# taz.de -- Kurzgeschichten zum Meer: Komm her, mein Meer | |
> Danilo zitiert Platon in Kroatien und an der Costa dei Barbari ist die | |
> Sehnsucht groß. Zwei Kurzgeschichten. | |
Liebe ist wie ein Schachspiel, sagte Danilo immer. Erst zieht man | |
voreinander her, dann umeinander herum und schließlich bekriegt man sich so | |
sehr, bis wieder einer weint. Danilo verglich alles mit einem Schachspiel, | |
egal wie sehr der Vergleich ein Bein hinter sich herzog. Jeden Abend saß | |
der Alte unter dem Walnussbaum in seinem Fischerdorf an der Adria, hatte | |
vor sich ein Schachbrett auf einem Obstkasten stehen und spielte gegen | |
jeden, der vorbeikam und sich neben ihn auf die Holzbank setzte. | |
Er, salzwasser- und sonnengegerbte Haut, trug dazu immer einen weißen Hut, | |
ein weißes Männerunterhemd, weiße Jeans und eine dunkle Sonnenbrille. Er | |
behauptete, sieben Ehefrauen, neun Kinder und zwölf Enkel gehabt zu haben. | |
Ob das wirklich stimmte oder ob er ein irre guter Bluffer war? So genau | |
konnte das keiner sagen. | |
Schweigen beim Schach hielt Danilo für unfair. Jeder Zug, ob der des | |
Gegners – es waren meistens Männer – oder der eigene, musste von Danilo | |
kommentiert werden. Dazu zitierte er meistens Platon. Machte er einen | |
geschickten Zug, sagte er: „Ja, da staunst du, nicht wahr?! Schon Platon | |
hat gesagt: Staunen ist der Anfang jeder Erkenntnis.“ Machte sein Gegner | |
einen ungeschickten Zug, sagte Danilo: „Was für ein prächtiger Zug. Schon | |
Platon hat gesagt: Der Fehler begleitet den Menschen.“ | |
Die Dorfbewohner hielten Danilos Platonzitate für gefälscht. Nachweisen | |
konnten sie ihm das aber nicht. Niemand von ihnen besaß die gesammelten | |
Werke von Platon, einen Bibliotheks- oder Internetzugang. Und so nannten | |
die Dörfler Danilo halb spöttisch, halb liebevoll „unseren Platon“. | |
## „Lacht ihr nur“ | |
Wenn sie darüber spekulierten, wie wohl der Wellengang am nächsten Tag | |
werden würde, sagten sie: „Unser Platon würde sagen: Die Philosophie bietet | |
mir einen Hafen, während ich andere mit den Stürmen kämpfen sehe.“ Sprachen | |
die Dörfler über die Scampi-Fischer, die seit Tagen mit leeren Netzen von | |
der Insel Vis zurückkamen, sagten sie: „Unser Platon würde sagen: Die Natur | |
ist ein Brief Gottes an die Menschheit.“ | |
Danilo beteiligte sich selten an den Dorfdebatten. Während die anderen zur | |
Mittagszeit im Schatten der Palmen die Nachrichten aus dem Nachbardorf und | |
dem Fernseher diskutierten, saß Danilo in seinem Fischerboot und sang: „Oh | |
say can’t you see. By the dawn’s early light.“ Er hatte eine riesige | |
amerikanische Flagge an seinem winzigen verschlissenen Holzkahn befestigt | |
und schipperte damit durch die blaue Bucht. Stundenlang. Immer nur so weit | |
weg vom Strand, dass er noch mit dem Ruder den Boden berühren konnte. | |
Im Hochsommer, wenn die Touristen den kleinen Strand in dem Fischerdorf | |
belegten, rief er von seinem Boot aus: „Hey du! Warst du schon mal in | |
Amerika?“ Irgendjemanden fand er immer, der die Hand hob. „Ah, guter Mann. | |
Hast du gelesen, was die da drüben in den Zeitungen über mich geschrieben | |
haben? Ich war dort ein Star.“ | |
Dann lachte das Strandpublikum und Danilo sagte: „Lacht ihr nur. Ihr | |
Lachnummern. Ihr habt ja keine Ahnung. Lauft und guckt euch meine | |
Ausstellung an! Da steht alles schwarz auf weiß. Ich hatte Dollar. Und | |
