# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie kämpft sich durch | |
> Hannelore und Lutz Birke wohnen immer schon in Halle (Saale). Ihre | |
> Geschichte spiegelt den Alltag in der DDR und den im Deutschland nach der | |
> Wende | |
Bild: Sie halten zusammen: Lutz und Hanne Birke | |
In einem Ferienlager haben sich Hannelore und Lutz Birke kennengelernt, da | |
waren beide Teenager. Bald wurden sie ein Paar und sind es geblieben. Jetzt | |
schon fast ein halbes Jahrhundert lang. | |
Draußen: Wer zu den Birkes will, nimmt die Tram 1, Richtung „Frohe | |
Zukunft“. Vom Stadtzentrum aus sind es zehn Minuten. Sie wohnen in einer | |
Mehrfamilienhaussiedlung. Dahinter beginnt der Kleingartenverein „Dessauer | |
Straße“. Hanne Birke winkt vom Balkon aus und weist den Weg zum richtigen | |
Eingang. | |
Drinnen: An den Wänden im Wohnzimmer hängen Fotos der zwei Enkel, Oskar und | |
Marlon. Hanne Birke deutet auch auf eine bunt bemalte Glasflasche im Regal, | |
„ein Geschenk vom Jüngeren“, sagt sie. „Meine Enkelkinder sind in dieser | |
Wohnung überall.“ Sie steht mit drei vollen Kaffeetassen vor dem gläsernen | |
Couchtisch und stellt sie auf grüne Gummuntersetzer. | |
„Girls Unite“: Hanne ist zierlich, klein und hat rotblonde kurze Haare. Zu | |
ihrem Shirt trägt sie eine Trainingshose. Der Schriftzug „Girls Unite“, | |
Mädchen vereinigt euch, zieht sich als Streifen entlang der Seitennaht, | |
„die habe ich aus der Kinderabteilung, ist Größe 164.“ Hannelore Birke ist | |
zehn Jahre nach Kriegsende in Halle (Saale) geboren, sie lebt schon immer | |
in dieser Stadt. Neun Jahre lang ging sie in die Schule, länger wollte sie | |
nicht: „Ich habe meine Eltern angebettelt, aufhören zu dürfen.“ Lieber | |
lernt sie Blumenbinderin. | |
Gemanagt: Auch Lutz ist Hallenser. Er ging zehn Jahre lang zur Schule. | |
„Danach konnte ich mir meine Stelle fast aussuchen, weil mein Abschluss so | |
gut war.“ Fernmeldetechniker wollte er werden. Und was genau machen die? | |
„Telefonanlagen warten und pflegen“, sagt er. Kurz nach dem Ende seiner | |
Ausbildung musste er zur Nationalen Volksarmee, eineinhalb Jahre | |
Grundwehrdienst, „war Pflicht“. Da war Hanne gerade 20 Jahre alt und | |
schwanger. Der erste Sohn war unterwegs. Nach der Armee will Lutz | |
studieren. „Das war viel: Arbeiten, Studieren und Familie. Das haben wir | |
aber gut gemanagt.“ Während Lutz das erzählt, lehnt sich Hanne kurz an | |
seine Schulter, sieht ihn an, lacht; er reibt sich verlegen die Nase. | |
Eine Jugendliebe: Hanne und Lutz Birke sitzen auf der Couch. Kennengelernt | |
hatten sie sich im Betriebskinderferienheim. Da war sie 13 und er 14 Jahre | |
alt. Danach haben sie sich nie mehr aus den Augen verloren. „Eines Tages | |
stand er plötzlich mit einem Motorrad vor meiner Tür“, Motorrad, das sei | |
damals seine Leidenschaft gewesen. „Ab da waren wir dann zusammen.“ | |
Etwas Neues: Ganz anders als Hanne, die die Jüngste von neun Kindern ist, | |
hat Lutz keine Geschwister. Mit seinen Eltern war Hanne überhaupt zum | |
ersten Mal in ihrem Leben im Urlaub am Meer. Von ihnen bekam sie auch das | |
erste Mal etwas Neues, nichts aus zweiter oder dritter Hand. Als sie ihre | |
Ausbildung abschloss, schenkten sie ihr eine Uhr. „Die habe ich heute immer | |
noch, obwohl sie schon lange nicht mehr funktioniert.“ | |
40 Stunden: Kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes kündigt Hanne im | |
Blumenladen. „Ich habe meine Arbeit dort geliebt, aber mit zwei Kindern | |
waren 40 Stunden einfach zu viel, und weniger ging nicht.“ Sorgen, deswegen | |
ganz ohne Arbeit dazustehen, habe sie sich keine gemacht. „Arbeitslosigkeit | |
kannten wir da noch nicht, es war ja DDR-Zeit“, sagt Lutz. | |
Selbstvertrauen: „Nein, das kann ich nicht!“, sagt Hanne, als ihr ein | |
Bekannter einen Job als Bürokauffrau anbietet. Dieser Satz, dieses | |
„Das-kann-ich-nicht“, begleite sie schon ihr ganzes Leben. Hanne vermutet, | |
dass ihre Unsicherheit etwas mit ihrer Kindheit zu tun hat. Als Jüngste mit | |
so vielen älteren Geschwistern seien ihr Entscheidungen oft abgenommen | |
