| # taz.de -- Die Wahrheit: Vom Scheibentod bedroht | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Folge 110): Rührendes, | |
| > aber auch Erhellendes von der doch sehr filigranen Waldschnepfe. | |
| Bild: Die Waldschnepfe am wärmenden Revers, romantisch und bedeutsam das... | |
| Die Waldschnepfe ist ein Vogel, der fast überall bejagt werden darf, aber | |
| nicht in Berlin. Dafür werden die Waldschnepfen hier oft Opfer der | |
| unseligen postmodernen Glasarchitektur. | |
| Kürzlich flog eine Waldschnepfe auch gegen die Glasfassade des | |
| taz-Gebäudes. Sie taumelte auf die Erde, versuchte wieder hochzufliegen und | |
| trudelte ins Kellertreppenhaus, wo sie sich verwirrt und traurig in eine | |
| Ecke hockte. Die Kantinenmitarbeiterin Yvi sah sie dort, und weil sie nicht | |
| wusste, was sie mit dem armen Vogel machen sollte, versuchte ihre Kollegin | |
| alle möglichen Stellen anzurufen, die das vielleicht wüssten: die | |
| Wildvogelstation des Nabu, mehrere auf Vögel spezialisierte Tierärzte, eine | |
| Spatzenretterin, eine Mauerseglerexpertin und so weiter. Aber sie erreichte | |
| niemanden. | |
| Weil sie weiterarbeiten mussten, baten sie schließlich einen der zwei | |
| taz-Aushilfshausmeister, sich um den Problemvogel zu kümmern. Dazu gaben | |
| sie ihm einen Karton, ausgepolstert mit Papierschnipseln, in den er die | |
| kleine Waldschnepfe reinhob, nachdem er sie eingefangen und ihr – | |
| allerdings vergeblich – einen Becher Wasser angeboten hatte. Was frisst so | |
| eine Waldschnepfe eigentlich? Niemand wusste es, aber alle schossen Fotos | |
| vom Vogel, mit und ohne Aushilfshausmeister, schließlich nahm er die junge | |
| Waldschnepfe in ihrem Karton mit an seinen Schreibtisch. | |
| Dort rief er noch einmal – erneut vergeblich – alle Hilfsstellen für | |
| verletzte Vögel an, eine Veterinärin, Almut Malone, besaß sogar ein Gehege | |
| für verletzte Waldschnepfen in ihrem Garten, aber auch sie erreichte er | |
| nicht. | |
| ## Munteren Mutes | |
| Im Karton versuchte derweil die kleine Schnepfe heftig und laut mit ihrem | |
| langen Schnabel den Deckel aufzustoßen, um ins Freie zu gelangen. Das | |
| schaffte sie jedoch nicht. Der Aushilfshausmeister nahm sie schließlich aus | |
| dem Karton und in seinen Arm, wo sie ruhig sitzen blieb und sich umschaute. | |
| Weil sie alles in allem einen ganz munteren Eindruck machte, beratschlagte | |
| er mit einem Redakteur, wo man die Waldschnepfe am besten freilassen | |
| könnte. Es brauchte einen Park mit Unterholz und vielen Büschen. | |
| Schließlich entschieden sie sich für den großen Garten des Jüdischen | |
| Museums. Dort gibt es neben einer Wiese eine zwar sauber geschnittene, aber | |
| dichte Hecke, die mindestens 10 Meter breit und 30 Meter lang ist. Zwar | |
| musste er dort erst einmal in der Sicherheitsschleuse mühsam mit einer Hand | |
| alle Metallteile, Schlüssel, Handy, Feuerzeug, Brille etc. abgeben, die auf | |
| einem Band durchleuchtet wurden, aber er brauchte seine Coronaschutzmaske | |
| währenddessen nicht aufzusetzen und wurde danach gleich in den Garten | |
| hinterm Museum entlassen, nachdem alle Sicherheitsleute die Waldschnepfe | |
| mitleidig betrachtet und ihre Schönheit bewundert hatten. | |
| Er setzte dann den kleinen Vogel mit seinen großen Füßen vorsichtig ins | |
| Gras, sofort lief der in die Hecke, schon nach ein paar Metern sah er ihn | |
| in dem Zweiggewirr nicht mehr. Weg war die kleine einsame Waldschnepfe. Ein | |
| wenig traurig verließ er den Garten, während er sich vorstellte, der kleine | |
| Vogel, den er an seiner Brust gewärmt hatte, hätte es vorgezogen, bei ihm | |
| zu bleiben – wie schön das gewesen wäre, romantisch und bedeutsam. | |
| ## Mit langem Schnabel | |
| Als er in die taz zurückkam und wieder an seinem Schreibtisch saß, gab er | |
| bei Google das Stichwort „Waldschnepfe“ ein. Auf der Fotoseite fand er zig | |
| Bilder von Waldschnepfen und kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem | |
