| # taz.de -- Physiker über epidemiologische Modelle: Der Knackpunkt ist der Men… | |
| > Das Infektionsgeschehen in Deutschland hat sich auf einem konstanten | |
| > Niveau eingependelt. Modellierer stehen vor einem Rätsel, sagt Dirk | |
| > Brockmann. | |
| Bild: Mund-Nasen-Schutz tragen und Abstand halten beeinflussen das Infektionsge… | |
| taz: Herr Brockmann, die USA, Spanien, Frankreich und einige andere Länder | |
| erleben [1][derzeit eine zweite Welle der Pandemie]: die Infektionen mit | |
| dem Coronavirus steigen nach Aufhebung des Lockdowns erneut an. In | |
| Deutschland dagegen scheinen sich die Fallzahlen – nach einem zunächst | |
| moderaten Anstieg in Folge der Lockerungen – inzwischen auf einem relativ | |
| konstanten Niveau eingependelt zu haben. Woran liegt das? | |
| Dirk Brockmann: Tatsächlich haben wir in Deutschland ein völlig anderes | |
| Szenario als in anderen Ländern. Warum das so ist, ist ein großes Rätsel. | |
| Ich habe hierüber mit Modellierern weltweit gesprochen, also mit | |
| Wissenschaftlern, die anhand mathematischer Modelle Prognosen dazu | |
| erstellen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickeln wird. Wir sind | |
| überrascht über Deutschland, aber wir haben derzeit keine Erklärung. | |
| Welchen Verlauf hatten Sie für Deutschland erwartet? | |
| Der Klassiker geht so: Die Epidemie bricht aus, die Zahlen schießen in die | |
| Höhe, es folgt der Lockdown, die Zahlen sinken, es wird gelockert, es kommt | |
| die zweite Welle. So ist es zum Beispiel in Frankreich. Dann gibt es | |
| Länder, in denen das Virus nahezu verschwunden schien, Australien und | |
| Neuseeland etwa, aber dann kamen Re-Importe, und die Infektionen stiegen | |
| wieder an. Und schließlich ist da Deutschland, aber auch die Niederlande | |
| und Skandinavien, wir sind also nicht allein. Es gibt bei uns seit Wochen | |
| nahezu konstante Fallzahlen jeden Tag, wir stellen kaum noch Schwankungen | |
| innerhalb des Infektionsgeschehens fest. Der [2][R-Wert…] | |
| … der angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt | |
| … | |
| … dieser R-Wert dümpelt seit Wochen um den kritischen Wert 1 herum, an der | |
| Schwelle zum exponentiellen Wachstum also. Mal liegt er ein wenig unter 1, | |
| mal etwas darüber. Es gibt nach meiner Erkenntnis kein überzeugendes | |
| Modell, das diese Art von Dynamik erklärt. | |
| Die [3][Menschen tragen neuerdings Masken], sie halten mehr Abstand als | |
| früher. Könnte es daran liegen? | |
| Klar, das veränderte Verhalten spielt eine Rolle. Aber eigentümlich ist | |
| doch, dass es weder immer weniger Fälle werden – noch immer mehr. Es muss | |
| noch etwas anderes dahinter stecken. Die einzig plausible Erklärung dafür | |
| ist, dass wir es hier mit selbstorganisierter Kritikalität zu tun haben. | |
| Selbstorganisierte … wie bitte? | |
| Selbstorganisierte Kritikalität. Der Begriff kommt aus der Physik. Bezogen | |
| auf die Pandemie bedeutet er: Als Antwort auf das Ausbruchsgeschehen ändern | |
| Menschen ihr Verhalten. Das drückt die Zahl der Neuinfektionen. Daraufhin | |
| verhalten sich die Menschen wieder „normaler“, die Fallzahlen steigen | |
| wieder, die Menschen werden wieder vorsichtiger. So pendelt sich das System | |
