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# taz.de -- Proteste in der russischen Provinz: Es herrscht Ruhe in Rjasan
> Roman Bugakow wollte in Russland Protest organisieren. Doch die Polizei
> hinderte ihn daran. Alexander Bechtold hat demonstriert – mit bösem Ende.
Roman Bugakow hatte alles vorbereitet. Er hatte Dutzende Mails geschrieben,
hatte telefoniert, jede Menge erklärt, hatte seine Frau umarmt, sich warme
Schuhe angezogen. Zum Siegesplatz wollte er, der Stille und Ernsthafte, und
von dort ins Zentrum „spazieren gehen“. Über die zugefrorenen Wege von
Rjasan laufen, die sich hier und da in eine braune Matschsuppe verwandeln,
an Kleidergeschäften vorbei, Schulen und Hotels und Cafés. Er wollte dabei
sein, wenn seine Stadt aufsteht und sagt, ja, hinausschreit: „Freiheit für
Nawalny“ und „Putin ist ein Dieb“.
Wann hatte es schon einmal solch einen Unmut hier gegeben? Vor zehn Jahren
vielleicht, als er, gerade 17 geworden, anfing, sich für Politik zu
interessieren. Eine Politik, die „undurchdacht“ funktioniere, wie er heute
sagt. Er wusste, dass seine Eltern sich sorgen würden, auch seine Frau.
Aber sie pflegen ihre Zurückhaltung, er will seine Meinung sagen. Wie auch
so viele andere an diesem kalten Samstagnachmittag in seiner Stadt. Ja, im
ganzen Land.
Am 23. Januar war das. [1][Zehntausende Demonstrant*innen] zählten
Beobachter am Ende dieses für Russland so ungewöhnlichen Tages. In Rjasan,
200 Kilometer und vier Autostunden südöstlich von Moskau, waren es immerhin
knapp 3.000, zum ersten Mal in der jüngsten Geschichte der alten
Handelsstadt. Eine Überraschung – für Protestierende genauso wie für den
Kreml. „Es ist befremdlich, was in Russland gerade passiert, was mit
Nawalny gerade passiert“, sagt der 27-jährige Aktivist.
Russlands Oppositionspolitiker Alexei Nawalny war am Wochenende zuvor nach
Moskau zurückgekehrt und noch vor der Passkontrolle festgenommen worden.
Einen Tag später verurteilte ihn ein Gericht auf einer Polizeiwache zu
[2][30 Tagen Arrest]. Seine Anhänger*innen riefen daraufhin zu
Protesten auf, gestärkt durch die Resonanz, die Nawalnys Film „Ein Palast
für Putin“ über die Bereicherung des Präsidenten und seiner Entourage
hervorgerufen hat. In Rjasan übernahm Roman Bugakow die Leitung des „Stabs
Nawalny“, also die örtliche Vertretung der im ganzen Land verstreuten Büros
des inhaftierten Kreml-Kritikers.
## Methoden der Einschüchterung
Bugakow ist nun Ex-Leiter des Stabes, seine Konten sind gesperrt, immer
wieder steht er unter Beobachtung des Staates. Die Methode der
Einschüchterung sollte auch an diesem 23. Januar greifen: Die Polizei ließ
Bugakow gar nicht erst zum Siegesplatz, sie hatte ihn angehalten, weil er
angeblich sein eigenes Auto gestohlen haben soll. Den ganzen Tag war er mit
den Polizisten und der Bürokratie beschäftigt. Am Wochenende darauf ein
ähnlicher Vorwurf – mit demselben Ausgang: Die Proteste in Rjasan, dieser
„typischen verschlafenen zentralrussischen Stadt“, wie er sagt, verliefen
ohne den jungen Nawalny-Anhänger.
Der 70-jährige Alexander Bechtold aber kam. Er stand am Siegesplatz, er
lief den 1.-Mai-Prospekt entlang, ging mit dem Protestzug zum Lenin-Platz –
und wurde hier in den Gefangenentransporter geworfen, mit einer Platzwunde
am Kopf und an der Lippe, mit Schwindel und völligem Entsetzen.
