# taz.de -- Nachruf auf Karsten Thielker: Begnadet und frei von Starallüren | |
> Er fotografierte den Genozid in Ruanda und bekam den Pulitzer-Preis. | |
> Karsten Thielker ist mit nur 54 Jahren verstorben. Sein Werk bleibt. | |
Bild: Der verstorbene taz Fotograf Karsten Thielker am 1. Mai 2017 in Berlin Kr… | |
BERLIN taz | Karsten Thielker ist gestorben, gestorben, gestorben. Ich muss | |
mich dessen immer wieder selbst vergewissern, dass er nie, nie wieder im | |
Büro um die Ecke biegen wird, um mit seiner schönen, rauen und warmen | |
Stimme zu fragen: „Geht jemand Mittag essen?“ Umgekehrt können wir ihn nie | |
wieder zu den unmöglichsten Tageszeiten anrufen. Spät abends, dringend, | |
gerne auf den letzten Drücker. Immer hatte er ein offenes Ohr für uns, hat | |
jeden Auftrag irgendwie eingerichtet. | |
Seine Bilder kamen pünktlich, keine Nachfrage nötig. Die Qualitätslatte | |
hing hoch, und immer wieder hat er mich überrascht nach so vielen Jahren | |
der Zusammenarbeit, „ich hab da mal was ausprobiert“. Genial, wie er nur | |
mit natürlichem Licht zaubern konnte, wie er auch in Momenten größter | |
Anspannung den richtigen Moment erwischte. Er spielte gerne mit Formaten, | |
feilte an Zusammenstellungen, war immer auf der Suche. | |
Karsten Thielker wurde im November 1965 geboren. Und er macht seinen Weg | |
als Autodidakt. Nach einem kurzen Intermezzo bei der Lokalpresse will er | |
unbedingt zur internationalen Nachrichtenagentur ap. Und tatsächlich | |
erkennt dort jemand sein Talent: 1990, als erst 25-Jähriger, heuert er bei | |
ap an, bleibt bis 1996 und wird in blutige Konflikte geschickt. Bosnien. | |
Somalia. Und er fotogafiert den Genozid in Ruanda. | |
Er sieht schreckliche Dinge, die er nie vergessen kann – nicht alles kann | |
er fotografieren. Er wird bei der Arbeit schwer verwundet, überlebt mit | |
sichtbaren Narben am Oberkörper. 1995 erhält er als junger Fotograf die | |
höchste Trophäe der Zunft, den Pulitzer-Preis – zusammen mit anderen | |
Kollegen von ap, die den Genozid in Ruanda dokumentiert hatten. Sein Bild | |
ist ein Foto, das geflüchtete ruandische Tutsi in einem Flüchtlingslager in | |
Tansania zeigt, die Wasserkanister auf ihrem Kopf tragen. | |
## Kämpfte stets um das beste Bild | |
1997 hat Karsten Thielker genug vom Krieg und entschließt sich, fortan | |
Berlin zu seiner Homebase zu machen. Hier kreuzt sich sein Weg | |
glücklicherweise mit der taz-Fotoredaktion. Er begleitet JournalistInnen zu | |
Reportagen, seine Porträts sind so gut, dass sie für den Betrachter zu | |
einer interessanten Begegnung werden. | |
Er wirft sich in Großereignisse wie die Filmfestspiele und Demonstrationen: | |
G7, G8, 1. Mai, Fridays for Future. Und er bleibt ein genauer Beobachter. | |
Sobald sich aber Routine einschleicht, wechselt er das Thema. Er liefert | |
begnadete Bilder und ist frei von allen Starallüren. Er kämpft mit sich und | |
der Redaktion um sein bestes Bild in großer innerer Anspannung. Er ist kaum | |
mit sich zufriedenzustellen. | |
Neben den Auftragsarbeiten liefert Karsten Thielker konstant seine eigenen | |
Bilder, „ich hab mal wieder was geschickt“. Ergebnisse des Herumziehens, | |
des Durch-die-Stadt-Schlenderns. „Berlin daily“ wird das Motto seiner | |
Arbeitsweise, und so nennt er später eine Galerie und Webseite, über die er | |
auch Bilder von Kollegen vertreibt. Uns liefert er mit der Bemerkung | |
„frische Fotos“ konstant seine Impressionen. | |
Seinen Sucher richtet er auf Menschen, die am Boden liegen, genauso | |
ausführlich wie auf schöne, erfolgreiche Menschen. Und er liebt es, wenn | |
schräge Typen vor seine Kamera laufen. Er geht auf den ungeheuren Alltag in | |
all seiner Schönheit und Hässlichkeit ein. Und er fotografiert die | |
Hochzeiten seiner Freunde, in Schwarz-Weiß. Es entstehen kostbare | |
Glanzstücke seines Könnens. Die Anspannung der Opas, Omas, Tanten, Freunde, | |
das Ankleiden der Braut, das Jawort. Familienbildnisse wie Gemälde. Mit | |
Stolz zeigt er die Aufnahmen, die nicht für die Presse bestimmt sind. Und | |
eine andere Seite von Karsten Thielker. Da ist ein Schmelz. | |
## Häufiger Gast im taz-Haus | |
Von großer Zartheit sind seine Kinderbilder. Frei von jeglichem Kitsch | |
widmet er sich seinem Neffen Linus, dessen Heranwachsen er lange Zeit mit | |
der Kamera festhält. 25 Jahre später will er beide Themen verbinden. 2019 | |
erhält er ein Stipendium für sein Projekt Linus in Ruanda. Er konzentriert | |
sich auf die junge lebenshungrige Generation und dokumentiert deren Alltag. | |
Und die Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Völkermord an den ruandischen | |
Tutsi vor 25 Jahren. | |
Im Frühjahr, während des Corona-Lockdowns, läuft Karsten noch einmal zur | |
Hochform auf. Er liefert täglich Bilder von der gespenstisch stillen Stadt, | |
den verhuschten Menschen, den feiernden Abiturienten. Bis er völlig | |
ausgepowert ist. Er fordert sich, ehrgeizig, bis sein Körper nach einer | |
Pause verlangt. | |
Als häufiger Gast im taz-Haus hat er auch unser Kollektiv dokumentiert, die | |
Kollegen und ihre eigenwilligen Arbeitsplätze: Individuen in der Menge, | |
Hausschuhe, die Hunde, ein Nacken. Kleine Details. | |
Es bleibt die Erinnerung an seine überbordende Kreativität, für die eine | |
Zeitungsseite immer zu klein war. | |
12 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Petra Schrott | |
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