# taz.de -- Kurzgeschichten zum Meer: Gemeinsam am Wasser | |
> Weißwein am Meer, Rotwein zu Hause. Kartenspiele am Abend und Sand in den | |
> Laken. Zwei Kurzgeschichten vom Meer. | |
Bild: Platsch. Platsch | |
Immer Ostern, immer Regen | |
Am Meer trinkt sie Weißwein. Nur am Meer, nie zu Hause. Zu Hause in der | |
Kleinstadt im Dreiländereck zwischen Bayern, Thüringen und Hessen, wo es | |
kein Meer, aber ein Moor gibt, das Rote Moor, mit Stegen. Der einzige Ort, | |
zu dem die Kinder am Wochenende noch zu einer Wanderung zu überreden sind. | |
Jede Biegung des hölzernen Stegs kennt sie, wo das Geländer fehlt, wo eine | |
Planke knirscht, wo die Infotafeln stehen, wo das Moos das Holz besonders | |
rutschig macht. | |
Zu Hause schlurfen die Kinder dann in ihre Zimmer, die hölzerne | |
Wendeltreppe hoch. Die Stufen knirschen. Sie kennt jede Stufe, die Kerbe | |
oben am Geländer. Sie sackt ins Sofa, Sonntagabend, Rotwein. Ein Buch. | |
Schweigen. Der Mann trinkt Bier, sie Rotwein. | |
Am Meer trinkt sie Weißwein. Die Luft ist salziger, der Tag kürzer – und | |
länger. Weißwein ist leicht. Rotwein ist Schweigen. Rotwein ist schwer. | |
Weißwein ist Reden. Dann redet der Mann. Der Mann ist gelöst. Sie blickt | |
ihn an, er redet, sie hört nicht immer zu, denkt an das Meer. Trinkt | |
Weißwein und hört die Wellen. | |
Erste Reihe. Das ist dem Mann wichtig. Erste Reihe, mit Blick aufs Meer. | |
Sie würde ja auch zweite Reihe. Aber wenn der Mann es so will. Keine Kraft | |
für Diskussionen. Wie lange kommen sie schon hierher, immer Ostern, immer | |
Regen? | |
Regelmäßig wechseln sie die Ferienwohnung, nie ist der Mann zufrieden. Zu | |
klein, zu groß, zu dunkel, zu hell. Die Möbel zu ranzig, die Möbel zu | |
glänzend. Aber immer der gleiche Ort. Die gleichen Brötchen am Morgen. | |
Als das erste Kind noch klein war, wie stolz es mit dem 2-Euro-Stück allein | |
losgelaufen ist, die pralle Brötchentüte auf dem Rückweg behütet hat wie | |
einen Schatz. Danke. Und gut gemacht. Jetzt liegen die Kinder im Bett und | |
haben seit Jahren keine Brötchentüten mehr auf den Küchentisch gelegt. Beim | |
Bäcker kauft sie drei Streuselkuchen und einen Bienenstich. Für den Mann. | |
Ist das Liebe? | |
Ein Tag ohne Regen. Auf das Strandtuch passen sie zu viert, der Mann redet. | |
Das Wetter. Der Fisch gestern Abend. Der Sprit ist teuer hier. Die Kinder | |
trotzen dem Wind, spielen Federball, lachen, streiten nicht. Sie lächelt. | |
Sie geht ins Strandcafé. Wie immer. Der Kaffee schmeckt nicht, aber es ist | |
ja Urlaub. Die Wellen sind heute hoch, denkt sie. Ob wohl auch Quallen | |
angespült wurden? Als sie klein war, hat sie sich mit ihrer Schwester am | |
Meer oft Quallenschlachten geliefert. Tote Qualle in die Hand nehmen, auf | |
die Schwester werfen. Platsch. Und umgekehrt. Platsch. Die Kinder finden | |
das eklig. | |
Ein Tag mit Regen. Wie oft waren sie schon in diesem Museum in der | |
Nachbarstadt? Wie oft waren sie schon im Kino, wo das Popcorn frischer | |
schmeckt als zu Hause? Wie oft waren sie schon in dieser kleinen | |
Einkaufsstraße, wo die Touristen sich freche Badehosen kaufen und | |
geschmacklose Halstücher? Wie oft waren sie schon in diesem Restaurant, wo | |
der Kellner so tut, als könne er sich an sie erinnern? Wie oft haben sie am | |
runden Holztisch im Wohnzimmer schon Kniffel gespielt und gewartet, dass | |
der Tag vorbeigeht? | |
Noch vor der ersten Runde schenkt sie sich Weißwein ein, die Flasche vom | |
Vortag ist schon halb leer. Kniffel, ihr Spiel, ihr Familienspiel, das | |
Letzte, was sie noch länger als 30 Minuten zusammenhält. Viel reden muss | |
man nicht. Man hört die Würfel fallen, hört das Meer, riecht den Wein. Der | |
Blick bleibt am ersten Kind hängen. Es lächelt liebevoll zurück, als sich | |
die Blicke treffen. Ihre Augen werden feucht. Das ist Liebe. (Paul Wrusch) | |
*** | |
Früher war schön schöner | |
