# taz.de -- Geheimdienste bei Olympischen Spielen: Wettkampf um Überläufer | |
> Die Olympischen Spiele sind ein Tummelplatz für Geheimdienste. Ein | |
> besonders plastisches Beispiel aus dem Jahr 1960 illustriert den Kampf | |
> der Systeme. | |
Bild: Der sowjetische Weitspringer Igor Ter-Owanessjan, bei den olympischen Spi… | |
Die Kombattanten des Kalten Krieges führten ihre verdeckten Schlachten | |
natürlich auch auf den Feldern des Sports. Sie wussten nur zu gut: Der | |
Sport ist hochpolitisch. In einer Phase, in der jede Seite die | |
Überlegenheit ihres Gesellschaftsentwurfs demonstrieren wollte, gerieten | |
sportliche Großereignisse zum Wettlauf der Systeme. Die Olympischen Spiele | |
von Rom, die vor fast genau 60 Jahren eröffnet wurden, wurden auch zum | |
Tummelplatz von Agenten, von CIA und KGB. | |
Da abzusehen war, dass sich bei den Sommerspielen von Rom nicht nur die | |
Jugend der Welt unschuldig in den Arenen oder im olympischen Dorf trifft, | |
um fröhlich, frank und frei das schöne Sportlerleben zu genießen, bat die | |
italienische Regierung schon im Vorfeld darum, die Spiele nicht für | |
politische Zwecke zu missbrauchen. Auf dem Rücken der Athleten, fand der | |
italienische Verteidigungsminister Giulio Andreotti, sollten keine | |
weltpolitischen Scharmützel ausgetragen werden. | |
Auch die italienische Botschaft in Washington formulierte den frommen | |
Wunsch an die USA, die Olympischen Spiele mögen bitte frei sein von | |
jeglicher Propagandatätigkeit. Das waren sie auch für den unbedarften | |
Beobachter der Wettkämpfe, doch unter der Oberfläche des schönen Scheins | |
versuchte der US-amerikanische Geheimdienst CIA an Sowjetsportler | |
heranzukommen und sie zur Republikflucht zu überreden. | |
Angestachelt von den Ereignissen rund um die Sommerspiele von Melbourne | |
1956, als insgesamt 48 Sportler aus Ungarn nach der Invasion der Roten | |
Armee in ihrem Land den Sprung in den Westen wagten und später mit einer | |
„Freedom Tour“ durch die USA tingelten, ging es wieder darum, nach | |
Übertrittswilligen Ausschau zu halten und dem Gegner eine lange Nase zu | |
drehen nach dem Motto: Seht her, eure sozialistischen Helden sind | |
ideologisch so labil, dass sie es kaum erwarten können, der | |
Mangelwirtschaft und der allgegenwärtigen Indoktrination zu entkommen; dem | |
„Land of the Free“ kann niemand widerstehen. | |
## Ukrainische Nationalisten im CIA | |
299 Sowjetsportler fahren nach Rom, ein großer Teil von ihnen hat | |
ukrainische Wurzeln. Genau da versucht die CIA anzusetzen. Sie unterstützt | |
nach dem Zweiten Weltkrieg ukrainische Nationalisten wie Mykola Lebed, die | |
eine stramm antikommunistische Agenda verfolgen. Lebeds Lebenslauf ist | |
schillernd: Er plant mit Stephan Bandera die Ermordung des polnischen | |
Innenministers Bronislaw Pieracki im Jahr 1934, gründet später die | |
Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), 1944 das Ukrainian Supreme | |
Liberation Council (UHVR), als dessen De-facto-Außenminister er zeitweise | |
fungiert. Lebed kämpft im Krieg als Partisan gegen Rotarmisten und | |
Deutsche, wird nach einem „Fahndungsersuchen des Reichspolizeihauptamtes“ | |
gesucht und erwirbt sich nach Unterlagen der US-Armee einen Ruf als | |
„wohlbekannter Sadist“. | |
Ungeachtet dieser Kennzeichnung sucht die CIA die Zusammenarbeit mit ihm, | |
um Ukrainer in der Sowjetunion zu bearbeiten. Die CIA-Operation trägt den | |
Namen „Aerodynamic“. Das zivile Unternehmen, das unter anderem die | |
Olympia-Operation von 1960 mitfinanzierte, nennt sich Prolog Research | |
Group. Unter seinem Dach werden sowjetkritische Bücher verlegt, | |
entsprechende Zeitungen herausgegeben und Radiosender betrieben, die die | |
Botschaft von der Suprematie des liberalen Westens nach Kiew oder Lemberg | |
tragen sollen. | |
Die Verbindungen zu Gruppen ukrainischer Emigranten sind eng, und sie alle | |
wittern Morgenluft, als es Ende der 1950er Jahre zu Länderkämpfen der | |
Leichtathleten kommt. 1958 treffen sich die Delegationen in Moskau, ein | |
Jahr später in Philadelphia. Dort versucht Lebed bereits zu klären, wen er | |
möglicherweise abwerben konnte. Kugelstoßerin Tamara Press? | |
Stabhochspringer Igor Petrenko? Weitspringer [1][Igor Ter-Owanessjan]? Im | |
Gegenzug verstärkt der KGB, so mutmaßen es US-Geheimdienstler, seine | |
Anstrengungen, um potenzielle Überläufer mit zusätzlichen | |
Polit-Infiltrationen zu immunisieren. | |
## Russischer Weitspringer im Fokus | |
Recht schnell hat man sich den sowjetischen Weitspringer Igor | |
Ter-Owanessjan ausgeguckt, ein cooler Typ mit einem gewissen Faible für den | |
westlichen Lebensstil. Er hört, berichtet die New York Times, in der Heimat | |
