatsentzug vor.
Das Verfassungsgericht hat am gleichen Tag, an dem es den Verbotsantrag
gegen die HDP zurückwies, ebenfalls eine Klage des HDP-Abgeordneten Ömer
Faruk Gergerlioglu zurückgewiesen, der gegen seinen Mandatsentzug vorgehen
wollte. Sein Rauswurf aus dem Parlament sei rechtens, befanden die Richter.
1 Apr 2021
## LINKS
[1] /Haftbefehle-in-der-Tuerkei/!5716682
[2] /Kurden-in-der-Tuerkei/!5644800
## AUTOREN
Wolf Wittenfeld
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Türkei
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