worden. „Ich habe mich schon immer unterschätzt.“ Aber: Erst komme zwar die | |
Panik vor neuen Herausforderungen, dann mache sie es aber doch. So auch in | |
diesem Fall: Trotz ihrer Angst fängt sie im Büro an. Doch wegen | |
Personalabbau nach der Wende wird ihr 1991 gekündigt. Hanne ist arbeitslos | |
oder „zu Hause“, wie die beiden sagen. | |
1989: Die Wende habe Hanne vor allem am Fernseher mitgekriegt, „ich war | |
nicht so politisch“. Aber gemerkt habe sie es dann schon, weil sie dann | |
arbeitslos wurde. Diese erste Arbeitslosigkeit sei allerdings noch nicht so | |
schlimm gewesen, Hartz IV gab es damals noch nicht. Nach eineinhalb Jahren | |
bekam sie eine neue Stelle als Bürokraft. | |
Eine von vielen: Das Unternehmen geht ein, der Verwalter hat Geld | |
unterschlagen und ist abgehauen. Hanne ist wieder ohne Arbeit. Es geht ihr | |
wie vielen anderen. | |
Kein richtiges Leben: In den ersten zwei Jahren ihrer Arbeitslosigkeit | |
schreibt Hanne viele Bewerbungen. Erfolglos. „Irgendwann konnte ich einfach | |
nicht mehr. Auf dem Arbeitsamt hat man uns behandelt wie den letzten | |
Dreck.“ | |
Alltag: „Auch als ich kein Geld verdient habe, wollte ich finanziell nicht | |
von Lutz abhängig sein“, sagt Hanne. „Ich wollte immer arbeiten. In der DDR | |
haben alle Frauen gearbeitet.“ Einziger Anker in der Zeit seien die Kinder | |
gewesen, Lutz habe sich eher zurückgezogen. Viel haben die beiden damals | |
nicht darüber gesprochen, dass es ihr nicht gut ging, dass sie keine Arbeit | |
fand. Es war Alltag. | |
Sprung ins kalte Wasser: Hanne war fast sechs Jahre lang arbeitslos, als | |
Conni, die Frau ihres Neffen, ihr zu einer Stelle in einem großen | |
Buchhandel verhelfen will. Hanne lehnt ab. Sie ist mehr denn je davon | |
überzeugt, dass sie es nicht kann und dass kein Arbeitgeber sie mehr will: | |
„Kann ich nicht, mach ich nicht.“ Conni gibt nicht auf, macht ihr Druck. 14 | |
Tage später fängt sie im Wareneingang an. | |
Das Kollektiv: Die erste Woche sei die Hölle gewesen. „Ich habe das Pensum | |
einfach nicht geschafft, und die damalige Chefin hat mich | |
zusammengestaucht.“ Den ganzen Tag habe Hanne geweint. Aber sie hält durch, | |
wechselt vom Wareneingang ins Büro und vom Büro an die Kasse. Die | |
Hauptkasse wird zu ihrem Hoheitsgebiet. Endlich war sie angekommen. Im | |
Buchladen fühlte sie sich wohl. Dort sei man solidarisch, das „Kollektiv“ | |
funktioniere, erzählt Hanne. Sie habe auch privat mit den Kolleginnen sehr | |
gut gekonnt, sie seien auf Konzerte gegangen, hätten Glühwein getrunken auf | |
dem Weihnachtsmarkt. Aber dann, nach fünf Jahren, passiert es erneut: | |
Stellenabbau. „Wer als Letztes gekommen war, musste gehen“, sagt Hanne. | |
Aufhören ist keine Option: Dieses Mal ist sie zwei Jahre lang arbeitslos. | |
Bis eine Freundin einen Zettel beim Drogeriemarkt Rossmann im Schaufenster | |
hängen sieht und ihr Bescheid sagt. Gleich am nächsten Tag bewirbt sich | |
Hanne, und es klappt. Und obwohl sie jetzt arbeitet, wird ihre Depression | |
wieder schlimmer. Die Chefin sei tyrannisch gewesen, „ich war irgendwann | |
nur noch Haut und Knochen“. | |
Die Hauptkassiererin: Eines Tages sah ein alter Kollege vom Buchladen sie | |
bei Rossmann an der Kasse. „Er hat gesehen, wie schlecht es mir ging.“ Und | |
er wusste: In dem Buchladen wird eine Kassiererin gesucht, er schlägt Hanne | |
vor. Die neue Chefin kennt Hanne von früher, „sie hat immer an mich | |
geglaubt“. Bis zur Rente arbeitet sie dort als Hauptkassiererin. | |
Unter Menschen: Auch als Rentnerin arbeitet Hanne weiter, auf | |
450-Euro-Basis. Bei Lutz war der Weg ebener. Bis er 2016 in Rente ging, hat | |
er 47 Jahre lang gearbeitet. Er war nie länger als zwei Monate „zu Hause“. | |
Er genießt es heute, nicht mehr zur Arbeit gehen zu müssen. Ganz anders | |
Hanne: „Unter Menschen zu sein, ich brauche das.“ | |
2 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Hellen Vogel | |
## TAGS | |
SPD-Basis | |
Der Hausbesuch | |
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