# taz.de -- Helgoland in Corona-Zeiten: In die Hummerbude darf nur einer | |
> Deutschlands einzige Hochseeinsel ist ein Natur-Hotspot. Seit Mitte Mai | |
> darf trotz Corona eine begrenzte Zahl von Touristen wieder auf die Insel. | |
Bild: Am Lummenfelsen, Helgolands Naturschutzgebiet | |
Der schönste Moment der Ankunft in Helgoland ist das „Ausbooten“: Das | |
Fährschiff liegt auf Reede vor der roten Felseninsel, während kleine weiße | |
Nussschalen, die Börteboote, zum Ausstieg tuckern, um die Passagiere | |
abzuholen. Kräftige Männer und Frauen greifen ihnen unter die Arme, heben | |
sie ins schaukelnde Boot und bringen sie durch die spritzende Gischt an | |
Land. „Gibt es ein schöneres Willkommen als eine solche Umarmung?“, fragt | |
Holger Bünning, der Festländer, der Buchautor und seit langem auf der Insel | |
heimisch ist. | |
Für viele Besucher ist das aufregende Umsteigen auf See ein Höhepunkt der | |
Reise zu Deutschlands einziger Hochseeinsel. Ein Adrenalin-Kick mit | |
Salzbrise. Doch nun ist das Ausbooten mit Umarmungen verboten. Das | |
Fährschiff macht unspektakulär im Südhafen fest. Die „Börte“, wie der | |
Vorgang auf Friesisch heißt, wurde wegen Corona ausgesetzt. „Abstandhalten | |
ist dabei völlig unmöglich“, erklärt Bünning. Er war einer der Initiatore… | |
die den Weg der 200 Jahre alten Tradition ins immaterielle Welterbe | |
vorbereiteten; 2018 wurde sie von der deutschen Unesco anerkannt. | |
Allerdings setzt nicht nur die Pandemie der Börte zu. „Immer weniger | |
Schiffe ankern im Meer“, sagt Klaus Köhn, der pensionierte Börtebootkapitän | |
und das vielleicht letzte Helgoländer Original. Von einst 40 seetüchtigen | |
Holzbooten sei die Flotte auf acht geschrumpft. „Von der Börte kann keiner | |
mehr leben“, klagt der wettergegerbte Seebär in der wohnlichen Hummerbude, | |
in der die Fischer früher ihre Netze und Gummistiefel aufbewahrten. Den | |
Lockdown fanden die Köhns aber richtig. „Gestöhnt haben alle“, sagt Lilo | |
Köhn, „aber die Zeit ohne Touristen trotzdem genossen.“ | |
## Schuppen zu Stehkneipen | |
Die an die vierzig zweistöckigen, farbenfrohen Schuppen stehen heute unter | |
Denkmalschutz, sind zum Wohnen oder zu Stehkneipen, Ausstellungen, Läden | |
oder sogar zum Standesamt umgenutzt und sehr begehrt. Der Hafenkante geben | |
sie ein markantes Profil auf der Straße in den Ort, die schnurstracks zu | |
den Geschäften im Lung Wai führt, der Königsstraße von Helgoland. | |
„Helgoland lag noch im Winterschlaf, als der Lockdown losging“, sagt die | |
Mode-Verkäuferin Dagmar. Anfangs sei das gemütlich gewesen. „Als Ostern | |
kam, kam auch die Existenzangst.“ Der Juwelier Julian Kaufmann blickt etwas | |
ausgeruhter auf die Krise. „Unser Geschäft existiert seit fünfzig Jahren“, | |
sagt er. | |
Das Unternehmen hat den großen Goldrausch in den 1970er Jahren miterlebt, | |
als mit den „Butterfahrten“ jährlich mehr als 800.000 Touristen zum | |
zollfreien Einkauf von Butter, Tabakwaren und Spirituosen eintrafen. „Wir | |
haben Reserven“, sagt der 31-Jährige erleichtert. Seine große Sorge sei | |
eine zweite Infektionswelle. Die ließe sich nicht so leicht reparieren. | |
Willkommen zurück! Seit dem 18. Mai findet der Abstand vom Abstand statt – | |
langsam und unter Auflagen. Zuerst durften Urlauber mit Hotelnachweis | |
einreisen, dann auch die Tagestouristen. „Wir hatten uns abgeschottet, weil | |
wir nicht die medizinischen Möglichkeiten haben wie das Festland“, sagt | |
