| # taz.de -- Sommerferien trotz Corona: Fest im Sattel bleiben | |
| > Damit Kinder aus armen Familien die Sommerferien trotz Corona nicht zu | |
| > Hause verbringen müssen, gab es in Berlin einige besondere Angebote. | |
| Bild: Auch Aufräumen gehört zur Arbeit auf dem Pferdehof | |
| Drei Tage sind es noch bis zum Schulbeginn. Für viele Kinder und | |
| Jugendliche enden damit Sommerferien des Verzichts: auf Treffen mit | |
| Freunden, auf Auslandsreisen und Zeltlager. Und das, wo schon die Monate | |
| vor den Ferien durch den Unterrichtsausfall von sozialer Isolation geprägt | |
| waren. Kinder hätten dieses Jahr ein paar sorgenfreie Wochen dringender | |
| denn je gebraucht – doch einen Ostseeurlaub zur Hochsaison kann sich nicht | |
| jede Familie leisten. Und vor Ort entfielen viele Ferienangebote durch die | |
| strengen Corona-Auflagen. | |
| Einige Projekte und Initiativen haben trotzdem junge Menschen hier in | |
| Berlin in den Ferien betreut und unterstützt. Ihr Programm haben sie der | |
| Situation angepasst – ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren: auch | |
| Kindern aus schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen Zugang zu Bildung | |
| und sozialer Teilhabe zu ermöglichen. | |
| „So, wer will anfangen?“ Marcia Belling steht in der Reithalle und schaut | |
| erwartungsvoll in die Runde, eine pinkfarbene Maske im Gesicht. Greade hat | |
| sie die Aufgabe erklärt: das Führen von Pferd Beno durch einen selbst | |
| gebauten Parcours. Die 24-jährige Erzieherin hat den Aufbaubildungsgang | |
| „Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd“ absolviert und arbeitet nun auf | |
| einem Reiterhof, der auf die Arbeit mit Kindern und behinderten Menschen | |
| spezialisiert ist. | |
| Die Reaktionen der Kinder sind eher verhalten. Sie sind zwischen 11 und 15 | |
| Jahren alt, wobei insbesondere die jüngeren noch recht schüchtern sind. Nur | |
| der 12-jährige Jeremy geht mit einem selbstbewussten Grinsen auf das Pferd | |
| zu. Konzentriert führt er den sanftmütigen Beno über die ausgelegten | |
| Stangen und im Slalom durch eine Hütchenreihe. Und dann trauen sich auch | |
| andere, eine Runde zu drehen. | |
| ## 27 statt 50 Teilnehmer*innen | |
| Der Besuch des Reiterhofs ist eine von vielen Aktivitäten der | |
| „Kindersommeruni“, organisiert von der Johannesstift-Diakonie in Spandau. | |
| Fünf Tage Abenteuer in Berlin: toben, basteln, lernen – möglichst an der | |
| frischen Luft. Das Projekt ist seit drei Jahren fester Bestandteil der | |
| Kampagne „Kinder beflügeln“, die seit 2008 zahlreiche Projekte mit | |
| Grundschulen „in den sozialen Brennpunkten Berlins“ umgesetzt hat. Das | |
| Konzept musste den Corona-Vorschriften angepasst werden: Statt wie bislang | |
| etwa 50 Schüler:innen von vier Berliner Grundschulen einzuladen, nahmen in | |
| diesem Jahr 27 Kinder zwischen fünf bis fünfzehn Jahren aus den Wohngruppen | |
| des Johannesstift teil, nach Alter in drei Teams aufgeteilt. So wurde die | |
| Anzahl der teilnehmenden Haushalte reduziert. Auch die gemeinsame | |
| Übernachtung auf dem Zeltplatz musste entfallen – „für den Beziehungsaufb… | |
| zu den Kindern ist das schon ein Verlust“, sagt ein Betreuer. | |
| An der inhaltlichen Ausrichtung des Projekts hat sich jedoch nichts | |
| geändert. Bei der „Kindersommeruni“ stehen keine klassisch schulischen | |
| Inhalte im Fokus, wie die Bezeichnung suggeriert. Vielmehr gehe es um | |
| „Bildungserlebnisse“, erklärt Claudia Lukat, Projektleiterin von „Kinder | |
| beflügeln“. Neben den Betreuer:innen moderieren freie Mitarbeiter:innen der | |
| Johannesstift-Diakonie die verschiedenen Aktivitäten – Regisseure, | |
| Bildhauer:innen, Wissenschaftler:innen. „Das Besondere ist, dass die Kinder | |
| nebenbei so viele verschiedene Biografien kennenlernen und vielleicht auch | |
| für ihren eigenen Lebensweg berufliche Perspektiven aufgezeigt bekommen“, | |
| so Lukat. | |
| Marcia Belling führt nun ein Pferd an der Longe, Jeremy sitzt strahlend im | |
| Sattel – wieder hat er sofort die Initiative ergriffen. Aufmerksam verfolgt | |
| er jede Bewegung des Tieres, nimmt unerschrocken die Füße aus den | |
| Steigbügeln und kniet sich am Ende sogar auf dessen Rücken. „Das war das | |
| Allergeilste überhaupt, einfach unbeschreiblich!“, freut er sich. | |
| Dass solch heiteren Momente nach Monaten des Ausnahmezustands für das Gemüt | |
| der Kinder wichtig sind, weiß auch Samuel Cornelius. Seit 2010 leitet er | |
