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# taz.de -- Abgesagtes Oktoberfest: Wiese ohne Rausch
> Wegen Corona bleibt diesen Samstag das Münchner Bierspektakel aus. Das
> ist einerseits wurscht, anderseits schade.
Bild: In München fällt das Oktoberfest wegen Corona aus und die Wiesn blüht …
Keine Böllerschüsse um 12 Uhr mittags. Keiner, der mitzählt, wie viele
Schläge der Münchner Oberbürgermeister beim Anzapfen des ersten Fasses
braucht. Und keine gespielten Frotzeleien zwischen dem roten Stadtoberhaupt
und dem schwarzen Ministerpräsidenten. Auch andere Dinge werden anders sein
in München an diesem 19. September 2020, dem Tag der Nichteröffnung des
Oktoberfests. Niemand wird sich fragen, wie es sein kann, dass keine zwei
Stunden, nachdem das erste Bier ausgegeben wurde, schon
[1][Vollrauschleichen am Wegesrand liegen.] Und keiner wird sich wundern
über die merkwürdige Farbzusammensetzung der Mageninhalte, die zur
Oktoberfestzeit für gewöhnlich auf den Zufahrtswegen zur Festwiese
zurückgelassen werden.
Kaum Englisch wird zu hören sein in der Stadt, nur wenig Italienisch und
die drolligen Chinesen, die sich riesengroße Filzhüte kaufen, bevor die ein
Bierzelt betreten, weil sie glauben, dass sich das so gehört, werden auch
nicht kommen. München wird unter sich bleiben.
Die Stadt wird den echten Münchnern gehören. Das sind vor allem Zugezogene,
die mit ihren viel zu großen Autos zu ihren viel zu teuren
Innenstadtwohnungen fahren und sich darüber ärgern, dass der Lieferservice
mit Biohundefutter aus dem Loisachtal für ihre französische Bulldogge schon
wieder zu spät gekommen ist. Die anderen wohnen zumeist eh nicht in der
Stadt, weil sie sich nicht mehr leisten können als eine betonierte
Schuhschachtel in Vororten mit Namen wie Puchheim-Bahnhof, Aschheim oder
Feldkirchen-Westerham
Sie werden in diesem Jahr nicht aufeinandertreffen. Dazu immerhin war das
Oktoberfest gut: Dass diejenigen, die es sich leisten konnten oder deren
Firma es sich leisten wollte, von ihrer Loge im Bierzelt aus einen Blick
werfen können [2][auf den Pöbel im Mittelschiff der großen Bierhallen.] Auf
der Wiesn, da trifft sich ganz München und trinkt doch aneinander vorbei.
So war das immer. Und am nächsten Tag steht in der Zeitung, welcher Promi
welchem Star seine Zunge in den Mund geschoben hat.
## Ein mögliches Freiheitsversprechen
Zum Wiesenpöbel, dem oft nichts anderes übrigbleibt, als sich mit einem
zugigen Platz im Freien vor den Bierzelten zu begnügen, gehört die Jugend.
Die hat einen schweren Stand. Ihr ist ein Sehnsuchtsort genommen in diesem
Jahr. Und wenn es nur ein Rausch ist, ein echter Wiesnrausch, irgendetwas
treibt die jungen Menschen auf das große Fest. So war es immer. Auch wenn
seit dem Nazianschlag von 1980, der zwölf Wiesenbesuchern das Leben
kostete, eine immerwährende Terrordrohung über der Theresienwiese liegt,
und man keine Tasche mit aufs Gelände nehmen darf, seit man die Bedrohung
durch Islamisten zu spüren glaubt, haben die jungen Menschen den Eindruck,
dass es in diesen zwei magischen Wochen mehr erlaubt ist als sonst, dass
man sich gehenlassen kann, ohne dass jemand irgendetwas sagt. Die Wiesn
kann ein Freiheitsversprechen sein.
Die Jugend wird in der Coronasprache der Münchner Boulevardzeitungen
Party-Volk genannt. Dass sich Leute treffen, um zusammen unter freiem
Himmel zu feiern, gilt beinahe als Schwerverbrechen in diesem Sommer. Auf
der kleinen Grünanlage vor dem Gärtnerplatztheater unweit des
Viktualienmarktes hat sich dieses Volk besonders gerne niedergelassen. Seit
einer Woche darf im Umkreis von 500 Metern da kein Alkohol mehr verkauft
werden. Trinkverbot herrscht ab 23 Uhr. Wird München ausgerechnet zur
Wiesnzeit trocken?
Ach woher denn! Nur der Jugend macht man das Saufen madig. Sonst soll schon
gebechert werden. Die Wirtshaus-Wiesn wird vom Stadtmarketing fleißig
beworben. Auf muenchen.de heißt es: „Das einmalige, gemütliche und griabige
Wiesn-Gefühl findet Ihr 2020 in den Münchner Gaststätten.“ In den
Wirtschaften der Wiesnwirte und in anderen Einrichtungen der Münchner
Großgastronomie soll es so etwas wie eine Hygieneoktoberfest geben.