Omon-Sonderpolizisten hatten ihn zu Boden geworfen, ihn an anderen
Demonstrant*innen vorbeigeschleift. Als Nachfahre von Russlanddeutschen
weiß Bechtold seit seiner Kindheit, was Repressionen bedeuten. Sein Vater
wurde auf Stalins Befehl aus der damaligen Wolga-Republik in die
kasachische Steppe deportiert, dem Sohn – im Pass stets mit „Nationalität:
Deutscher“ gebrandmarkt im sowjetischen Vielvölkerstaat – gelang es nur auf
Umwegen, an einer Universität zu studieren. Er wurde Geologe, im Fernen
Osten des Landes, und mit der Perestroika zum Bürgerrechtler.
Vieles hatte er in seinem Bürgerrechtlerleben schon gesehen, vieles auch
selbst erlebt. „Aber dass ich mit 70 einen Schlagstock auf den Kopf
bekomme, das ist schon eine andere Dimension“, sagt der Rastlose, der der
Liebe wegen aus Chabarowsk nach Rjasan gezogen war, das einst ein
Knotenpunkt für Pilger und Händler auf dem Weg nach Zentralasien war und in
Sowjetzeiten zu einem militärischen Zentrum in Zentralrussland wurde.
## „Eine typisch sowjetische Stadt“
Ein stilisierter Strommast in Form zweier Flugzeuge und eines Fallschirms
erinnert an der Stadteinfahrt daran, die „Hauptstadt der Luftlandetruppen“
erreicht zu haben. Shoppingmalls reihen sich aneinander, blau und grün
angestrichene Neubauten schauen dahinter hervor. Etwa 500.000 Menschen
leben hier, was nach viel klingt, nach russischem Verständnis aber nur eine
mittelgroße Stadt darstellt.
„Das Leben plätschert so dahin, die, die was werden wollen, gehen weg“,
sagen hier viele. Sie gehen nach Moskau, eine Realität in vielen Orten
unweit der Hauptstadt. Manchmal ist das auch ein Problem, weil die
Fachleute fehlten, weil das Potenzial für kreative Lösungen in allerlei
Bereichen verlorengehe, klagen einige.
„Eine typische sowjetische Stadt“ sei [3][Rjasan], sagen die Rjasaner. Doch
so typisch auch wieder nicht, fügen sie hinzu und schwärmen von ihrem
Kreml, den hügeligen, sich windenden Gassen, selbst eine Fußgängerzone habe
die Stadt. Freilich gibt es auch hier den typischen Leninprospekt und die
Pioniergasse, den Stadtteil „Sowjetski“ und einen Gagarin-Park. Natürlich
auch eine Lenin-Statue im Zentrum und zu viele abbruchreife
„Chruschtschowki“, diese Billigplattenbauten der 1960er Jahre, am
Stadtrand.
Die vielen Parks sind auch im Winter belebt. Eine Schulklasse übt unweit
der Philharmonie die Abfahrt auf Skiern, der Lehrer rügt, die Eltern
stehen in der Senke und fotografieren. Unweit der Universität sausen Kinder
jauchzend einen verschneiten Hügel mit ihren bunten Reifen herunter. Sie
machen sich keine Sorgen um ihre Zukunft. Die Erwachsenen dagegen schon, so
wie in vielen russischen Städten und Dörfern auch.
In Rjasan schimpfen sie über die kaputten Straßen. Und die schlechte Luft
infolge der Fabriken, die ihnen das Atmen erschwere. Die Rentner*innen
beneiden die Hauptstädter*innen um ihre höheren Renten und die
Zusatzleistungen von der Stadtverwaltung. Die Jungen klagen über die
bescheidenen Entwicklungsmöglichkeiten in der Stadt. Die wenigsten arbeiten
in ihren erlernten Berufen.
Das Verlangen vieler lautet „Veränderungen“. Sie wollen individuelle
Freiheiten, weniger Einmischung des Staates ins eigene Leben, einen
Rechtsstaat. Schnell merken sie, dass sie mit solchen Forderungen bald an
Mauern stoßen, weil die Machtstrukturen stets dieselben bleiben, weil es
keinen Machtwechsel geben darf im Land. „Die rohe Gewalt des Staates tut
ihr Übriges, ja, sie trägt Früchte, das ist erschreckend“, sagt Konstantin
Smirnow. Seit acht Jahren informiert der 39-Jährige mit seinem
Internetportal „Wid sboku“, auf Deutsch „Seitenblick“, über die
Geschehnisse in der Stadt. Daneben macht er Politik für die im Land einzige
unumstritten liberale Partei, „Jabloko“.