| am kritischen Wert von selbst ein. Das ist ein möglicher Mechanismus. Die | |
| Frage, die sich daran anschließt, ist, welche dynamischen Zutaten notwendig | |
| sind, damit eine Epidemie entweder eine Doppelwelle nach sich zieht oder | |
| aber zum Aussterben führt oder eben zum Einpendeln an diesem kritischen | |
| Wert. Weltweit kniffeln Wissenschaftler daran, dynamische Modelle zu | |
| entwickeln, die zeigen, wovon abhängt, welche dieser drei Möglichkeiten | |
| wann und unter welchen Umständen wahrscheinlich wird. | |
| Modellierungsstudien, die voraussagen sollen, wie sich die Pandemie | |
| entwickeln wird und welche Faktoren das Infektionsgeschehen wie | |
| beeinflussen, haben unter Corona einen großen Hype erfahren. Der | |
| Erkenntnisgewinn indes hält sich bislang in Grenzen. | |
| Klassischerweise arbeiten Modellierer aus dem Bereich der computational | |
| epidemiology mit bereits existierenden Daten aus der Vergangenheit. Zu | |
| prognostizieren, wie eine Epidemie, die noch in vollem Gange ist, in der | |
| näheren Zukunft verlaufen wird, ist eine recht neue Sache. Es wurde | |
| erstmals bei der [4][Schweinegrippe-Pandemie im Jahr 2009] versucht und | |
| dann bei der [5][Ebola-Epidemie in Westafrika 2014/2015;] in beiden Fällen | |
| ist es, meistens jedenfalls, schiefgegangen. | |
| Woran liegt das? | |
| Viele dieser mathematischen Modelle, das sehen wir auch jetzt bei Covid-19, | |
| betrachten die Pandemie unabhängig davon, wie das menschliche Verhalten – | |
| als Antwort auf das Infektionsgeschehen – sich ändert. Sie modellieren die | |
| Ausbreitung der Pandemie sehr gut, sie versuchen, möglichst alle Details zu | |
| erfassen und wirklichkeitsgetreu abzubilden. Aber sie lassen außer Acht, | |
| dass so ein Virus sich eben nicht mal unbemerkt durch die Bevölkerung | |
| frisst. Der Knackpunkt ist der Mensch. Der Mensch reagiert auf die | |
| Pandemie. Doch wie er reagiert, kann sehr unterschiedlich sein und hängt | |
| von vielen Faktoren ab. Diese Rückkopplungen sind komplex und entsprechend | |
| schwer zu modellieren. | |
| Was macht ein gutes Modell aus? | |
| Ein gutes Modell berücksichtigt das Wesentliche und verwirft das | |
| Unwesentliche. Ein Smiley etwa ist ein gutes Modell für ein Gesicht. Das | |
| Smiley zeigt uns, was notwendig ist, um ein Gesicht zu identifizieren: die | |
| Augen, der Mund, der Kreis drum herum. Ohren, Nase oder Haare dagegen sind | |
| verzichtbar. Was ich sagen will: Wir müssen differenzieren zwischen | |
| wichtigen und unwichtigen Parametern. Das tun detailreiche Modellierungen | |
| oft leider nicht. Und wir müssen die Modelle auf ihre strukturelle | |
| Stabilität hin untersuchen. Wir müssen wissen, welche der Parameter zu | |
| völlig anderen Ergebnissen führen, sobald wir ein wenig an ihnen wackeln. | |
| Wie sich das Infektionsgeschehen im Herbst bei uns konkret entwickeln wird, | |
| lässt sich angesichts dieser Wackligkeiten nicht vorhersagen? | |
| Es ist ein bisschen wie bei der Wettervorhersage: Man kann kurzzeitige | |
| Prognosen machen, für eine Woche vielleicht, aber Langzeitszenarien halte | |
| ich für nicht seriös. Es gibt allerdings hervorragende Modelle, die | |
| verschiedene Szenarien skizzieren, die im Herbst eintreten könnten. Diese | |