Seit sie sich erinnern kann, beginnt jeder Sommer auf der Rückbank des | |
Autos, die Fahrt ist zu kurz für zwei Hörspiele und zu lang für eins. Die | |
Rückbank ist eine Station auf dem Weg zum Meer, zu langen, warmen Abenden, | |
Kartenspielen auf der Terrasse und Sand, der seinen Weg doch immer zwischen | |
die weißen Laken findet. | |
Ihr kleiner Bruder erkennt die Namen der Dörfer, die sich in den grauen | |
Stein der Klippen ducken. Für sie ist die Welt hinter dem Autofenster bis | |
zur Ankunft nur Kulisse. Drei alte Frauen, in schwarzen, geraden Röcken auf | |
der Bank vor einer Kapelle. Die Olivenbäume daneben. Vielleicht ohnehin | |
kein großer Unterschied. | |
Seit letztem Jahr reihen sich Straßenlaternen entlang der Küstenstraße, | |
jetzt ist eine Gruppe von Männern in verwaschenen T-Shirts dabei, den | |
ausgetretenen Pfad zum Strand zu betonieren. Ihre Mutter seufzt. Weil sie | |
will, dass es ihr Ort bleibt, abgeschieden, unbekannt, authentisch. Als vor | |
zwei Jahren die Strandbar aufgemacht hat, konnte sie nach dem Urlaub über | |
nichts anderes reden. Jedes Mal, wenn jemand fragte, wie es war. „Schön, | |
aber einfach nicht mehr so wie früher.“ Früher war schön schöner. | |
Die Auffahrt ist zu schmal, um vor der Haustür zu wenden, die letzten Meter | |
im Rückwärtsgang dauern am längsten. In der Wohnung riecht es nach Staub | |
und Sonne. Zeit, die nicht vergeht. Das Zimmer oben teilt sie sich mit | |
ihrem Bruder, eigentlich gefallen ihr die hellgrünen Wände nicht mehr, und | |
das Bett ist zu klein. Aber für zwei Wochen geht es dann doch immer. Sie | |
schiebt den Koffer in den Schrank, ohne ihn zu öffnen, die Strandsachen | |
sind in einer Tasche unter dem Waschbecken. Ihr Bruder sitzt mit | |
angezogenen Beinen auf dem Badezimmerhocker neben dem Dachfenster, oben ist | |
der Empfang besser. | |
Ihre Eltern räumen die Küche ein. Zum Strand geht es die Auffahrt hinunter, | |
über die Straße, zu der Treppe in der Mauer aus hellem Sandstein. Auf der | |
letzten Stufe wächst Gras, sie ist feucht vom Wasser, das aus einem der | |
Metallrohre mit Duschkopf tropft. Sie zieht den roten Plastikgriff im | |
Vorübergehen etwas fester. Es hilft nichts, hat es nie. | |
Ihre Schuhe hängt sie an den Schnürsenkeln über die Tasche, die Sohlen | |
hinterlassen staubige Spuren auf dem Stoff. Erst balanciert sie einige | |
Meter über Steine, dann steht sie mit den Füßen im Sand, schlägt ihre | |
Hosenbeine um, nass werden sie trotzdem. Eine Weile wandert sie einfach den | |
Strand entlang, bis zur Felswand. Blassgraue Krebse huschen aus dem Weg, | |
eine Gruppe von Kindern kickt einen halb aufgepumpten Volleyball umher, es | |
gibt viel Geschrei, aber kein Tor. Vielleicht ist die Liebe zum Meer auch | |
immer die Gewissheit, dass sich nichts ändert. | |
Auf dem Weg zurück kauft sie an der Strandbar Wasser, der Kellner lächelt | |
ihr halb zu. Er ist schön, dunkle Augen, hohe Wangenknochen, die Haare nur | |
so lang, dass die Spitzen über den Kragen des weißen Hemds streifen. Sie | |
fragt nach seinem Namen, mit den paar Worten Griechisch, die sie kann. Er | |
antwortet auf Englisch, sie reden über das Wetter, Familie, das Dorf. Er | |
wohnt eigentlich auf dem Festland, diesen Sommer hilft er seinem Cousin | |
aus. Sie fragt sich, ob sie sich dieses Jahr in ihn verlieben könnte, | |
verliebt ist sie im Sommer eigentlich immer. Es gibt ja sonst nichts zu | |
tun. | |
Ihre Mutter hat Spaghetti Carbonara gekocht, das Familienlieblingsessen. | |
Sie ist eigentlich Vegetarierin, nur hier nicht. Später sitzen sie um den | |
runden Holztisch auf der Terrasse, am Meer trinkt die Mutter Weißwein, alle | |
reden, irgendjemand schummelt immer beim Rommé. Wie früher beim Kniffel. | |
Aber eigentlich ist selbst das schön. (Elin Disse) | |
26 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
Elin Disse | |
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