Frauen. Jaja. Ich war ein großer Geschäftsmann da. Aber ich wollte zurück | |
ans Meer. An mein Meer, wo ich die Namen jedes Fisches und jedes Mädchens | |
kenne. Jaaaa, mein Meer, komm her.“ Dann streckte er seine Hand ins | |
Salzwasser und bespritzte sein Gesicht damit. „Mein Meer! Wie hab ich dich | |
vermisst.“ | |
Danilo war irgendwann in den 1990er Jahren in das Fischerdorf an der Adria | |
gekommen. Der Krieg für das unabhängige Kroatien war beendet, die | |
Touristen aber noch nicht wieder zurück. Als Danilo hier landete, war er | |
schon weit über 70 und niemand im Dorf kannte ihn oder seine Familie. Man | |
kannte nicht mal seinen Nachnamen. Wenn ihn jemand danach fragte, sagte | |
er: „Hatte Platon etwa einen Nachnamen?“ | |
Danilo hatte behauptet, dass sein Urgroßvater die kleine Hütte in der Kurve | |
hinter dem Parkplatz gebaut habe, pflanzte seine große amerikanische Flagge | |
auf das kleine Dach und zog ein. Obwohl keiner so genau wusste, ob das mit | |
den Besitzverhältnissen so stimmte, ließen sie den Alten in der Hütte | |
wohnen. Ihnen war ohne die Touristen sowieso langweilig geworden und der | |
verrückte Vogel eine willkommene Ablenkung. | |
Und so stellte Danilo vor dem Parkplatz eine Reihe Pappschilder mit | |
Zeitungsausschnitten aus: The Plain Dealer, die größte Zeitung aus | |
Cleveland, Ohio, berichtete darin über kroatische Einwanderer in den 1960er | |
Jahren. Auf einem war Danilo als strahlender junger Mann zu sehen, der ein | |
Import-Export-Geschäft eröffnet hatte und als Sprecher der Exilkroaten | |
Ohios vorgestellt wurde. | |
„One day I will go back to my beloved Adriatic Sea“, gab ihn der Plain | |
Dealer wieder. Auf die Frage, ob er sich nach seiner Heimat sehne, soll er | |
geantwortet haben: „As Platon already said: Those who tell the stories rule | |
society.“ | |
## „Unser Platon“ | |
Danilo starb wenige Jahre nach der Rückkehr an die Adria. Da niemals eine | |
seiner angeblich sieben Frauen, neun Kinder und zwölf Enkel ihn je hier | |
besucht hatten, wussten die Dörfler auch nicht, wen sie von seinem Tod | |
benachrichtigen sollten. Und so wurde Danilo auf dem schönsten Friedhof der | |
Gegend beerdigt, auf einem steil zum Meer abfallenden Bergrücken, von wo | |
aus man den besten Blick auf die Inselwelt der Küste hat. | |
Auf Danilos Grabkreuz aus Holz steht sein Vorname, sein Todestag und „Unser | |
Platon“. | |
Noch heute erinnern sich die Dörfler an Danilo lachend. Am meisten lachen | |
sie, wenn einer daran erinnert, dass bei Danilo immer „etwas raushing“. | |
Damit meinen sie Danilos Halskette, deren Anhänger auf seiner behaarten | |
Brust im Sonnenschein glitzerte. Es war ein goldenes Hakenkreuz. | |
(Doris Akrap) | |
*** | |
Ein haltloser Horizont, ganz ohne Linie | |
Noch immer zeugen seine schmalen Hüften und die Schultern, die einst breit | |
gewesen und nun fast scheu nach vorne fallen, von körperlicher Eleganz. Ein | |
Mann in seinen Achtzigern mit weißem, nach hinten gebürstetem, ihm | |
verbliebenem Haar. Er ruht auf einem Leinentuch, das er auf ein Bett aus | |
kleinen, spitzen Steinen gebreitet hat, gleich neben einem Felsbrocken, der | |
ein wenig Schatten spendet. Vor ihm blau der Golf von Triest, hinter ihm | |
nichts als Steilküste, Hunderte von Metern hoch. | |
Costa dei Barberi nennen die Einheimischen diesen wüsten Küstenabschnitt | |
