# taz.de -- Vereinzelung als Refugee: Alles verschwindet | |
> Ich habe die Schwierigkeiten, die ich habe, geteilt, um Solidarität zu | |
> erzeugen. Um meine Stimme hörbarer zu machen. Doch mir ist, als verhalle | |
> sie. | |
Bild: „Ich bin eine Linde mitten in Berlin – nur dass niemand es merkt“, … | |
Ob sich, abgesehen von meinen treuen Leser*innen, noch andere dafür | |
interessieren, was ich hier alle zwei Wochen schreibe? Ich weiß es nicht. | |
Die Ungerechtigkeiten, die mir in den letzten vier Monaten als Geflüchtete, | |
trans Frau und Journalistin widerfahren sind, [1][habe ich aus Verzweiflung | |
zum Thema dieser Kolumne gemacht]. Meine Worte richten sich an die | |
Politiker*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, | |
Menschenrechtler*innen, LGBTIQ-Organisationen, Aktivist*innen, | |
LGBTIQ-Personen, türkischen Migrant*innen, auch die neu Angekommenen, | |
Journalist*innen, die wie ich im Exil leben, die Medienverbände und meine | |
Kolleg*innen. | |
Ich habe die Schwierigkeiten, die ich erlebt habe, geteilt, um Solidarität | |
zu erzeugen, um meine Stimme hörbarer zu machen – [2][aber kaum ein Like | |
oder Retweet kam zurück]. Ganz anders war das letztens bei einem Text, in | |
dem ich das Erdoğan-Regime und die Ditib kritisiert habe, der vielfach | |
geliket und retweetet wurde, auch von vielen türkeistämmigen | |
Politiker*innen. | |
Es fühlt sich an wie ein Loch, in dem meine Texte verschwinden. Ob ich will | |
oder nicht. Ob ich schrieb, dass ich, obwohl ich vor über sechs Monaten | |
Asyl bekommen habe, immer noch auf Aufenthaltstitel und Pass warte. Oder, | |
dass während des Lockdowns das Finanzamt mein Konto für 21 Tage gesperrt | |
hat. Dass ich als Risikogruppe keine Miete und keine Medikamente zahlen | |
kann und Lebensmittel nur deshalb, weil mir einige Freund*innen Geld | |
geliehen haben. | |
Mein Antrag wurde seit vier Monaten nicht bearbeitet. Ich denke, das | |
widerfährt vielen so oder ähnlich, aber was will ich machen, für mich fühlt | |
es sich eben einzigartig an: als Geflüchtete mitten in der EU mir selbst | |
überlassen. Kolleg*innen gehen zum Teil nicht mehr ran, wenn ich anrufe. In | |
den letzten Monaten habe ich ungefähr zehn rassistische Übergriffe erlebt | |
und die deutschen und türkischen Freund*Innen, denen ich davon erzählt | |
habe, haben sich mit dem Zuhören begnügt – Menschen, die bei | |
#BlackLivesMatter und gegen Rassismus auf die Straße gehen. | |
## Vielleicht nicht so wichtig | |
Diese Übergriffe, die ich als nichttürkische, nichtkurdische, | |
nichtmuslimische und nichtheterosexuelle türkeistämmige Person mit | |
französischen Namen erlebe, haben vielleicht für die aufmerksamen Menschen | |
hier weniger Bedeutung. Auch auf mein „Bitte helfen Sie mir!“ an einige | |
homosexuelle Abgeordnete und LGBTIQ-Politiker*innen habe ich noch keine | |
Antwort. Von Menschen, die unter #WorldRefugeeDay getweetet haben, wie | |
wichtig die Rechte von LGBTI-Geflüchteten sind. | |
Nächste Woche werde ich 45. Ich habe mein ganzes Leben gegen Patriarchat | |
und Rassismus gekämpft, aber mir ist bis jetzt noch keine so beschämende | |
Doppelmoral begegnet. Und wie ich schon in einer früheren Kolumne | |
geschrieben habe: [3][Ich bin eine Linde mitten in Berlin] – nur dass | |
niemand es merkt. | |
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein | |
2 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Neuanfang-in-Deutschland/!5681182 | |
[2] https://twitter.com/demishevich/status/1273555755090706433 | |
[3] /Endlich-als-Fluechtling-anerkannt/!5641891 | |
## AUTOREN | |
Michelle Demishevich | |
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