# taz.de -- Debütalbum von The Everettes: Mit dem Schwung | |
> The Everettes machen den Soul so, wie er in den Sechzigern zum Hit wurde. | |
> Den Retro-Vorwurf darf die Berliner Band locker als Kompliment nehmen. | |
Bild: So wie einst die Supremes: der singende Teil der Everettes | |
Wenn diese Scheiße endlich mal vorbei sein sollte, wenn Menschen wieder | |
zusammenkommen dürfen, um Musik zu hören, wenn sie feiern, trinken, tanzen | |
dürfen, ohne sich um Aerosole sorgen zu müssen, wenn es also wieder | |
Konzerte geben darf, dann wird wieder Zeit sein für eine Band wie The | |
Everettes. Dann wird die Berliner Soulkapelle wieder auf eine Bühne steigen | |
können und uns mitnehmen auf eine Zeitreise in die goldenen Sixties. | |
Bis es so weit ist, müssen wir allerdings vorliebnehmen mit dem Studiodebüt | |
der Berliner Band. Das schlicht „The Everettes“ benannte Album | |
rekonstruiert liebevoll jenen Sound, mit dem der bis dahin als „Race Music“ | |
diskriminierte Soul in den sechziger Jahren den Sprung zu einem weißen | |
Publikum fand. Zu neunt stehen die Everettes auf der Bühne. Drei | |
Sängerinnen, sechs Musiker und dazu noch ein paar Gäste braucht die Band, | |
um auf Platte jenen zeitlosen Klang nachzustellen, mit dem The Supremes | |
oder Martha Reeves & the Vandellas weltberühmt wurden. Eine Musik, erklärt | |
Gitarrist Alexander Dommisch, „in der man versinken kann, um in eine | |
bessere Welt zu flüchten“. | |
Diese Flucht ist gelungen. Jeder einzelne der 14 Songs klingt, auch wenn | |
von The Everettes selbst geschrieben, wie ein Soul-Original, das vor mehr | |
als einem halben Jahrhundert auch auf einem legendären Label wie Motown | |
oder Stax erschienen sein könnte. Die Melodien sind raumgreifend und die | |
Harmoniegesänge sitzen perfekt, der Rhythmus geht jederzeit in die Beine | |
und die Bläser schmettern satt und selbstzufrieden. Man darf vermuten, dass | |
Otis Redding, vor dem sich The Everettes mit einem Song ausdrücklich | |
verbeugen, zufrieden mit dem Kopf wippen würde. | |
Man hört überdeutlich: Das sind keine Anfänger. Tatsächlich ist die Band | |
aus The Floorettes hervorgegangen, die sich schon seit 2008 nicht nur in | |
der überschaubaren Soulszene Berlins einen Namen erspielt haben, sondern | |
auch in Japan Fans fanden und in Tokio auftreten konnten. Deren | |
Live-Qualitäten zeichnet auch die Nachfolgeformation aus, die im | |
vergangenen Jahr beim Baltic Soul Weekender sogar der mittlerweile | |
72-jährigen Legende Ruby Andrews als Backing Band dienen durfte. | |
## Auf ewig jung | |
Die Erkenntnisse des Nu Soul oder Neo Soul, der in den vergangenen Jahren | |
modernere Einflüsse, vor allem aus dem HipHop, erfolgreich integrierte, | |
sucht man in der Musik der Everettes vergeblich. So, wie die | |
Northern-Soul-Klassiker, die sie live spielen, sich auf ewig jung ins | |
kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, so sollen auch die eigenen Stücke | |
wirken. | |
Nein, die Everettes sind keine Revoluzzer, sie erfinden nicht einmal das | |
Rad neu, aber sie bringen es noch einmal vehement in Schwung. Den | |
Retro-Vorwurf, sagt Dommisch, nimmt er eher als Kompliment. Und natürlich: | |
Wenn man die Verehrung einer Ära so ernst nimmt wie The Everettes, dann ist | |
die Sanierung einer zeitlosen und ewig jungen Musik kein ehrenrühriges | |
Unterfangen, sondern eine ruhmreiche Aufgabe. | |
Die Hommage der Everettes an die Sechziger geht so weit, dass selbst die | |
Texte aus der fernen Vergangenheit zu stammen scheinen. Jess Roberts, Laura | |
Niemeyer und Katharina Dommisch, Alexanders Schwester, singen von einer | |
Liebe, die kein großes Glück ist, sondern eine schicksalhafte Fügung. Sie | |
singen von Frauen, die sich verschwenden an Männer. Und von Männern, die | |
diese Frauen nicht verdient haben. Trotzdem verlassen die Frauen die Männer | |
nicht, denn worüber sollten sie sonst singen? | |
Natürlich ist diese Idee von Soul nicht mehr zeitgemäß. Natürlich ist die | |
Diva, die in ihrem Gesang ihre emotionalen und – wie bei einer Mary J. | |
Blige – manchmal sogar körperlichen Narben ausstellt, die ihr das Leben und | |
insbesondere die Männer zugefügt haben, ein heutzutage umstrittenes, | |
antiemanzipatorisches Modell. Aber natürlich ist dieser Ansatz, dass eine | |
Sängerin im tapferen Ertragen und Bewahren der Beziehung zu einem untreuen | |
Mann stellvertretend das Leid der ganzen Welt auf sich nimmt, um die Liebe | |
und schlussendlich die Menschheit zu retten, ist diese unendliche | |
Überhöhung der Musik zu nachgerade biblischer Wirkkraft nicht nur eine | |
wundervoll romantische, sondern auch immer noch eine sehr kraftvolle | |
Vorstellung – gerade wenn man um ihre Patina weiß. | |
Denn diese Idee, die ja nicht weniger besagt, als dass ein Song die Welt | |
retten kann, sie rührt an den grundsätzlichen Zauber aller Popmusik. Den | |
Zauber, der ursächlich dafür verantwortlich ist, dass die Popmusik einst | |
ihren globalen Siegeszug antreten konnte. Dass dieser Zauber in einer | |
entzauberten Welt, in der Musik am digitalen Reißbrett entsteht, weitgehend | |
verloren gegangen ist, war folgerichtig und ist wohl – da sind wir wieder: | |
bloß zeitgemäß. Dass The Everettes, wenn sie denn dereinst doch einmal | |
wieder auftreten dürfen, diesen Zauber zumindest in einzelnen, vielleicht | |
vergeblichen, aber nichtsdestotrotz beglückenden Momenten wiederbeleben | |
werden, darauf darf man sich schon jetzt freuen. | |
30 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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