# taz.de -- Prozess um MH17-Abschuss in Ukraine: Leben mit der Erinnerung | |
> Bald sechs Jahre sind vergangen, seit Hans de Borst seine Tochter verlor. | |
> Bei aller Trauer schöpft er neue Kraft: Am Montag beginnt der Prozess | |
Bild: Die Absturzstelle am 17. Juli 2014 | |
Monster ist selbst im Winter ein freundlicher Ort, nichts, was der Name | |
englischen oder deutschen Ohren verspricht. Es handelt sich vielmehr um ein | |
sehr niederländisches Idyll, nur wenige Kilometer hinter der Küste bei Den | |
Haag gelegen. Die Häuser sind aus hellem Backstein gebaut, die Straßen, | |
breit und wenig befahren, nach Malern und Komponisten benannt. Wasserläufe | |
durchziehen die Grünflächen. | |
Auf Niederländisch bedeutet Monster Muster. Die Reihenhaussiedlung, in der | |
Hans de Borst wohnt, ist so ziemlich das Gegenteil eines | |
Katastrophengebiets mit rauchenden Flugzeugtrümmern und verstreuten | |
Gepäckstücken. Dies ist eine Mustersiedlung. | |
Hans de Borst, geschieden und inzwischen in der zweiten Hälfte der fünfzig, | |
sieht älter aus als beim letzten Besuch – und wirkt doch vitaler. Er hat | |
dieselbe hagere, sportliche Gestalt, aber das Leben scheint in seine | |
Gesichtszüge zurückgekehrt zu sein. Vor einigen Jahren waren sie wie | |
festgefroren im unermesslichen Kummer eines Vaters, dem an diesem | |
verdammten 17. Juli 2014 seine Tochter entrissen wurde. Elsemiek war 17 und | |
hatte gerade das vorletzte Schuljahr beendet. | |
## Ein Urlaubsfoto, das Mädchen im hellen Sommerkleid | |
Im Wohnzimmer fällt sogleich auf, dass Elsemiek und ihr Vater die gleichen | |
blauen Augen haben. Oder hatten? Die von Hans schauen fragend, | |
unterstreichen sein Angebot – „Willst du Kaffee?“ –, und während er si… | |
der offenen Küche zu schaffen macht, strahlen die von Elsemiek dem Besucher | |
auf Fotos von der Wand gegenüber entgegen. Ein Urlaubsfoto als Poster, ein | |
Mädchen im hellen Sommerkleid am Strand, beschwingt und leicht wirkt sie. | |
Das Wohnzimmer hat helle Fliesen, ein holzverkleidetes Dach und viel | |
Erinnerung an Elsemiek. In der Ecke steht ihr Klavier. | |
Es gibt in den Niederlanden viele solcher Wohnstuben. Orte, an denen die | |
Passagiere des [1][Malaysia-Airlines-Flugs MH17] von Amsterdam nach Kuala | |
Lumpur, die über der Ostukraine abgeschossen wurden, in Bildern und | |
Objekten anwesend bleiben. 196 der Getöteten kamen von hier, die weitaus | |
größte Gruppe unter den Passagieren. Schiphol als der Flughafen des kleinen | |
Landes ist für jeden Einwohner ein bekannter Referenzpunkt. Zahlreiche | |
Menschen kennen zumindest über einige Ecken jemanden, der im Flugzeug saß. | |
„MH17“ ist der Code einer Katastrophe, die tief ins kollektive Bewusstsein | |
und die Gefühlslage der niederländischen Gesellschaft gedrungen ist. Immer, | |
wenn in den letzten Jahren ein Untersuchungsbericht zum Stand der Dinge | |
veröffentlicht wurde, war der Abschuss das bestimmende Thema im Land. Erst | |
recht gilt das für den Prozess gegen vier Verdächtige, der heute vor dem | |
Gerichtshof bei Schiphol beginnt. Drei Topmilitärs der selbst erklärten | |
Volksrepublik Donezk und ein Befehlshaber einer lokalen Armeeeinheit sind | |
angeklagt, den Flugzeugabsturz mit tödlicher Folge verursacht und die | |
Insassen ermordet zu haben (siehe Kasten). Es ist keine Übertreibung zu | |
sagen: Das Land hat darauf gewartet, seit diesen hektischen Hochsommertagen | |
vor sechs Jahren. | |
An jenem 17. Juli 2014 schaut Hans de Borst in seinem Wohnzimmer die Tour | |
de France im Fernsehen, als er die Nachricht vom Abschuss erhält. Etwas | |
mehr als zwei Tage später wird er einer der ersten Hinterbliebenen sein, | |
die für die Öffentlichkeit ein Gesicht bekommen. Dass da ein Flugzeug im | |
Kriegsgebiet aus der Luft abgeschossen, knapp 300 Menschen getötet werden | |
und die Welt danach im Dunkeln tappt über die Hintergründe, das ist Hans de | |
Borst unerträglich. | |
Also schreibt er nachts einen offenen Brief, den er auf Facebook postet. | |
Tippt, was ihm auf der Seele liegt, ohne lange zu überlegen, wobei er | |
seinen Schmerz in Zynismus übersetzt. Die Anrede reflektiert die | |
unübersichtliche Informationslage: „Vielen Dank, Herr Putin, Führer der | |
Separatisten oder der ukrainischen Regierung, für die Ermordung meines | |
