| # taz.de -- Corona-Lockdown in der Türkei: Zwei Stunden zur Ausgangssperre | |
| > Chaos in türkischen Städten nach spontanem Lockdown am Wochenende: Läden | |
| > sind überfüllt, Innenminister Soylu bietet Rücktritt an, Erdoğan lehnt | |
| > ab. | |
| Bild: „Es gibt genug Brot für alle!“ Schlangestehen kurz bevor um Mitterna… | |
| Vor einer Bäckerei im Istanbuler Stadtteil Kadıköy warten um die 50 | |
| Menschen in der Schlange. Sie haben noch eine Stunde Zeit, bis die | |
| Ausgangssperre in Kraft tritt. Wer in der Eile seine Gesichtsmaske zuhause | |
| vergessen hat, hält sich mit einem Stofftaschentuch Mund und Nase zu. Aber | |
| einen Schutzabstand gibt es nicht. Der Bäckergeselle ruft in die Menge der | |
| Wartenden: “Leute, wir haben genug Teig. Es gibt Brot für alle, die | |
| anstehen.“ | |
| Ein Mann um die 30 sagt, er sei extra aus seinem Wohnviertel hierher | |
| gefahren, weil es hier nicht so voll ist. In Ümraniye habe er Menschen sich | |
| auf der Straße prügeln sehen. Neben der Bäckerei ist ein Gemüseladen. Die | |
| Leute sind angespannt und wollen noch schnell etwas zusammenkaufen. Wenn | |
| eine Schlange mal zur besonders dichten Traube wird, macht die Polizei eine | |
| Durchsage: “Liebe Istanbuler, halten wir uns an die Regeln des Social | |
| Distancing! Und bitte mit Handschuhen und Masken!“ | |
| Vergleichbare Szenen spielten sich am Abend des 10. April nicht nur in | |
| Istanbul, sondern in 30 weiteren Städten der Türkei ab. Das | |
| Innenministerium hatte am Freitag kurzfristig eine zweitägige | |
| Ausgangssperre verhängt, die als Maßnahme zur Eindämmung der | |
| Corona-Pandemie gedacht war. Ungefähr zweieinhalb Stunden vor Mitternacht | |
| erfuhren die Menschen davon und stürzten sich zu Hunderttausenden auf die | |
| Bäckereien, Lebensmittelläden und Tankstellen. | |
| Selbst der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP) war nicht | |
| eingeweiht. Er kritisierte öffentlich, dass die Stadtverwaltung nichts von | |
| den Plänen des Innenministeriums wusste und die kurzfristige Ansage zu | |
| “Verwirrung und Panik“ führte. | |
| Kurz vor Mitternacht schaut sich ein Jugendlicher beim Warten in der | |
| Bäckereischlange İmamoğlus Rede an und sagt: “Der Bürgermeister weiß nic… | |
| von dieser Entscheidung, was sollen wir als normale Leute dazu sagen?“ | |
| ## Ein unerwartetes Rücktrittsgesuch | |
| Aktuell hat die Türkei mit mehr als 65.000 Fällen von Covid-19 zu kämpfen. | |
| Die kurzfristige Ankündigung der Ausgangssperre verursachte ein solches | |
| Chaos, dass die türkische Ärztekammer sie als “Bruchstelle“ im | |
| gesellschaftlichen Zusammenhalt gegen Corona bezeichnete. Besonders das | |
| Timing sei sehr unglücklich verlaufen. Allerdings wird die Ärztekammer | |
| ohnehin weder vom offiziellen Wissenschaftsrat, noch vom | |
| Gesundheitsministerium in die Epidemiebekämpfung eingebunden. | |
| Innenminister Süleyman Soylu sagte am Abend des 10. April im Fernsehen, er | |
| habe die Entscheidung aufgrund einer Weisung von Staatspräsident Erdoğan | |
| getroffen. Die chaotischen Maßnahmen der Regierung stießen bei vielen | |
| Menschen auf Kritik. Auf den Fernsehauftritt des Ministers folgte eine für | |
| die türkische Politik ungewöhnliche Turbulenz: Zwei Tage später, am 12. | |
| April gab Soylu eine Erklärung ab, in der er im Widerspruch zu seinen | |
| Aussagen im Fernsehen die komplette Verantwortung für das Desaster allein | |
| auf sich nahm und seinen Rücktritt als Minister anbot. Erdoğan hingegen | |
| akzeptierte sein Rücktrittsgesuch nicht. | |
| Montagmorgen in Samatya, einem alten, armenisch-griechischen Istanbuler | |