Tourismusdirektor Lars Johannson. Andererseits begünstigt die Insellage, | |
die Einreise zu kontrollieren und – im Notfall – nachzuvollziehen. | |
Befürchtungen, mit den Touristen könnte das Coronavirus einreisen, hält er | |
für unbegründet. | |
## Nur 1.200 Tagesgäste | |
Johannson vertraut auf die Hygiene-Organisation der Fährschiffe. „Die | |
Kapazität ist derzeit auf 1.200 Tagesgäste begrenzt, so dass der | |
Mindestabstand von anderthalb Metern eingehalten werden kann“, sagt der | |
Tourismuschef. Normalerweise liegt die Auslastung der Schiffe aus Hamburg, | |
Cuxhaven, Büsum und Bremerhaven bei gut 3.000 Passagieren pro Tag. Derzeit | |
kommt also nicht einmal mehr die Hälfte. Eine herbe Einbuße für alle | |
Helgoländer, die direkt oder indirekt vom Tourismus leben. Und das gilt für | |
fast alle der rund 1.500 Einwohner. | |
Urlaub unterliegt coronabedingt zahlreichen Formalitäten. Die | |
Fährgesellschaft weist dem Fahrgast feste Plätze zu. Koffer müssen | |
aufgegeben, die Hände desinfiziert werden. Auf den Unterdecks herrscht | |
Maskenpflicht, auf dem Sonnendeck geht es auch ohne. Für die Einreise wird | |
ein Meldeschein ausgestellt. | |
Auch auf dem Shopping-Paradies liegt ein neuer Touch. Abhängig von der | |
Ladengröße dürfen nur zwei bis drei Kunden*innen herein – pro zehn | |
Quadratmeter eine Person. In die Hummerbude darf nur eine. Die Hemmschwelle | |
vorm Eintreten ist groß. Der Spaß am Schauen und Anprobieren verliert sich, | |
wenn sich vor der Tür Warteschlangen bilden, die auf die Abendfähre müssen. | |
In der Gastronomie und den Hotels stöhnt das Personal unter der | |
Maskenpflicht. „Mein Arbeitsplatz hat sich sehr verändert“, sagt eine | |
Kellnerin, die nicht genannt werden möchte. Eigentlich sucht sie das | |
persönliche Gespräch mit den Gästen, aber die Distanz verhindere das. Am | |
Anfang war es schwer, die Vorschriften umzusetzen. Allmählich käme sie | |
damit zurecht. Helgoland wirkte wie eine Toteninsel. Dabei sei sie eine | |
Gute-Laune-Insel. „Die Gäste kommen nervös an und nach zwei Stunden haben | |
sie ein Smiley im Gesicht“, freut sie sich. | |
## Coronafreie Insel | |
Einschränkungen wie Essen in Schichten und Plexiglasscheiben zwischen den | |
Tischen nimmt man besonders für die Helgoländer Spezialitäten gern in Kauf. | |
„Wem Hummer zu teuer ist, sollte „Knieper“ probieren, die Scheren des | |
Taschenkrebses“, sagt Sven Köhn, der in fünften Generation Fischer und | |
Börtebootkapitän ist und gern seine eigene Meinung vertritt. „Lockdown ja, | |
aber ohne Kontaktsperre für Helgoländer.“ Schließlich sei die Insel | |
coronafrei gewesen. Natürlich brauche Helgoland den Tourismus. Aber mehr | |
als 1.000 Ankünfte pro Tag hält er in der gegenwärtigen Lage für zu viel. | |
Vom Image des „Fuselfelsens“ ist Helgoland längst weit entfernt. Heute sind | |
Haupt- und Nebeninsel als Natur-Hotspots in den Fokus gerückt. Wer länger | |
als einen Tag bleibt, hat endlich Zeit, über die ungewöhnliche Landschaft | |
zu staunen: | |
Den roten Buntsandstein, aus dem der vier Quadratmeter große Felssockel | |
besteht, die Lange Anna, die einsame Felsnadel und Wahrzeichen von | |
Helgoland, die vielen mit friedlichem Gras überwachsenen Krater, die die | |
beiden Weltkriege und die Sprengung der Bunkeranlagen – der „Big Bang“ von | |
1947 – hinterlassen haben: Laut „Guinness-Buch der Rekorde“ war es die | |
größte nichtnukleare Detonation der Menschheitsgeschichte. | |
Zum großen Inselschatz gehören die Seevögel, die zwischen den Felsnasen der | |