| Modelle sind sehr robust. Welches der Szenarien am Ende eintrifft, können | |
| sie freilich nicht vorhersagen. Aber es ist schon mal ein Gewinn, zu | |
| wissen, wie es aussehen könnte. | |
| Die Klimaforschung wäre ohne Modellierungsstudien undenkbar – und leistet | |
| dank dieser Modelle recht präzise Vorhersagen. Was hat sie | |
| epidemiologischen Modellen voraus? | |
| Ha, das Klima! Schön, dass Sie das ansprechen. Es stimmt, Klimamodelle sind | |
| einerseits verwandt, aber andererseits völlig anders. Richtig ist, dass | |
| auch in der Klimaforschung sowohl dynamische als auch statistische Modelle | |
| eine Rolle spielen. Aber im Gegensatz zu epidemiologischen Modellen | |
| basieren Klimamodelle auf solider Physik, von der man weiß, dass sie | |
| richtig ist. In der Regel treffen Klimamodelle Wenn-dann-Aussagen. Also | |
| etwa: „Wenn es so weitergeht mit der Erderwärmung, dann passiert | |
| Folgendes.“ Und diese Erkenntnisse aus „dann passiert Folgendes“ entstamm… | |
| komplexen Computermodellen, die die Atmosphäre, die Geosphäre und die | |
| Hydrosphäre modellieren. Deren Gesetzmäßigkeiten sind weitestgehend | |
| bekannt und belastbar. | |
| Und es gibt da keine Unsicherheiten? | |
| Einzelne Parameter kennt man vielleicht nicht so ganz genau, das schafft | |
| dann gewisse Unsicherheiten, aber im Großen und Ganzen kennt man die | |
| Struktur der Klimadynamik weitaus besser und kann sie insofern besser | |
| modellieren als etwa die Risikowahrnehmung beim Menschen. Dazu kommt: | |
| Klimamodelle verfolgen in der Regel Kurvenverläufe aus der Vergangenheit, | |
| sie vergleichen also beispielsweise die derzeitige Erderwärmung mit den x | |
| Erderwärmungen, die es bereits gegeben hat in der Historie. Klimamodelle | |
| können so geeicht werden. Diese langzeitprognostischen Modelle sind viel | |
| solider als epidemiologische Modelle, die Prognosen über einige Monate | |
| abgeben sollen. | |
| Angesichts der Flut immer neuer Modellierungen zum Verlauf der Pandemie ist | |
| es für Laien schwer, den Überblick zu behalten. Was raten Sie? | |
| Es gibt ein weit verbreitetes Missverständnis darüber, was Modelle sind. | |
| Zum einen müssen wir Modellierer deswegen besser erklären, wie | |
| mathematische Modelle funktionieren, was sie leisten können – und was | |
| nicht. Modelle sollen ja, vereinfacht gesagt, eine Prognose abgeben, wie | |
| eine Sache sich entwickeln wird, oder ein Phänomen erklären. Wenn Sie mir | |
| jetzt aber sagen, entwickeln Sie mir doch bitte ein Modell für die | |
| Covid-19-Pandemie, dann ist das so, als wenn Sie mich um ein möglichst | |
| detailgetreues Modell für ein Fahrzeug bäten. Und da wüssten Sie schon, wie | |
| grotesk diese Bitte anmutet: Denn es gibt Lastwagen und Pkw und Panzer und | |
| Kräne – und sie alle haben unterschiedliche Funktionen. Das ist bei | |
| Modellen auch so; es gibt dynamische Modelle, statistische Modelle, | |
| agenten-basierte Modelle, Metapopulationsmodelle, qualitative und | |
| quantitative Modelle, Netzwerkmodelle und noch viele mehr. Wir müssen uns | |
| also zunächst darüber verständigen, welche Aussagen wir worüber machen | |
| möchten und auf welchem Level. | |
| 17 Sep 2020 | |
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