| Viertel mit engstehenden, historischen Häusern. Nach Ablauf der | |
| Ausgangssperre, wirkt hier alles so, als sei die Pandemiegefahr gebannt und | |
| die Rückkehr zur Normalität schon längst vollzogen. Über die belebten | |
| Straßen fahren Krankenwagen mit Sirenen, die Geschäfte sind proppenvoll. | |
| Ein Mann sagt, er kaufe jetzt ein, “um nicht noch einmal unvorbereitet | |
| getroffen zu werden“. | |
| Ein anderer wartet darauf, dass die Regale mit den Hygieneartikeln | |
| aufgefüllt werden. “Seit einer Viertelstunde warte ich auf Toilettenpapier“ | |
| sagt er. Ein Angestellter des Supermarkts berichtet, sein ganzer Arbeitstag | |
| vergehe damit, die Regale nachzufüllen, die sich sofort leeren. Weder die | |
| Einräumer, noch die Kollegen im Lager kommen mit der rasanten Nachfrage | |
| mit. So hektisch geht es nicht nur in Istanbul zu, landesweit berichten | |
| Zeitungen, nach dem Ende der Ausgangssperren hätten die Menschen die | |
| Geschäfte gestürmt und die Wochenmärkte seien allerorts überfüllt. | |
| ## Fabriken und Bergwerke sind weiter in Betrieb | |
| Noch am gleichen Tag stellte sich Erdoğan vor die Kameras. Diesmal überließ | |
| er die Arbeit nicht seinen Ministern, sondern kündigte persönlich an, dass | |
| am kommenden Wochenende wieder eine Ausgangssperre über die ganze Türkei | |
| verhängt werde: Von Freitagnacht ab 24 Uhr bis Sonntagnacht um 24 Uhr darf | |
| niemand im Land die eigenen vier Wände verlassen. “Das möchte ich jetzt | |
| schon allen Bürgern verkünden“, sagt er. | |
| Der Vize-Vorsitzende der Ärztekammer, Ali Çerkezoğlu, geht davon aus, dass | |
| eine komplette Ausgangssperre von Wochenende zu Wochenende nichts bringt. | |
| Eine solche Vorgehensweise sei wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen. | |
| “Unter der Woche sind alle Menschen auf den Straßen und müssen in Betrieben | |
| arbeiten, in denen körperlicher Sicherheitsabstand überhaupt nicht | |
| eingehalten werden kann“, sagt er taz.gazete. Fabriken und sogar Bergwerke | |
| seien weiterhin in Betrieb. “In einem System, in dem die arbeitende | |
| Bevölkerung sich nicht schützen kann, bringen Verbote fürs Wochenende nur | |
| einen Bruchteil von dem, was man sich vielleicht von ihnen erhofft.“ | |
| Der CHP-Abgeordnete Ali Şeker vermutet einen banalen Grund hinter den | |
| On-Off-Maßnahmen der Regierung: “Die Maßnahmen sind nicht für die | |
| Bevölkerung gedacht, sondern nur für die Wirtschaft. Deshalb wird Druck auf | |
| Arbeiter*innen ausgeübt, weiterzuarbeiten“, sagt der Arzt, der eine eigene | |
| Klinik in einem Istanbuler Vorort betreibt. “Man hätte während des | |
| Wirtschaftsbooms durchaus Mittel für finstere Tage wie die jetzigen | |
| ansparen können, aber offensichtlich sind sämtliche finanziellen Ressourcen | |
| der Regierung erschöpft.“ | |
| Die kurzfristige Ankündigung der Ausgangssperre am 10. April brachte die | |
| Krise zum Vorschein, die sich im Inneren der Regierung abspielt. Zugleich | |
| brachte sie die Maßnahmen gegen eine weitere Ausbreitung des Coronavirus | |
| zum Stillstand. Welche Auswirkungen es auf den Verlauf der Epidemie haben | |
| wird, dass am Freitag Hunderttausende auf die Straßen strömten, ist derzeit | |
| ungewiss. Doch eine Erklärung, die der Gesundheitsminister Fahrettin Koca | |
| am 3. April zur Verbreitung des Virus abgab, gibt einen Anhaltspunkt über | |
| die möglichen Folgen: „In Istanbul überträgt eine infizierte Person das | |
| Virus an 16 Personen.“ | |
| Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
| 15 Apr 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Vecih Cuzdan | |
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