## Wiesn-Ultra
Moses Wolff freut sich schon drauf. Der ist ein echter Wiesnmensch, ein
Wiesn-Ultra. 16 Tage dauert das Oktoberfest normalerweise. Der Humorist und
Autor, der auf dem besten Weg ist, ein Münchner Gesamtkunstwerk zu werden,
ist dann jeden Tag „draußen“, wie die Münchner sagen, die noch Bairisch
sprechen. Als es die Antiterrormaßnahmen noch nicht verhindert haben, hatte
er einen eigenen Briefkasten am Hacker-Zelt, einer himmelweißblauen
Bierkathedrale mit fast 7.000 Sitzplätzen.
Den Wirten des Hackerzelts, der Familie Roiderer, bleibt Moses Wolff auch
in diesem Jahr erst mal treu. Am Samstag hat er einen Tisch reserviert im
Wildpark von Straßlach im Süden der Stadt. Es wird echtes Oktoberfestbier
geben. Das wird also auch in diesem Jahr gebraut. Um die 12 Euro musste man
für den Liter auf dem Oktoberfest im vergangenen Jahr zahlen. Auf der
Wirtshaus-Wiesn soll es weniger sein. 10 Euro soll die Mass etwa im
Paulanergarten oben auf dem Nockherberg kosten. Ein wahres Schnäppchen muss
Moses Wolff da denken. Er vergleicht das besondere Gebräu mit den besten
Weinen der Welt. „Da sagt auch keiner was, wenn eine Flasche 60 Euro
kostet.“
Wenn es einer weiß, dann der Moses. Was man über das Oktoberfest wissen
möchte und noch viel mehr, steht in seinem „Oktoberfest-Handbuch“, das im
vergangenen Jahr erschienen ist. Wie die Tracht auf das Oktoberfest
gekommen ist, kann man da nachlesen. Dass erst in den späten 90er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts der Lederhosenwahnsinn und der Dirndlirrsinn
begonnen hat zum Beispiel. Vorher durfte man sich ohne Verkleidung
betrinken. Nur die Honoratioren vom Land und die alteingesessenen Patrizier
der Stadt sind im Anzug mit Eichenlaub-Revers und Münzknöpfen erschienen.
Die Proletarier, die sich am sogenannten Maurermontag in Raufereistimmung
gesoffen haben, hatten dafür nur Hohn und Spott übrig: Raiffeisensmoking
nannten sie die Trachtenanzüge der Herrschaften.
## In Tracht aufs nächste Event
Die Wirte der Wirtshaus-Wiesn würden sich freuen, wenn die Leute heuer zu
ihren Events in Tracht erscheinen würden. Wer auf Instagram ein Bild von
sich im Bayernkostüm veröffentlicht und dabei den Hashtag #aufbrezelt2020
verwendet, kann einen Tisch auf dem echten Oktoberfest im nächsten Jahr
gewinnen. Social Media und Lederhosen. In München geht man mit der Zeit.
Trachten tragen kann sich lohnen. Wer in einem Laden in der Innenstadt für
50 Euro Dinge kauft und dabei eine Tracht anhat, der kriegt einen Gutschein
für eine Halbe Bier. Ob da wohl Wiesnstimmung aufkommt.
Ein bisschen vielleicht, meint Moses Wolff. Er hat ein schönes Bild vor
Augen, das Menschen zeigt, die zwei Wochen lang durch München ziehen auf
dem Weg zu einer der 54 gastronomischen Einrichtungen, die sich zum Teil
der Ersatzwiesn erklärt haben. Er weiß, dass das nicht wirklich ein
Oktoberfest sein wird, so wie er es in seinem gerade erschienenen Roman
„Liebe machen“ beschreibt. Das endet auf dem Oktoberfest 2020, wo eine
Kölnerin und ein Hamburger, die der Wiesngott füreinander bestimmt haben
muss, als sie sich 1970 zu Füßen der Bavaria auf der Theresienwiese in die
Augen geschaut haben, nach 50 Jahren endlich zusammenkommen. Wer das Buch
aufschlägt, dem weht der Geruch von gebrannten Mandeln in die Nase und beim
Lesen kann man es beinahe schmecken, wie hopfig das Wiesnbier über die
Jahre geworden ist.
Am Ende wird man keinen Rausch heimtragen nach der Lektüre. „Wir haben eine
pandemische Lage und damit müssen wir umgehen“, sagt Wolff, der unbedingt
das beste darin sehen will, dass zumindest ein bisschen Gemütlichkeit mit
Hopfendeko, Haxn und Hendl organisiert wird. Brutal gut gelaunt will der
Komiker in die erste Wirtshaus-Wiesn gehen. Dabei ist das Jahr alles andere
als lustig für einen wie ihn, der von Live-Auftritten auf kleinen Bühnen
lebt. 140 Auftritte standen zum Jahresbeginn in seinem Kalender für 2020.
Am Ende wird er keine 40 absolviert haben, sagt er. Dann sinniert er schon
wieder über ein neues Trachtenaccessoir, das dieses Jahr Premiere haben
wird, den Mundschutz. Einen solchen mit Edelweißdeko hat er vor Kurzem
gesehen. Der hat ihm gefallen. Auch König Ludwig mache sich gut über Mund
und Nase. Na, dann Prost!
19 Sep 2020
## LINKS
[1] /Kolumne-Fast-Italien/!5448232
[2] /ARD-Miniserie-Oktoberfest-1900/!5709675
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
Oktoberfest
München
Wiesn
Fernsehserie
Schwerpunkt Rechter Terror
Schwerpunkt Coronavirus
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herb. Er erinnert sich gern an seine Wiesn-G’schichten zurück.
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