# taz.de -- Philosophin über das Verzeihen: „Man sollte nicht alles verzeihe… | |
> Ist es immer richtig, eine zweite Chance zu geben? Die Osnabrücker | |
> Philosophie-Professorin Susanne Borhammer findet, man müsse genauer | |
> hinsehen. | |
Bild: Zu viel Mist gebaut: Reue zu zeigen reicht nicht immer, um die Liebe zu r… | |
taz. Frau Boshammer, was bedeutet Vergebung für Sie? | |
Susanne Boshammer: Aus psychologischer Sicht hat Vergeben viel mit | |
Versöhnung zu tun. Es geht darum, eine soziale Beziehung zu „reparieren“ | |
und die Wut hinter sich zu lassen. Das betrifft Verletzungen generell – | |
auch unabsichtliche oder solche, für die jemand gar nicht verantwortlich | |
war. Die Philosophie sieht das Verzeihen – das ich hier mit dem | |
ursprünglich auf Gott bezogenen Vergeben gleichsetze – als eine Reaktion | |
auf Unrecht. Aber auch hier ist das Loslassen von Groll zentral. Ich denke | |
aber, dass Verzeihen mehr ist als ein Gefühlswandel. Wer verzeiht, lässt | |
nicht nur seinen Zorn hinter sich, sondern gibt dem anderen auch zu | |
verstehen, dass der sich sein Verhalten nicht mehr vorwerfen muss. Er darf | |
mit sich ins Reine kommen. | |
Ist Vergebung also eine Art Kitt der Gesellschaft? Da wir selbst Vergebung | |
wünschen, vergeben wir auch? | |
Wenn wir bereit sind zu verzeihen, ist ein wichtiger Schritt für den | |
Zusammenhalt getan. Verzeihen heißt allerdings nicht Versöhnen. Man kann | |
jemandem verzeihen und sich trotzdem von ihm trennen. Auffällig ist, dass | |
alle Weltreligionen – die ja großen Einfluss auf die Entwicklung der Moral | |
hatten – eine Art „Verzeihensgebot“ kennen. Vielleicht, weil deren Wurzeln | |
in eine Zeit reichen, in der die Menschen sozial eher immobil waren. Im | |
Konfliktfall konnte man nicht einfach die Ehe oder die Dorfgemeinschaft | |
verlassen. Heute sind wir zwar flexibler, aber wenn wir nicht permanent | |
sozial auf der Flucht sein wollen, brauchen auch wir dieses Instrument, um | |
konstruktiv mit Unrecht umzugehen. | |
Sie sagten, Verzeihen bringe nicht unbedingt Versöhnung. Aber beruht die | |
Versöhnungskommission in Südafrika nicht genau darauf? | |
Ja, dort hing beides eng zusammen, denn es ging um die Versöhnung | |
ethnischer Gruppen, um politische Versöhnung. Erzbischof [1][Desmond Tutu,] | |
der maßgeblich daran beteiligt war, ist davon überzeugt, dass wir alles | |
verzeihen sollten. Und Verzeihen ist ja wirklich ein wichtiger Schritt auf | |
dem Weg zur Versöhnung. Es ist schwer, sich mit jemandem zu versöhnen, dem | |
man nicht verziehen hat. Allerdings kann man durchaus jemandem verzeihen, | |
ohne sich mit ihm zu versöhnen. | |
Spreche ich denjenigen, dem ich vergebe, frei von Schuld? | |
Nein, an meiner moralischen Bewertung einer Tat ändert das Verzeihen nichts | |
– im Gegenteil: Wenn ich verzeihe, mache ich gerade deutlich, dass der | |
andere mir Unrecht getan hat. Aber ich trage es ihm nicht mehr nach. | |
Kann Vergebung auch ein Machtinstrument sein? | |
Ja. Wer verzeiht, nutzt seine Macht, um das Gewissen des „Täters“ zu | |
entlasten. Das kann manchmal auch herablassend wirken. | |
Wer ist überhaupt befugt zu verzeihen? Kann man es auch im Namen einer | |
Gruppe tun? | |
Vergeben können nur die jeweiligen „Opfer“. Es ist ihr Privileg. Die Bitte | |
um Entschuldigung – etwa für Missbrauch im kirchlichen Kontext – muss sich | |
daher immer an die konkreten Opfer richten. | |
Warum vergibt der Mensch denn überhaupt? | |
Einerseits sind wir in einer Kultur groß geworden, die uns drängt, nicht | |
nachtragend zu sein. Zudem halten wir dauerhafte Konflikte schlecht aus. | |
Wir sind aufeinander angewiesen, brauchen Kooperationspartner. Hinzu kommen | |
moralische Gründe – etwa Fairness-Überlegungen: Auch wir selbst brauchen ja | |
Vergebung. Oder man hat das Gefühl, der andere hat jetzt lange genug | |
