# taz.de -- Kammergericht zu HIV-Arzt: Missbrauchsvorwürfe berichtenswert | |
> Verdachtsberichterstattung zu mutmaßlichen sexuellen Übergriffen eines | |
> Mediziners gegen schwule Patienten ist wieder möglich. Aber nicht | |
> detailliert. | |
Bild: Verdachtsberichterstattung zu mutmaßlichen Übergriffen ist wieder mögl… | |
Die Medien Vice und Buzzfeed News dürfen wieder über einen Berliner Arzt | |
berichten, dem sexueller Missbrauch von schwulen Patienten vorgeworfen | |
wird. Allerdings dürfen die Medien die Vorwürfe weiterhin nicht detailliert | |
und drastisch darstellen. Das Berliner Kammergericht hat jetzt die | |
schriftlichen Urteilsgründe fertiggestellt, die der taz vorliegen. | |
Beide Medien hatten im September 2019 ausführlich über die Vorwürfe | |
berichtet. Der Mediziner, der als international anerkannter Spezialist für | |
HIV-Behandlungen gilt, [1][soll immer wieder junge schwule Patienten unter | |
Ausnutzung seiner Stellung als Arzt sexuell bedrängt haben]. Vor allem | |
nicht-deutsche junge Männer ohne Versicherungsschutz sollen betroffen | |
gewesen sein. Vice und Buzzfeed zitierten ausführlich die Anschuldigungen | |
von fünf ehemaligen Patienten. | |
Der Arzt weist die Vorwürfe bis heute zurück, sie seien von einem der | |
Betroffenen „orchestriert“ worden. Sein Anwalt Johannes Eisenberg (der auch | |
die taz vertritt) erreichte kurz nach Erscheinen der Artikel beim | |
Landgericht Berlin [2][mehrere einstweilige Verfügungen gegen die | |
Berichte]. Das Landgericht bestätigte die Verfügungen im Oktober 2019 nach | |
mündlicher Verhandlung. | |
Dagegen legten Vice und Buzzfeed News jeweils Berufung zum Berliner | |
Kammergericht ein, das einem Oberlandesgericht entspricht. Die Berufung der | |
Medien hatte überwiegend Erfolg, wie sich schon aus der Kostenentscheidung | |
ergibt. Der Arzt hat drei Viertel der Gerichtskosten zu tragen, die Medien | |
gemeinsam ein Viertel. | |
## An die Regeln der Verdachtsberichterstattung gehalten | |
Die Medien dürfen nun den Kern ihrer Berichte wieder verbreiten und dabei | |
durchaus auch die konkreten Vorwürfe mitteilen: „Analuntersuchungen und | |
Prostatamassagen ohne ersichtlichen Grund. Masturbation. Sich nackt | |
ausziehen müssen. Versuchter Oralverkehr. Kussversuche.“ | |
Buzzfeed und Vice hätten sich an die Regeln der Verdachtsberichterstattung | |
gehalten, so das Kammergericht. So hatten sie dem Arzt Gelegenheit zur | |
Stellungnahme gegeben und die Unschuldsvermutung betont, in dem sie die | |
Form des Konjunktivs (Möglichkeitsform) benutzten oder die Taten als | |
„mutmaßliche“ bezeichneten. | |
## Öffentliches Interesse bejaht | |
Auch die übrigen Voraussetzungen für eine Verdachtsberichterstattung hatten | |
laut Kammergericht vorgelegen. So habe es ausreichend Beweistatsachen | |
gegeben, zum Beispiel eine (noch nicht verhandelte) Anklage der | |
Staatsanwaltschaft gegen den Arzt wegen sexuellen Missbrauchs unter | |
Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses, ähnliche Beschwerden bei der | |
Ärztekammer und natürlich die Aussagen der fünf Männer, die in den | |
Berichten zitiert werden. Konkrete Hinweise auf ein Komplott gegen den Arzt | |
gebe es nicht. | |
Die KammerrichterInnen bejahten auch das öffentliche Interesse an | |
Medienberichten über den Fall, da hier ein anerkannter Arzt die | |
Abhängigkeit von Patienten sexuell ausgenutzt haben soll, die durch | |
Ausgrenzung, Scham und mangelnden Versicherungsschutz besonders verletzlich | |
seien. Auch ohne die MeToo-Debatte wären solche Vorwürfe berichtenswert | |
gewesen. | |
## Distanz zu den Betroffenen aufgegeben | |
Die RichterInnen rechneten die Vorwürfe auch nicht der besonders | |
geschützten Intimsphäre des Arztes zu, sondern seiner Sozialsphäre. | |
Vorwürfe bezüglich Sexualstraftaten könnten ebenso wie die mutmaßliche | |
Verletzung ärztlicher Pflichten nicht zur Intimsphäre eines Tatverdächtigen | |
gehören. Die Interessen des Arztes auf Schutz seiner Persönlichkeitsrechte | |
müssten deshalb insoweit zurücktreten. | |
Dennoch hatten die beiden Medien mit ihrer Berufung nicht vollständig | |
Erfolg. Sie hätten die Grenzen zulässiger Verdachtsberichterstattung | |
überschritten, soweit sie die Vorwürfe gegen den Arzt besonders „farbig, | |
denkbar explizit und höchst detailliert“ darstellten, entschied das | |
Kammergericht. Dies habe bei den LeserInnen den Eindruck erweckt, dass sich | |
die geschilderten Handlungen wirklich so zugetragen hätten. Die | |
RichterInnen werteten dies als „vorverurteilend“. Die Medien hätten ihre | |
Distanz zu den Betroffenen aufgegeben. | |
## Zitate des Arztes seien problematisch | |
Besonders problematisch findet das Kammergericht wörtliche Zitate des | |
Arztes, die auf der Darstellung der Belastungszeugen beruhen. Sehr | |
authentisch wirkten dabei Zitate in englischer Sprache. Die RichterInnen | |
räumen ein, dass Verdachtsberichterstattung besondere Sorgfalt erfordere | |
und dass die Medien versuchten, diese Sorgfalt durch eine besonders | |
ausführliche Darstellung der belastenden Aussagen zu dokumentieren. | |
Diesen Ansatz halten die RichterInnen aber für falsch: „Gerade bei | |
Sachverhalten, die für den Betroffenen schwerwiegende persönliche und | |
wirtschaftliche Folgen haben können, kann es der Presse mit Blick auf die | |
Unschuldsvermutung verwehrt sein, die Rechercheergebnisse uneingeschränkt | |
und ungefiltert zu präsentieren“, so das Kammergericht. | |
## „Farbloses Ausweichmanöver“ | |
Eine Ausgewogenheit der Darstellung fehle auch deshalb, weil der Arzt sich | |
in seiner Stellungnahme vor allem darauf zurückgezogen habe, er könne die | |
Schilderungen („die unzutreffend sein müssen“) nicht einzelnen Patienten | |
zuordnen. Dies wirke angesichts der ausgebreiteten Einzelheiten bei den | |
LeserInnen wohl wie ein „taktisch motiviertes, farbloses Ausweichmanöver“, | |
vermuten die RichterInnen. | |
Gegen die Entscheidung des Kammergerichts ist im Eilverfahren kein normales | |
Rechtsmittel mehr möglich, nur die Verfassungsbeschwerde. Beide Seiten | |
können den Rechtsstreit aber im Hauptsache-Verfahren fortsetzen. | |
18 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.queer.de/detail.php?article_id=36056 | |
[2] /Missbrauchsvorwuerfe-gegen-Arzt/!5637545 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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