# taz.de -- Radsport in Pandemiezeiten: Bedrückender Klassiker | |
> Der Belgier Jasper Stuyven düpiert die Favoriten und gewinnt das | |
> Radrennen Mailand–Sanremo. Die Freude des Pedaleurs ist der Frust der | |
> Pandemieopfer. | |
Bild: Erster auf der Via Roma: Jasper Stuyven aus Belgien vom Team Trek-Segafre… | |
Es war ein Antritt im rechten Moment, mit dem er das favorisierte Trio | |
[1][Wout van Aert, Mathieu van der Poel] und Julian Alaphilippe schachmatt | |
setzte. Der Belgier Jasper Stuyven triumphierte auf der Via Roma und gewann | |
das Klassikerrennen Mailand–Sanremo. Bester Deutscher wurde Debütant | |
Maximilian Schachmann als 14., auch der zweite Sanremo-Neuling, Pascal | |
Ackermann, schlug sich als 20. gut. | |
Radsportfeste allerdings sehen anders aus. Vorm Kongresspalast Palafiori, | |
in dem sich für einen Tag das Hauptquartier des Rennens befindet, richtet | |
sich unmittelbar nach dem Zielsprint wieder der Obdachlose ein, der hier | |
offenbar seinen Stammplatz hat. Ob er ein Opfer der pandemiebedingten | |
Wirtschaftskrise ist oder schon vor Corona auf der Straße lebte, will der | |
bärtige Mann nicht verraten. Er winkt nur ab, wartet darauf, dass all die | |
Akkreditierten verschwinden und sein gewöhnlicher Tagesablauf wieder | |
einkehrt. | |
Hundert Meter weiter haben die Pächter einer Pizzeria einen Zettel ins | |
Fenster gehängt: „Die Stadt leidet, die Geschäfte müssen schließen, aber | |
Mailand–Sanremo findet statt, damit die Fernsehzahlen stimmen“, ist darauf | |
zu lesen. Die Pizzeria darf zwar für Selbstabholer den Ofen anschmeißen. | |
„Wir durften heute aber erst nach Ende des Rennens aufmachen. Das wenige, | |
das wir sonst mit Pizza außer Haus verdienen, stellte sich heute auch nicht | |
ein. Und schau, die meisten Geschäfte ringsum sind geschlossen“, sagt die | |
Frau an der Theke. | |
Mailand–Sanremo fand unter bedrückenden Umständen statt. Einerseits ist es | |
gut, dass es noch Abwechslung im Pandemie-Alltag gibt und dass – im | |
Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der Entertainmentindustrie – der | |
Profiradsport verhältnismäßig unbeschädigt über die Runden kommt. | |
Andererseits waren bei diesem Frühjahrsevent die Polizistinnen und | |
Polizisten, deren Aufgabe es war, Passanten vom Zielbereich in Sanremo | |
fernzuhalten, die Einzigen, die jubeln durften, als das Fahrerfeld in | |
unmittelbarer Nähe von ihnen die Via Roma entlangbrauste. Etwa zwei Dutzend | |
Personen drängten sich noch im VIP-Areal. Sie wirkten wie jene, die auch | |
noch die letzten Takte des Schiffsorchesters der „Titanic“ mitnehmen | |
wollten. | |
## Seltsame Veranstaltung | |
Wer daneben seine Kamera aufbaute, sein Mikrofon in Stellung brachte, die | |
ganzen Abstandhalter ans audiovisuelle Equipment anschraubte, fragte sich | |
zwischendurch schon, welch seltsame Veranstaltung man mithalf in die Welt | |
zu verbreiten. Dann aber zog doch der Sport alle Aufmerksamkeit auf sich. | |
Bis kurz vor der Auffahrt zum Poggio, dem berühmten letzten Hügel vor der | |
Zielpassage, verlief das Rennen wie von Favorit Mathieu van der Poel | |
vorausgesagt: „Die ersten 100 bis 150 Kilometer sind oft so langweilig. Das | |
führt dazu, dass ich das Rennen nicht so mag“, sagte der Niederländer. Und | |
er hatte sogar noch untertrieben. | |
Erst etwa 30 Kilometer vor dem Ziel wurde es spannend. Vor dem Anstieg zur | |
Cipressa ging ein Ruck durchs Feld. Züge formierten sich. „Es kommt darauf | |
an, schon bei der Cipressa eine gute Position ganz vorn zu haben und die | |