gebüßt. Verzeihen kann aber auch ein Akt der Selbstermächtigung, des | |
Heraustretens aus der Rolle des Reagierenden sein. | |
Kann man jemandem vergeben, der keine Reue zeigt? | |
Das sollten wir uns gut überlegen. Wenn dem anderen egal ist, dass er uns | |
Unrecht getan hat, macht er wahrscheinlich so weiter wie bisher. Dazu | |
sollten wir ihn nicht noch ermutigen. | |
Warum verzeihen dann manche Holocaust-Opfer den Tätern? | |
Ein möglicher Grund wäre zu zeigen: „Ich habe Macht. Ich kann selbst | |
entscheiden, was das Unrecht mit mir macht. Ich mache mich nicht davon | |
abhängig, ob du irgendwann bereust, was du getan hast.“ Manchmal ist | |
Verzeihen auch „pädagogisch“ motiviert: „Wenn du siehst, dass dir verzie… | |
wird, weil ich dich nicht auf deine Tat reduziere, verändert dich das | |
vielleicht.“ | |
In Ihrem neuen Buch erwähnen Sie einen sterbenden NS-Täter, der einen Juden | |
um Verzeihung bittet. Sollte man wirklich alles verzeihen? | |
Ich denke nicht. Es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen, und mitunter | |
sind diese Gründe stärker als alle anderen Erwägungen. Dabei geht es nicht | |
nur um Selbstschutz und Gerechtigkeit. Es hat auch mit [2][Selbstachtung] | |
zu tun. Ich habe mit einer jungen Frau gesprochen, die ihrem sterbenden | |
Vater den [3][Missbrauch] ihrer Kindheit nicht verziehen hat, weil sie sich | |
sicher war: Wenn sie das tut, verliert sie jede Selbstachtung. Manchmal | |
müssen wir solidarisch sein mit dem Kind, mit dem Opfer, das wir waren. | |
Kann man auch am Verzeihen scheitern? | |
Ja. Wir verzeihen jemandem ganz offiziell und stellen dann fest, dass der | |
alte Groll immer wieder auftaucht. Es stört uns, dass der andere kein | |
schlechtes Gewissen mehr hat. Und man merkt: Ich habe mich überfordert. Das | |
ist eine schwierige Situation, denn wir können ja schlecht nach drei Wochen | |
kommen und die Vergebung zurücknehmen. Da können Sie nur weiter dran | |
arbeiten, die Vergebung wirklich zu leben. | |
Und wie lebt man Selbstvergebung? | |
Viele Menschen leiden darunter, dass sie sich etwas Bestimmtes nicht | |
verzeihen können. Oft geht es dabei gar nicht um Unrecht. Die Frau, deren | |
pubertierender Sohn sich vor mehr als 20 Jahren vor den Zug warf, verzeiht | |
sich bis heute nicht, dass sie an dem Tag zur Arbeit gegangen ist, ohne | |
sich von ihm zu verabschieden. Andere verzeihen sich nicht, dass sie an | |
einem Kranken- oder Sterbebett nicht präsent waren. All dies ist kein | |
Unrecht. Zu verzeihen gibt es hier also eigentlich nichts. | |
Worunter leiden diese Menschen dann? | |
Ich glaube, es geht vor allem darum, dass sie sich nicht mehr mit sich | |
selbst befreunden können. Sie wären gern ein anderer Mensch – einer, in | |
dessen Biografie dieses Ereignis nicht vorkommt. Oder einer, der immer | |
präsent, wach und für alle da wäre. Andere dagegen verzeihen sich „echtes�… | |
Unrecht nicht. Auch wenn das „Opfer“ ihnen längst verziehen hat, kommen sie | |
immer wieder mit Selbstvorwürfen. Manchmal ist das fast ärgerlich. Für mich | |
ist Verzeihen ein Akt der Autorität: Wir erlauben dem anderen, sein | |
schlechtes Gewissen zu beruhigen. Wenn jemand sich dann trotzdem noch | |
Vorwürfe macht, sieht es so aus, als ob er meine Autorität nicht anerkennen | |
würde. | |
Vielleicht kommen diese Menschen erst von ihrem Schuldgefühl los, wenn sie | |
sich selbst verzeihen. Die Vergebung des anderen ist nur der erste Schritt. | |
Ja, so könnte es sein: Die Vergebung des anderen ist eine notwendige, aber | |
nicht immer hinreichende Bedingung dafür, dass ich mir erlauben kann, mir | |
keine Vorwürfe mehr zu machen. Mich wieder als ganzen Menschen zu sehen, | |
statt mich auf diese eine Tat zu reduzieren. Und mir selbst gegenüber eine | |
Haltung der Humanität einzunehmen. | |
30 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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