Die Mischung von Aktivist und Journalist ist nicht unüblich im Land. „Seit
ich 13 bin, interessiere ich mich für Politik. Nach all den Jahren ist es
vollkommen klar, wie der Hase läuft: Der Staat sagt, fordert, zwingt, der
Mensch gehorcht. Jeder, der nicht gehorcht, hat ein schweres Leben.
Angenehm ist das nicht. Aber es sein lassen, dagegen anzugehen? Dafür bin
ich einfach nicht geschaffen.“ Er fährt durch die umliegenden Dörfer, klagt
über die schlechte Internetverbindung, sieht viel Arbeit vor sich in diesem
Jahr. Es sind Parlamentswahlen im Herbst. „Die Unzufriedenheit der Menschen
wächst, die Zustimmung für Putin wird immer kleiner, die Manipulationen
werden somit größer“, sagt Smirnow, wieder klingelt sein Telefon.
Es sind schmucke Dörfer, die sich an der Schnellstraße M5 Moskau–Rjasan
entlangziehen. Auf den verschneiten Wegen sind meist Alte zu sehen, die
Jungen sind oft zur Schichtarbeit in die Hauptstadt gezogen. Fahren dort
wochenweise Noteinsätze und bekommen viel mehr Geld als in Rjasan. Sie
sehen, wie der Alltag in Moskau funktioniert, vergleichen diesen mit dem
ihren und wollen, dass auch in ihrer Stadt, in ihrem Dorf das Leben nicht
nur zum Überleben da ist. In ihren Küchen schimpfen sie: „Der Staat nimmt
uns die Würde.“ Sagen sie das laut bei Protestaktionen, kommt der Staat und
führt sie ab. Oder er haut drauf. Wie auf junge Demonstranten, für die sich
der hagere Alexander Bechtold mit einem „Was tun Sie denn da?“, gerichtet
an die Omon-Männer, an einem Januarsamstag einsetzen wollte.
Videos zeigen, wie zwei Polizisten in voller Montur den Menschenrechtler
über den Boden ziehen, als wäre er ein Sack Zement. Bechtold lässt die
Bilder im Büro der Rjasaner Vertretung der Jabloko-Partei laufen,
kommentiert sie so, als seien es Ausschnitte aus einem Krimi. „Für die
Sicherheitsorgane sind wir Unmenschen.“
Es ist dieses harte Vorgehen der Polizei, das viele der Protestierenden in
Angst und Schrecken versetzt hat. Dass auch dazu geführt hat, dass bereits
eine Woche später nur noch etwa 200 Unzufriedene in Rjasan auf die Straßen
gingen. Für die nächsten Wochen, möglicherweise bis zum Sommer lassen die
Unterstützer von Alexei Nawalny den Straßenprotest nun ruhen, quer durchs
Land. „Und wenn Moskau nicht ruft, steht Rjasan sowieso nicht auf“, sagt
der Nawalny-Aktivist Roman Bugakow, er wirkt betrübt.
## „Der innere Widerstand wächst, der äußere verstummt“
Zu viele sind in den Arrestzellen eingepfercht, zu viele warten auf
Prozesse. Die Schlagstock-Politik wirkt. Die Menschen haben Angst, ihren
Job zu verlieren, haben Sorge, ihren Kredit nicht mehr abzahlen zu können.
Sie nehmen das Gegebene letztlich hin, egal, wie sehr sie darüber
schimpfen, weil bei vielen die Furcht zu groß ist, auch noch dieses
Gegebene zu verlieren. „Der innere Widerstand wächst, der äußere aber
verstummt“, sagt Bechtolds Frau Sofia Iwanowa, Gründerin der Rjasaner
Schule für Menschenrechte. Die Verbreitung von Informationen habe sich in
den vergangenen Jahren geändert. Schließlich kann heute jeder in Echtzeit
verfolgen, was auf den Straßen des Landes passiere. Was bei Demonstrationen
laufe, was auf den Wachen und teils auch in Arrestzellen geschehe.
„Smartphones sind einfach wunderbar“, sagt die 58-Jährige. In sozialen
Medien dokumentiert sie jede Protestaktion, beschreibt auch einmal den
Amtsschimmel in den Büros, in die man sie vorlädt.
