# taz.de -- Charaktere in Corona-Zeiten: Das neue Normal ist ziemlich super | |
> Die neue Lebenssituation zeigt unser Gesicht. Sie lässt bei uns die | |
> dominante Eigenschaften deutlicher hervortreten – fast wie unter einem | |
> Brennglas. | |
Bild: Neue Gesichter. Schöne Masken, aber manchmal bleiben hässliche Abdrück… | |
Würde es nicht so ziepen, müsste ich fast lachen: Wie ich hier auf der | |
Liege liege, mit FFP-2-Maske im Gesicht und Akupunkturnadeln auf der Stirn, | |
an den Ohren, Händen, Waden und Füßen, und wie der Arzt und ich uns vorher | |
wie außerirdische Schnabeltiere gegenübersaßen und ständig „Wie bitte“ | |
sagten, weil die Atemmasken die Stimmen schlucken und man alles nur noch | |
undeutlich hört. Ein idiotischer Anblick vermutlich. | |
Lachen sich irgendwo kleine Truman-Show-Regisseure tot? Und während ich auf | |
der Liege liege, frage ich mich, ist das nun die Krise oder einfach das | |
neue Normal? Befinde ich mich in einer Krise? Ist es nicht eher so, dass | |
wir alle eine gänzlich neue Lebenssituation haben und dass diese | |
Lebenssituation für viele, aber bei Weitem nicht für alle, eine Krise | |
bedeutet? | |
Könnte ich absehen von globalen Sorgen, von meinem Mitleid für unzählige | |
Menschen auf der Welt, von der Angst um meinen fast achtzigjährigen Vater | |
und diffusem Fernweh, wäre die neue Lebenssituation wie für mich gemacht: | |
keine Termine, kaum Verpflichtungen. Niemand kann sich aufregen, wenn ich | |
Buchmessen, Lesungen und Feiern fernbleibe und Verabredungen ausweiche. | |
Ich kann endlos an meinem Schreibtisch sitzen. Ich kann Mittagsschlaf | |
machen, ich kann nonstop mit meinem Mann zusammensein. Ich brauche nicht | |
über die Konfirmation meines Patensohns nachzudenken und wie man seine | |
frisch getrennten Eltern und deren Familien an einen Tisch bekommt. Ich | |
brauche keine Entschuldigung dafür, dass ich in diesem Frühjahr schon | |
wieder bestimmte Besuche nicht mache. | |
## Wie geöffnete App im Hintergrund | |
Kurzum, das neue Normal ist ziemlich super. Für mich. Wenngleich ich auch | |
merke, dass meine Haut dünner ist als zuvor. Weil das beherrschende Thema | |
immerzu da ist und wie eine geöffnete App im Hintergrund weiterläuft, | |
selbst wenn man sie gerade nicht benutzt. Ich kann mich nicht frei machen | |
von den Sorgen und Ängsten und den damit verbundenen Fragen: Wann gehen wir | |
wieder ins Büro? Wird es so etwas wie einen normalen Verlagsalltag mit | |
Sitzungen und Küchenunterhaltungen überhaupt je wieder geben? | |
Was ist mit dem runden Geburtstag meiner einen besten Freundin im Juni, was | |
mit dem noch größeren runden Geburtstag meines Vaters im Januar? Wann | |
werden wir wieder einkaufen gehen ohne Panik vor herumschwirrenden | |
Bioaerosolen? Wann werde ich mit meiner anderen besten Freundin wieder | |
abends auf ihrem Sofa hängen und Toffifee essen, bis mir schlecht wird? | |
Wann werden wir Konzerte besuchen, mit dem Zug fahren, in die Bretagne | |
reisen? | |
Und noch etwas wird mir klar, während ich auf der Liege liege und den Druck | |
der Nadeln immer weniger, die Maske dafür immer stärker spüre, weil das | |
Atmen anstrengender wird. | |
## Pragmatismus, Zynismus und Doofheit | |
Die neue Lebenssituation, sie zeigt unser Gesicht, lässt bei uns allen | |
dominante Eigenschaften deutlicher hervortreten, fast wie unter einem | |
Brennglas – extreme Ängstlichkeit, Genussfreude und das Talent, glücklich | |
zu sein (mein Mann), Pragmatismus und Selbstgenügsamkeit (mein Vater), | |
Pragmatismus und Betriebsamkeit (meine eine beste Freundin), Puzzlefreude | |
(die andere beste Freundin), Unzufriedenheit und Opferhabitus (die | |
Nachbarin), Ausgeglichenheit und vermeintliche Unempfindlichkeit gegenüber | |
allen äußeren Reizen oder Gefahren, seien es Zecken, Kälte oder eine | |
Pandemie (mein Bruder), Zynismus (Onkel drei), gut gelaunte Ignoranz (Onkel | |
eins), Doofheit (Herr M.), maßlose Dummheit, Frechheit, Unmenschlichkeit | |
(Trump), naive Glückseligkeit (die Hälfte aller Rentner), Ungeduld | |
(Jugend), schwache Nerven, Genügsamkeit, Glück, Faulheit (ich). So gibt uns | |
die neue Lebenssituation schärfere Konturen. Wir lernen unsere Liebsten | |
besser kennen. Und uns selbst. | |
Apropos Konturen. Als der Arzt mich endlich von den Nadeln befreit hat und | |
ich mir am Ausgang unbeholfen die Maske abziehe, entdecke ich im Spiegel | |
ein Gesicht, vor dem ich mich kurz erschrecke. Die Polsterschicht über der | |
Nase und die Gummibänder am Rand haben tiefe rote Abdrücke hinterlassen. | |
Hatte ich eben noch gesagt, wir zeigen in der neuen Lebenssituation alle | |
unser Gesicht? Hm. | |
21 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Katja Scholtz | |
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