„Voice of America“, besorgt sich auf seinen Trips durch Europa hin und | |
wieder Jazz-Platten und fällt als Fan von Luis Armstrong auf. | |
Ter-Owanessjan, seine Mutter ist Ukrainerin, scheint der ideale Kandidat zu | |
sein, um Moskau zu blamieren. | |
Der Weitspringer freundet sich lose mit dem amerikanischen Speerwerfer Al | |
Cantello an, Leutnant der US-Marine. In Gesprächen mit Cantello lässt | |
Ter-Owanessjan laut CIA durchblicken, dass er unzufrieden sei mit dem | |
Sowjetregime. Cantello schlägt dem „Darling des russischen Teams“ vor, in | |
den Westen zu fliehen. Angeblich zeigt Ter-Owanessjan Interesse, und so | |
informiert Cantello den Sprinter Dave Sime, Mitglied der | |
US-Olympiamannschaft und frisch gebackener CIA-Mittler. Der US-Geheimdienst | |
versucht nun, ein Meeting mit dem Russen zu organisieren. Sie müssen | |
sichergehen, dass Ter-Owanessjan nicht unter Beobachtung des KGB steht. Das | |
hätte nicht nur die Operation, sondern auch Ter-Owanesjan selbst gefährdet. | |
Cantello arrangiert ein erstes Treffen mit einem CIA-Agenten; sechs weitere | |
CIA-Typen in drei Autos flankieren die Szene, die wohl wirkt wie aus einem | |
B-Movie. Auch Sime trifft sich mit dem Weitspringer, der aber auch davon | |
spricht, dass ihm die Sowjetunion alles biete, was er brauche: ein Auto, | |
eine Wohnung, Arbeit, Sicherheit. Was könne ihm der Westen noch mehr geben | |
außer Freiheit und die kalifornische Sonne? | |
Einem weiteren Treffen mit einem CIA-Mann, der den Decknamen „Wolf“ trägt, | |
will Ter-Owanessjan nur beiwohnen, wenn Dave Sime mitgeht. Doch Geheimagent | |
Wolf, laut Sime ein ziemlich „schmieriger Typ“, verpatzt die Chance, weil | |
er Ter-Owanessjan mit seinem Vorschlag zum Übertritt schier überrumpelt. | |
Die Chance ist vertan. Der Weitspringer nimmt Abstand, voller Angst, | |
bereits vom KGB ins Visier genommen worden zu sein. | |
## Appell der „Prawda“ | |
Doch die CIA bohrt weiter und setzt den Manager des amerikanischen Teams | |
der Gewichtheber, John Terpak auf Jakow Kutsenko, Fahnenträger der | |
Sommerspiele von 1952, an. Aber auch dieser Plan schlägt fehl. Lebeds | |
Truppe zählt am Ende der Olympischen Spiele von Rom, die ohne eine einzige | |
Fahnenflucht eines sowjetischen Athleten zu Ende gehen sollten, 155 | |
Gespräche mit der Gegenseite: mit Olympiatouristen, Trainern, Offiziellen | |
und Athleten. | |
Den Misserfolg erklären sich die Exil-Ukrainer damit, dass der konstante | |
„moralische Terror“, unter dem das sowjetische Olympiateam stehe, zu | |
„Angst“ und „vorgefertigten, einstudierten Antworten“ geführt habe. Le… | |
Leuten bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin ihre Schriften – wie die | |
sogenannte [2][Geheimrede von Nikita Chruschtschow] über Personenkult und | |
deren Folgen – an Adressen in der Ukraine zu schicken und unvermindert in | |
die Propagandatröte zu blasen. | |
Einen Exodus von Ostblock-Athleten wie bei den Spielen von Melbourne | |
wollten die Sowjets unbedingt verhindern. KPdSU und KGB hatten also vor den | |
Sommerspielen von Rom den Druck auf alle Beteiligten erhöht, zusätzliche | |
Politschulungen veranstaltet, das gesamte Team noch einmal zum Besuch des | |
Lenin-Mausoleums verpflichtet und Touristen nach Kriterien der politischen | |
Verlässlichkeit ausgewählt. | |
Die Prawda gab den Ton vor. Sie schrieb in einer Art Grußwort vor den | |
Olympischen Spielen: „Unsere Sportler repräsentieren die neue | |
sozialistische Ordnung, wo ein gesunder Geist und moralische Reinheit | |
harmonisch verschlungen sind mit physischer Ertüchtigung. Sport und | |
physische Ertüchtigung machen unser Land aus. Sie sind die Quelle von | |
Glück, harter Arbeit, Wohlergehen und eines langen Lebens der | |
Sowjetbürger.“ | |
Igor Ter-Owanessjan ist heute 82 Jahre alt und lebt in Moskau. Die Treffen | |
mit den Klassenfeinden haben dem Bronzemedaillengewinner von Rom nicht | |
geschadet. „Fürst Igor“ wurde in den 1980er Jahren Cheftrainer des | |
Leichtathletik-Nationalteams. Dave Sime, der in Rom Silber über 100 Meter | |
gewann, wurde später Arzt, Speerwerfer Al Cantello Trainer. Mykola Lebed | |
verfolgte bis zu seinem Tod 1998 die ukrainische Sache. | |
Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Zugriff der Geheimdienste auf | |
Olympia mitnichten verringert. Bei den Sommerspielen von Rio de Janeiro | |
waren allein 17 US-Dienste in Brasilien tätig – mit über 1.000 Mann. | |
24 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Igor_Aramowitsch_Ter-Owanessjan | |
[2] https://www.planet-wissen.de/geschichte/diktatoren/stalin_der_rote_diktator… | |
## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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