| kleinen Vogel mit dem langen Schnabel, der wahrscheinlich immer noch in der | |
| Hecke des Jüdischen Museums saß und sich jetzt hoffentlich langsam von dem | |
| Schreck erholte, wirklich um eine Waldschnepfe gehandelt hatte. Bei den | |
| Texteinträgen im Internet stieß er als Erstes auf eine Seite des Nabu mit | |
| dem Titel „Scheibentod der Waldschnepfen. Wir fordern vogelfreundliche | |
| Maßnahmen“. | |
| Über solche Maßnahmen hatte er bereits mehrmals mit den zwei | |
| taz-Geschäftsführern gesprochen und war sogar einmal zu einer Sitzung der | |
| finnischen Künstlerin Maria-Leena Räihälä gegangen, die in ihrem Projekt | |
| „Morgenvogel Real Estate“ nach Vorgaben ihres Vaters, eines Oberförsters, | |
| Nistkästen baut, die sie verkauft und wartet. | |
| Auf ihrem Treffen ging es um Schutzmaßnahmen gegen den „Scheibentod“. Damit | |
| beschäftigten sich zwei der anwesenden Architektinnen, die regelmäßig | |
| einige großflächig verglaste Gebäude, unter anderem die CDU-Zentrale und | |
| die Neubauten im Regierungsviertel, aufsuchten, um dort tote Vögel zu | |
| erfassen. Dabei zählten sie auch die blutig-verschmierten Flecken auf dem | |
| Glas mit, die dagegen geflogene Vögel hinterlassen hatten. Angeblich ist | |
| der „Scheibentod“ mittlerweile die häufigste durch Menschen verursachte | |
| Todesart von Vögeln. | |
| Die beiden Frauen kamen ein paar Tage später zur taz und schauten sich die | |
| an drei Seiten verglaste Fassade des neuen Gebäudes an, die bereits drei | |
| Tauben das Leben gekostet hatte, eine hatte erst ein Bussard und danach | |
| eine Nebelkrähe gefressen. Die unappetitlichen letzten Reste hatte dann der | |
| Aushilfshausmeister beseitigt – unter den empörten Blicken der krächzenden | |
| Nebelkrähe. | |
| Die vogelfreundlichen Architektinnen gaben ihm zwei Broschüren mit | |
| Produkten, die versprachen, Glasfronten „vogelsicher“ zu machen. Diese | |
| Broschüren reichte er an einen der Geschäftsführer weiter, der auch | |
| versprach, sie zu lesen – aber dann nichts unternahm. | |
| Seit das mit den Corona-Eindämmungsmaßnahmen begann, hatte die | |
| taz-Geschäftsführung sicher auch Wichtigeres zu tun, dachte der | |
| Aushilfshausmeister. Da er sich, obwohl philogyn, seit geraumer Zeit in | |
| einer Andropause befand, machte ihn ihr Anthropozentrismus, verbunden mit | |
| einer gewissen Staatsgläubigkeit, jedoch schlecht gelaunt. Zwar verstand | |
| er, dass die Regierung und alle, die sich dafür hielten, laufend neue | |
| Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie erlassen mussten, dass sie gar | |
| nicht anders konnten, aber Aufgabe der davon Betroffenen war es | |
| demgegenüber doch, diese zu interpretieren und zu versuchen, sie situativ | |
| (wenn schon nicht situationistisch) in ihre eigenen Interessen und Regeln | |
| umzufrisieren. Das vermisste er, gerade in der taz. | |
| Alsdann recherchierte er noch einmal über Waldschnepfen: Weil sie im | |
| Zickzack fliegen, sei die Jagd auf diese Vögel besonders schwierig, hieß | |
| es. Dafür seien sie besonders schmackhaft. Die Waldschnepfen selbst | |
| ernähren sich von Würmern und Insekten, dazu stochern sie mit ihrem langen | |
| geraden Schnabel im lockeren Waldboden. Wenn es kalt wird und sie keine | |
| Insekten mehr finden, fressen sie auch Beeren und Pflanzenteile. Wenn es | |
| noch kälter wird, machen sie sich auf nach Süden, in den Mittelmeerraum – | |
| bis nach Israel. | |
| Dann war die Waldschnepfe im Garten des Jüdischen Museums ja fast am | |
| richtigen Ort, dachte er. Aber nein, um von dort loszufliegen, hätte der | |
| Vogel wohl ein paar erwachsene Waldschnepfen gebraucht, die ihn gen warmes | |
| Winterquartier hätten geleiten können. Es war zu traurig: So klein und so | |
| allein, und immerzu kälter wurde es auch noch. Ich hätte sie behalten und | |
| mich um sie kümmern sollen, dachte er bekümmert. | |
| 23 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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