Einst hatte Iwanowa an einem Rjasaner Lyzeum Sozialkunde unterrichtet. „Zu
viel Politik“, befand der Direktor und ließ sie – „auf Befehl von oben�…
wie er erklärte – ihre Kündigung schreiben. „Politik“ aber ließ sie nie
los. Sie bildet Wahlbeobachter*innen aus, mag es auch immer
schwieriger werden, Räume dafür zu finden, und sie zudem riskiert, zur
Registrierung als „ausländischer Agent“ gezwungen zu werden. Mittlerweile
können nicht nur Organisationen, sondern auch Einzelpersonen, die
finanzielle, aber auch ideelle Unterstützung aus dem Ausland bekommen, zu
solchen „Agenten“ erklärt werden.
Ein russisches Gesetz sieht das so vor. „Das Verständnis für Recht, vor
allem aber für Menschenrechte fehlt vielen in Russland, hier wird Recht oft
mit Pflicht verbunden. Dass es Rechte gibt, die allen zustehen, einfach
nur, weil sie Menschen sind, finden viele Russinnen und Russen vollkommen
abwegig“, sagt Iwanowa. Seit Jahrzehnten klärt sie darüber auf. „Eine sehr
langsame Arbeit.“
Draußen in der Dunkelheit schneit es, drinnen haben Bechtold und Iwanowa
Teewasser aufgesetzt. Sie siezen sich, sprechen sich mit Vor- und
Vatersnamen an. Es klingt liebevoll-vertraut und nicht distanziert. Sie
können sich neckisch über Nawalny streiten und über die Sanktionen des
Westens. „Aber Sofia Jurjewna, wie können Sie nur so ein sanftes Wort
wie,unklug' verwenden, wenn Sie über das nicht hinnehmbare Verhalten des
Regimes sprechen?“, sagt er, lächelt, gestikuliert. „Alexander
Fjodorowitsch, man weiß doch nie, wer einem noch so zuhört.“ Es ist keine
Paranoia, es ist die Erfahrung von Kritikern, die auf alles eingestellt
sind. Er ist der optimistische Realist, sie eine ernüchterte Kämpferin.
„Nawalnys Film war der letzte Tropfen auf den heißen Stein. Er hat die
Menschen aufgeregt, aber es hatte sich auch davor einiges angesammelt. Auch
ohne Nawalny merken viele, dass das Unrecht jeden von uns trifft. Die
Gesetze scheitern“, sagt Iwanowa, Bechtold nickt. Anhänger des
Oppositionspolitikers sind sie nicht, seine Rolle als Katalysator der
Proteste rechnen sie dem 44-Jährigen allerdings hoch an. Schließlich habe
der Moskauer viele im Land dazu gebracht, ihren „Kopf einzuschalten“, wie
Bechtold meint. „So wie damals Gorbatschows Reformen meinen Kopf haben
heißlaufen lassen.“
Der politische Wandel hat damals die Sowjetunion zum Einsturz gebracht.
Auch Bechtolds Weltsicht fiel zusammen. Der Geologe wandte sich der
Menschenrechtsbewegung im Land zu. „Aber wir haben es nicht geschafft,
haben es nicht hingekriegt, ein normales Land zu erschaffen.“ Resignation
aber ist seine Sache nicht. Bechtold sieht sich weiterhin in der
Verantwortung, für die Freiheitsrechte eines jeden zu kämpfen. „Russland
ist ein unglückliches Land, weil es immer noch einen Zaren gibt, keinen
gewählten Präsidenten.“
Das Ehepaar kennt Durchsuchungen, kennt Vorladungen der Behörden, auch
Denunziationen und falsche Gerüchte. Sofia Iwanowa sagt: „Wir sind keine
Ratten, die das sinkende Schiff als Erste verlassen. Gerade in den letzten
Tagen hat sich gezeigt, wie viele in der Stadt, ja, quer durchs Land die
Lügen des Regimes satthaben. Wir sind nicht allein, das gibt Kraft zum
Weitermachen.“
8 Feb 2021
## LINKS
[1] /Nawalny-Proteste-in-Moskau/!5745996
[2] /Opposition-in-Russland/!5745921
[3] https://www.stadt-muenster.de/international/staedtepartnerschaften/rjasan.h…
## AUTOREN
Inna Hartwich
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