# taz.de -- Dekodierung des Voynich-Manuskriptes: „Nachher ist es ein Kochbuc… | |
> Seit Jahrzehnten versuchen Forscher:innen, das Voynich-Manuskript zu | |
> entziffern. Der Ägyptologe Rainer Hannig hat jetzt einen Teil des Rätsels | |
> gelöst. | |
Bild: Das Manuskript aus dem Mittelalter enthält zahlreiche farbige Zeichnungen | |
Seit Jahrzehnten schon stellt das Voynich-Manuskript Linguist:innen und | |
Historiker:innen vor ein Rätsel – weil bisher niemand wusste, was auf | |
diesen sechs Jahrhunderte alten Seiten eigentlich steht. Rainer Hannig, | |
Forscher am [1][Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim], will das | |
Problem nun gelöst haben. Erste übersetzte Passagen hat er bereits | |
veröffentlicht. | |
Seit 2017 arbeitet Hannig an der Entschlüsselung des Manuskripts. Der | |
67-Jährige selbst nennt diese Arbeit „voynichen“. Der Professor zählt | |
gegenwärtig zu den weltweit bedeutendsten Ägyptolog:innen und Expert:innen | |
im Bereich der Hieroglyphen. Er spricht mehrere Sprachen, darunter | |
Altägyptisch und Chinesisch, und arbeitet als wissenschaftlicher Berater | |
am Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Sprache und Schrift sind | |
Hannigs Fachgebiet: Er ist Herausgeber einer Reihe von Wörterbüchern, der | |
sogenannten Hannig-Lexica, die zur Standardliteratur der Ägyptologie | |
gehören. | |
Das Voynich-Manuskript, benannt nach seinem ehemaligen Eigentümer Wilfrid | |
Michael Voynich, ist eine aus dem Mittelalter stammende Handschrift, die | |
sich – samt Bildern – über mehr als zweihundert Seiten erstreckt. Ihre | |
Schrift weist Parallelen zu bekannten Schriften und Sprachen auf, konnte | |
jedoch noch nie entschlüsselt oder gar übersetzt werden. | |
Seit Jahrzehnten versuchen Forscher:innen, das Rätsel zu lösen, und folgen | |
dabei verschiedensten Ansätzen: die Dechiffrierung des angeblich | |
ursprünglich lateinischen Textes, die Entzifferung mittels eines | |
Algorithmus oder gar das Absprechen des Voynich von jeglichem Inhalt, die | |
sogenannte Schabernack-Hypothese. | |
## Vermutlich aus dem südosteuropäischen Raum | |
Doch noch keine dieser Herangehensweisen führte zum Ziel. Jetzt, mehr als | |
hundert Jahre nachdem das Manuskript wieder aufgetaucht ist, will Rainer | |
Hannig den „Weg zur Entzifferung“, so heißt sein aktuelles | |
Forschungspapier, entdeckt haben. [2][Die Veröffentlichung, die auf Hannigs | |
Website zu finden ist,] haben drei Frauen lektoriert; Daniela Rutica, | |
Ägyptologin und Hannigs Ehefrau, die Künstlerin Angela Kaiser aus Potsdam | |
und die Direktorin des Roemer- und Pelizaeus-Museums in Hildesheim, | |
Professorin Regine Schulz. | |
Die Sprache, auf der Hannigs Entschlüsselung basiert, ist Hebräisch. Das | |
erkennbare Sprach- und Schriftmuster des Voynich entspreche demnach dem der | |
afro-asiatischen Sprachen und im Speziellen der Untergruppe der semitischen | |
Sprachen. Das ließe laut Regine Schulz darauf zurückführen, dass es sich um | |
das Werk einer intellektuellen Gruppe im südosteuropäischen Raum handelt: | |
„Minderheiten, zum Beispiel das Judentum, versuchten häufig, sich | |
beispielsweise durch Ausbildung und Wissen besserzustellen.“ | |
Das sei eine häufig zu beobachtende Entwicklung, die erklären könne, wie | |
der Voynich entstand – und warum er für Jahrhunderte von der Bildfläche | |