zwischen Triest und Duino, die Küste der Barbaren. Die Deutschen hatten | |
hier im „Adriatischen Küstenland“, so nannten die Nazis das von ihnen | |
besetzte Gebiet, das sich heute von der italienischen Adria über Slowenien | |
bis nach Rijeka in Kroatien erstreckt, einen Hafen errichtet. Kleine | |
U-Boote waren hier stationiert. Am Ende des Krieges hat man die Anlagen | |
erst gesprengt und dann vergessen. | |
Fast vergessen. Noch immer kommen Männer hierher, gehen den schmalen Pfad | |
herab, der vom einstigen Seilbahnhäuschen ganz oben an der Küstenstraße | |
nach ganz unten ans Meer führt. Sie legen ihre Kleidung ab, legen sich auf | |
Felsen und Steine, um sich zu sonnen. | |
Er nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche, es ist heiß, sehr heiß und | |
das Meer ist ganz still, es gluckst nur in den winzigen Buchten, die sich | |
das Wasser in den Steinstrand gegraben hat. Dann steht er auf, um auf und | |
ab zu gehen, so wie die anderen Männer, die hierher gekommen sind. Alte | |
Männer, junge Männer. | |
Ein Mann mit rundem Gesicht und Bart steht fast bis zu den Knien im Wasser, | |
die Hände in die Hüften gestemmt, einem Kapitän auf der Brücke gleich oder | |
einem Eroberer, den es an fremde Küsten zieht, hin zu neuen Kontinenten – | |
und doch bewegt er sich nicht vom Fleck. Ein junger Mann mit schwarzem Haar | |
auch auf der Brust ist unkenntlich, mit schwarzer Sonnenbrille und weißen, | |
drahtlosen Kopfhörern, trotz seiner Nacktheit. | |
## Die goldene Kette | |
Er geht langsam, bedächtig. Wenn er hinfiele, würde ihm dann jemand wieder | |
die Steilküste hinauf helfen? Er geht den Pfad entlang, der unterhalb der | |
Küste durch Buschwerk führt und den es schon während des Krieges gegeben | |
haben muss. Reste kleiner Bunkeranlagen, MG-Stände, verrosteter | |
Stacheldraht. Es riecht hier nach feuchter Erde und Lorbeer, Rosmarin. Auch | |
nach weggeworfenen Zigarettenkippen, vielleicht Sonnenöl und Aftershave. | |
Zigaretten hatten sie damals zusammen geraucht, Zigaretten der Marke | |
Muratti. Weißwein hatten sie zusammen getrunken, den er mitgebracht hatte | |
in seinem Rucksack aus Leder und Leinen, und ganz alleine waren sie | |
manchmal hier gewesen an diesem Ort, den nun fast alle vergessen haben. | |
In der Ferne sieht er einen Tanker auf Reede liegen, ein großes Schiff. Es | |
sieht aus, als ob das Schiff schwebt, einer Fata Morgana gleich. Ein | |
haltloser Horizont, ganz ohne Linie. Klar umrissen dagegen die vielen | |
Reusen, die vielleicht vierhundert, fünfhundert Meter von der Küste | |
entfernt im Wasser schwimmen. Die Fischer haben sie hier verankert, um | |
Muscheln zu fangen. | |
Er erreicht den alten Kai. Rostige Stahlträger biegen sich in die Höhe, | |
Betonplatten ragen schief. Die Sprengung muss halbherzig gewesen sein, ein | |
großes Plateau ist geblieben. Hier hatten sie damals ihren letzten Abend | |
miteinander verbracht, bevor er sich von Triest aus eingeschifft hatte, um | |
sein Glück auf einem anderen Kontinent zu suchen. Amerika! Hier hatte er | |
ihm zum Abschied die goldene Kette mit dem Hakenkreuz geschenkt, die er | |
nach einem Sturm eines Morgens in einem Steinbett am Meer gefunden hatte. | |
Er hatte Danilo nie wiedergesehen. | |
(Martin Reichert) | |
23 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
Martin Reichert | |
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