dann auch bis zum Poggio zu behalten“, hatte Maximilian Schachmann zuvor | |
die Schlüsselmomente dieses Traditionsrennens zusammengefasst. Weil der | |
Berliner Radprofi diese Erkenntnis nicht exklusiv für sich hatte, hetzten | |
also alle den Hügel in der Küstenlandschaft Liguriens hoch. Schachmann war | |
auch weit vorn am Poggio, als dort Weltmeister [2][Julian Alaphilippe] | |
seine Attacke startete und die anderen beiden Mitfavoriten van Aert und van | |
der Poel mitgingen. Im Sog des Niederländers gelangte Schachmann als | |
Vierter in die Gruppe. | |
Weil die großen Drei dann aber doch nicht massiv durchzogen, kamen in der | |
Abfahrt weitere Fahrer nach vorn. Sie alle wurden am Ende der Abfahrt von | |
einem Antritt Jasper Stuyvens überrascht. „Ich habe zwar noch nicht viele | |
Siege auf meinem Konto. Aber die meisten erreichte ich auf diese Art und | |
Weise. Wenn ich auf den letzten Kilometern mal vorn bin, kriegt mich das | |
Feld nicht so schnell“, sagte der Belgier. | |
Der Jubel im Ziel fiel verhalten aus. Das lag nicht am Überraschungssieger, | |
sondern daran, dass außer den zwei Dutzend VIPs und den an die Strecke | |
abkommandierten Polizisten niemand zum Feiern da war. | |
Den Obdachlosen scherte das alles nicht. Die Pizzabäcker hingegen sind | |
sauer über derartige Events. „Während des Musikfestivals Sanremo mussten | |
wir ebenfalls dichtmachen – alles aus Angst, dass durch uns diese komischen | |
Hygieneblasen Löcher kriegen“, sagte die Gastronomin. | |
Paradoxe Verhältnisse: Was für die Unterhaltungsbranche die Fortsetzung der | |
Berufsausübung darstellt, bedeutet für Gastronomen eine Einschränkung ihrer | |
eh schon eingeschränkten Tätigkeit. | |
21 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Radsport-Helden/!5757420 | |
[2] /Fahrradrennen-Tour-de-France/!5606807 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
## TAGS | |
Radsport | |
Klassiker | |
Schwerpunkt Sport trotz Corona | |
Radsport | |
Giro d’Italia | |
Radsport | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Radsport | |
Radsport | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Radsportklassiker Mailand-Sanremo: Der Erfinder rast runter | |
Der Slowene Matej Mohorič riskiert beim ersten Radsportklassiker der Saison | |
am meisten. Er siegt – auch dank seiner Experimentierfreude. | |
Vor dem Start des Giro d'Italia: Ermüdungskampf quer durch Italien | |
Emanuel Buchmann geht mit hohen Erwartungen in das Radrennen. Seine | |
Frühjahrsergebnisse hätten indes durchaus besser sein können. | |
Gleichstellung im Radsport: Wo bleibt die Tour der Frauen? | |
Die Bahnrad-Weltmeisterin Emma Hinze fordert eine „Tour de France“ für | |
Frauen. Damit ist sie nicht allein. Weiblicher Radsport hat Tradition. | |
Hygienekonzepte für Sportevents: Blase mit Löchern | |
Etliche Coronafälle bei einem Judo-Turnier in Georgien mehren die Zweifel | |
an Hygienekonzepten des Sports. Was bedeutet das für die Olympischen | |
Spiele? | |
Neue Radsport-Helden: Epochale Allrounder | |
Wout van Aert und Mathieu van der Poel haben sich in der Cross-Saison harte | |
Duelle geliefert. Jetzt setzen sie ihren Zweikampf auf der Straße fort. | |
Saisonstart der Profiradler: Motor der Normalität | |
Paris-Nizza oder Tirreno Adriatico: Die Szene der Pedaleure startet voller | |
Zuversicht in den Frühling, trotz hoher Indizidenzwerte in Frankreich. | |
Bahnradsport im Coronaloch: Radler müssen draußen bleiben | |
Die Olympia-Vorbereitung ist für die Radsportler auf der Holzbahn überaus | |
kompliziert. Wettkämpfe gibt es in diesen Tagen gar nicht. |