verschwand: „Judenverfolgung gab es nicht nur im 20. Jahrhundert. Schon | |
damals wurden ganze Bevölkerungsgruppen ausgelöscht“, erklärt Schulz. Das | |
Manuskript, mutmaßt die Historikerin, könne eine Art „Insider-Schrift“ | |
beinhalten, die das Wissen der Minderheit schützen sollte. | |
Um welche Formen des Wissens es sich handelt, kann nicht zuletzt anhand der | |
konsequenten Bebilderung der Texte interpretiert werden: botanische | |
Zeichnungen, Sternenhimmel, Organe, Tiere. „Zu den Pflanzen gibt es schon | |
viele Deutungen, erklärt Daniela Rutica. Ein Erfolgserlebnis ihres Mannes | |
sei gewesen, als er eine Passage mit „roter Stiel“ übersetzte und auf der | |
Seite eine Pflanze mit einem roten Stengel zu sehen war. | |
## Harry Potter auf Hebräisch | |
„Man erwartet bei Übersetzungen solcher alten Texte immer Unglaubliches“, | |
erzählt die Ägyptologin, „doch meistens handelt es sich um alltägliche | |
Themen wie Verwaltung und Ernährung.“ Sie sei nicht überrascht gewesen, als | |
erkennbar wurde, dass es sich beim Voynich vermutlich zum Teil um einen | |
Gesundheitsführer handelt: „Etwas anderes wäre auch merkwürdig gewesen.“ | |
In einer von Hannigs interpretativen Übersetzungen ist die Rede von einem | |
kranken Bauern, der eine Suppe isst und dann zum Arzt geht. Um aber genauer | |
zu verstehen, was es mit dieser Passage auf sich hat, bedarf es nun der | |
weiteren Forschung durch Hebraist:innen. „Jetzt brauchen wir die | |
Spezialisten“, erklärt Schulz. | |
„Ein Wort zu übersetzen, heißt, den kulturellen Hintergrund zu verstehen“, | |
sagt Daniela Rutica. Ihre Kollegin Angela Kaiser lacht: „Nachher ist es ein | |
Kochbuch.“ Ob mittelalterliche Apothekenumschau oder | |
246-Seiten-Rezeptkatalog: Das Team um Rainer Hannig wolle möglichst bald | |
ein Kolloquium einberufen, bei dem sich Forscher:innen verschiedener | |
Fachbereiche dem Voynich und der Frage, worum genau es denn jetzt geht, | |
widmen können. | |
Seine Entdeckung sei insofern ein Meilenstein der Voynich-Forschung, als | |
dass sie die ersten überprüfbaren und spekulationsfreien Ansätze liefere, | |
erklärt Schulz: „Die Herangehensweise ist auch wissenschaftsmethodisch | |
äußerst spannend“, sagt die Museumsleiterin. „Rainer Hannig führt bestim… | |
methodische Schritte zusammen. Damit gehen seine Forschungen über den | |
Voynich hinaus. Umso überprüfbarer, desto sicherer.“ | |
Rainer Hannig liest unterdessen „Harry Potter“ auf Hebräisch. „Er ist | |
jemand, der immer dazulernt“, sagt seine Frau. „Und Rainer bleibt immer auf | |
dem Boden.“ Mehrere internationale Medien berichteten bereits über Hannigs | |
Veröffentlichung. Das Dokument stellt der Forscher auf seiner Website zur | |
Verfügung. | |
Längst sind die Arbeiten am Voynich nicht beendet. Deshalb heißt Hannigs | |
Veröffentlichung auch bescheiden „Weg zur Entzifferung“. Doch sollte der | |
Ansatz stimmen – worüber sich zumindest die drei Lektorinnen sehr sicher | |
sind – hat Hannig eines der großen Sprachrätsel unserer Zeit gelöst. | |
2 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://www.rpmuseum.de/ueber-uns/projekte/das-voynich-manuskript.html | |
[2] https://www.rainer-hannig.com/voynich/ | |
## AUTOREN | |
Roman Winkelhahn | |
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