Steilwände brüten und vom Klippenweg aus gut zu beobachten sind. Der | |
Lummenfelsen ist das kleinste Naturschutzgebiet Schleswig-Holsteins. „Aber | |
mit der höchsten Dichte an Brutvögeln in Deutschland“, sagt Elmar | |
Ballstaedt, der Leiter der Schutzstation Jordsand. Auf einer Fläche von je | |
10 mal 10 Zentimetern kleben die rund 4.000 Brutplätze der Trottellummen in | |
den Sandsteinschichten. „Das wäre bei uns gerade nicht mehr erlaubt“, | |
scherzt der Ornithologe. | |
## Trottellumme, Tordalk, Basstölpel | |
Rund 10.000 Brutpaare erzeugen ein pausenloses Geschnarre, Geschreie und | |
Gekreische. Sie gehören zu den Big Five von Helgoland wie die Trottellumme, | |
die für ihre tollkühnen Sprünge ins Meer berühmt sind. Selten ist der | |
Tordalk, am häufigsten die Dreizehenmöwe. Der Eissturmvogel, entfernt mit | |
Albatrossen verwandt, siedelte sich in den 1968 Jahren an. Am auffälligsten | |
ist der Basstölpel, dessen schön gezeichneter Kopf fasziniert und der | |
jüngste Neuzugang ist. | |
„Nirgendwo kommt man Brutvögeln so nahe wie hier“, sagt Ballstaedt. Abstand | |
ist dennoch geboten. Denn der Basstölpel kann einem mit seinem | |
sägenartigdenen Schnabel die Haut abziehen. Eine große Gefahr und | |
Todesfalle für die Vögel sei der Plastikmüll im Meer, so der Vogelschützer. | |
Das Phänomen am Lummenfelsen erforscht er für ein wissenschaftliches | |
Projekt. | |
Mit dem Börteboot oder der Dünen-Fähre setzt man in fünfzehn Minuten auf | |
die kleine Nebeninsel über. 1720 brach sie vom roten Felssockel ab, ein | |
Flecken für Einsiedlerkrebse, Leseratten und Ruhesuchende. Rund achtzig | |
Hektar Sand mit Strandhafer, Holunderbüschen, Sanddorn und der pink | |
blühenden Kartoffelrose. Dazu ein Flughafen, ein roter Leuchtturm, der zehn | |
Meter hohe Aussichtspunkt Jonny's Hill, Strandkörbe, Ferienhäuser, ein | |
Campingplatz und zwei einfache Restaurants. | |
Auf der Düne ist Damaris Buschhaus die Schutzgebietsbetreuerin der Robben | |
und der Möwen-Brutgebiete. Während der Corona-Ruhe haben die Lach-, | |
Herings-, Silber- und Mantelmöwen ihre Nester überall gebaut, auch nah am | |
neuen Panoramaweg. „Jetzt sind sie ständig im Verteidigungsmodus“, sagt | |
Buschhaus. | |
## Einfach und einsam | |
Die meisten kommen wegen der Badestrände, der Seehunde und Kegelrobben auf | |
die Düne. Denn kaum irgendwo lassen sich die possierlichen Meeressäugern so | |
gut beobachten. „Wir haben hier auch ein Abstandsgebot“, lacht Buschhaus – | |
dreißig Meter. Nicht wegen Corona, sondern weil die Robbe das gefährlichste | |
Wildtier Deutschlands ist und leicht 20 km/h erreicht. „Das schafft kein | |
Mensch im Sand“, sagt die junge Frau aus Lüdenscheid. | |
Wegen der Einfachheit und der Einsamkeit sind auch Eberhard und Renate | |
Forkel auf der Düne. „So ruhig haben wir sie noch nie erlebt“, sagen die | |
beiden aus Hamburg, die jedes Jahr mindestens eine Woche hier verbringen. | |
Unter ihren Fenstern brüten plötzlich Austernfischer. Die Tierwelt habe | |
sich die Natur zurückgeholt. | |
Vor dem Urlaub hatten sie darüber nachgedacht, ob sie sich wegen der | |
Ansteckungsgefahr auf die Fähre trauen sollten. Dann waren sie angenehm | |
überrascht, weil die Fähre so leer war. „Wenn das Virus eingeschleppt wird, | |
wäre das für Helgoland ein Drama“, sagt der 72-jährige Arzt. „Wir werden | |
mit der Bedrohung weiter leben müssen.“ | |
21 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Beate Schümann | |
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