| mit seiner Frau Deborah die Arche in Reinickendorf. Das 1995 gegründete | |
| christliche Kinder- und Jugendwerk ist fast vollständig spendenfinanziert, | |
| die Angebote sind für Kinder und Jugendliche kostenlos. In der Arche | |
| erhalten die Kinder eine warme Mahlzeit nach der Schule und Unterstützung | |
| bei den Hausaufgaben. „Wir sind hier schon eine kleine – oder große – | |
| Familie“, sagt Samuel Cornelius und lacht. Die Arche sei auch ein Ort des | |
| sozialen Miteinanders, der Sicherheit und Geborgenheit vermittle. | |
| Denn die persönliche und künftige berufliche Entwicklung der Kinder werde | |
| nicht nur durch finanzielle, sondern auch durch „emotionale Armut“, wie es | |
| Cornelius nennt, geprägt. Dazu gehöre die verminderte Fürsorge und | |
| Aufmerksamkeit, die den Kindern zuhause zuteil werde und in einigen Fällen | |
| auch der fehlende Anschluss in der Schule. In Coronazeiten erhielten diese | |
| Aspekte besondere Relevanz: „Das fängt bei scheinbar banalen Dingen wie der | |
| Ernährung an. Wir haben festgestellt, dass sich viele Kinder äußerlich | |
| verändert haben: Sie haben zugenommen oder sind dünner geworden.“ | |
| Unter normalen Umständen gehen in der Arche in Reinickendorf täglich etwa | |
| 40 bis 60 Kinder ein und aus. In diesen Sommerferien hingegen werden die | |
| Kinder von Cornelius tageweise eingeladen, um sicherzustellen, dass nicht | |
| mehr als zwölf gleichzeitig anwesend sind. „Die Zeit mit dem oder der | |
| Einzelnen ist dadurch natürlich umso intensiver.“ Die täglich entgangenen | |
| gemeinsamen Stunden wiege das aber nicht auf. | |
| Eine positive Konsequenz der Krise sieht Cornelius in dem verbesserten | |
| Verhältnis zu den Eltern. Als die Einrichtung acht Wochen lang schließen | |
| musste, hat das Arche-Team den Familien Hilfspakete mit Nahrungsmitteln und | |
| Hygieneartikeln nach Hause gebracht. „Man sollte die finanziellen | |
| Auswirkungen nicht unterschätzen, wenn man plötzlich für drei Kinder | |
| täglich eine Mahlzeit mehr einkaufen muss“, sagt Cornelius mit Blick auf | |
| den Wegfall des Mittagessens in Schulen oder Einrichtungen wie der Arche. | |
| Die Familien hätten sich für die Unterstützung sehr dankbar gezeigt: | |
| „Einige haben sogar kleine Geschenke bei der Arche vor die Tür gelegt oder | |
| selbstbemalte Banner und Plakate an ihre Häuser gehängt.“ | |
| Neben Aktivitäten wie Schnitzeljagd, Volleyball oder gemeinschaftlichen | |
| Aufräumtagen ist in den diesjährigen Sommerferien die Nachhilfe in der | |
| Arche ein wichtiges Angebot. Im Hausaufgabenraum im ersten Stock können die | |
| Schüler:innen täglich von 10 bis 12 Uhr mit Betreuer:innen den | |
| Unterrichtsstoff der letzten Monate noch einmal durchgehen. | |
| Shanice (10) und Rosie (8) kommen regelmäßig dorthin. Beide Mädchen haben | |
| das Gefühl, in der Schule viel verpasst zu haben, und sind erleichtert, | |
| hier auf das neue Schuljahr vorbereitet zu werden. Wenn Shanice nicht in | |
| der Arche ist, verbringt sie die meiste Freizeit in den eigenen vier | |
| Wänden: „Da streite ich mich aber oft mit meinem Bruder.“ | |
| Samuel Cornelius weiß, dass wirtschaftliche Sorgen durch Einkommens- oder | |
| Arbeitsplatzverluste der Eltern auch bei den Kindern eine zentrale Rolle | |
| spielen. Er versucht, die Ängste, die damit verbunden sind, auf | |
| spielerische Weise zu thematisieren – etwa mit einem interaktiven | |
| Theaterstück: Verkleidet mit einem weißen Maleranzug sowie Perücke und | |
| ausgestattet mit einer Spielzeugpistole muss Samuel Cornelius – alias „Der | |
| Professor“ – zusammen mit den Kindern vor dem Coronavirus in einer Rakete | |
| auf den Mars flüchten. „Am Ende erkläre ich den Kindern, dass das natürlich | |
| Quatsch ist und niemand wegen des Virus die Erde verlassen muss.“ In der | |
| gelockerten Atmosphäre öffnen sich die Kinder und können in einem | |
| vertrauensvollen Umfeld über ihre Sorgen sprechen. | |
| Für das neue Schuljahr wünscht sich Samuel Cornelius, dass die Schulen | |
| geöffnet bleiben: „Damit alle Kinder mittags wieder eine warme Mahlzeit | |
| bekommen.“ Und von den Lehrkräften Verständnis dafür, dass die letzten | |
| Monate für manche Kinder vielleicht schwieriger waren als für andere. | |
| 7 Aug 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Kühne | |
| ## TAGS | |
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| Sandra Scheeres | |
| Familie | |
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