lieben und einzigen Kindes, Elsemiek de Borst!“ Am nächsten Tag laufen | |
internationale Medien ihm die Tür ein. | |
## Hans de Borst, die Stimme der Hinterbliebenen | |
Bald darauf lernt auch [2][Mark Rutte] Elsemieks Vater kennen. In | |
Nieuwegein bei Utrecht treffen die Hinterbliebenen der niederländischen | |
Opfer erstmals mit dem Premier zusammen. Rutte steht unter Druck: | |
Unmittelbar nach dem Abschuss hat er angekündigt, nicht ruhen zu wollen, | |
bis die Verantwortlichen vor Gericht stehen, und dafür „den untersten Stein | |
nach oben zu holen“. Doch das stellt sich alles andere als leicht dar, da | |
die Abschussstelle im ukrainischen Separatistengebiet lange nicht frei | |
zugänglich ist. | |
Der erste Angehörige, der zum Mikrofon geht, ist Hans de Borst. Wie viele | |
andere hier ist er zornig und verletzt wegen dieser Fernsehbilder: | |
betrunkene Separatisten an der Abschussstelle, die um die Besitztümer der | |
Opfer herumstehen. Wäre es ein Flugzeug voller US-Amerikaner oder Russen | |
gewesen, sagt er bitter, hätte man das Gebiet längst abgesichert und die | |
Leichen geborgen. Dass die niederländische Regierung eher diplomatisch um | |
Zugang ersucht, dafür hat er kein Verständnis. | |
In der Folge ringen die Hinterbliebenen nicht nur mit Trauer und Verlust, | |
sondern auch mit stetiger Unsicherheit. Im Herbst 2015 erscheint ein erster | |
Bericht der niederländischen Untersuchungskommission. Der Befund: Eine | |
BUK-Rakete ist für den Abschuss verantwortlich. Obwohl es in dem Report gar | |
nicht um die Schuldfrage geht, macht sich Ungeduld im Land breit. | |
Hinterbliebene und Öffentlichkeit wollen die Wahrheit erfahren. | |
Hans de Borst ist in jenen Tagen schwer gezeichnet. Zu Hause in Monster | |
erzählt er bereitwillig von Elsemiek, ihren Zukunftsplänen, dem geplanten | |
Ingenieurstudium und dem Job als Kellnerin im Pfannkuchen-Restaurant. Die | |
Erschütterung steht ihm dabei tief in das schmale Gesicht geschnitten. | |
Später zeigt er auf seinem Mobiltelefon ein Video, in dem seine Tochter am | |
Piano sitzt und eines dieser melancholischen Stücke aus der | |
Amélie-Filmmusik spielt. Es sind Momente von einer Intensität, bei der man | |
nicht weiß, wohin man die Augen wenden soll. | |
Kurz vor Jahresende 2015 postet Hans auf Facebook ein Foto seiner Tochter. | |
Auch dieses Bild entstand auf einer sommerlichen Reise. Elsemiek sitzt in | |
Schwimmweste auf einem Boot und schaut versonnen auf das glitzernde Wasser | |
hinaus. Dazu schreibt er: „17 Monate nach MH17 vermisse dich jede Sekunde, | |
jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, das kommt, | |
meine liebe Elsemiek, für immer in meinem Herzen.“ | |
Die Monate und Jahre, die kommen, werden zäh. Wenn Hans de Borst heute | |
zurückblickt, betont er, zufrieden zu sein mit der Informationspolitik der | |
Regierung. „Rutte, der als Einziger von damals noch dabei ist, hat uns mit | |
den Mitteln, die er hat, immer gut geholfen.“ Diese Mittel aber sind | |
beschränkt, und das gemeinsame Investigationsteam der Niederlande, | |
Belgiens, Australiens, Malaysias sowie der Ukraine ermittelt zwar | |
fieberhaft, kommuniziert jedoch monatelang nichts nach außen. | |
Unter den Hinterbliebenen gibt es eine kleine Gruppe von etwa 25 Personen, | |
die sich in dieser Situation Gehör verschaffen will. Sie sind bei | |
Parlamentsdebatten anwesend, treffen sich mit dem Premier oder | |
Außenminister Stef Blok, schreiben Federica Mogherini an, die | |
Außenpolitik-Chefin der EU, um mit ihrer Hilfe Radar- und | |
Satellitenaufnahmen vom Abschuss zu bekommen. Sie nennt sich „Arbeitsgruppe | |
Wahrheitsfindung MH17“. Hans de Borst ist von Beginn an Teil dieser Gruppe. | |
Als im Herbst 2016 ein erster Bericht des Joint-Investigation-Teams | |
erscheint, wonach die [3][BUK-Rakete] von prorussischen Rebellen bedient | |
und aus Russland geliefert wurde, ist das für die Angehörigen eine | |
Erleichterung. „Es tut noch immer jeden Tag weh, dass Elsemieks Mörder | |
damit davonkommen“, schreibt Hans de Borst am Abend zuvor per WhatsApp. Am | |
Tag darauf nennt er den Report „eine klare Geschichte mit wirklichen | |
Beweisen. Es tut gut, dass das Team der Staatsanwaltschaft an der | |
Aufklärung arbeitet.“ | |
Der aufreibende Dauerzustand fordert seinen Tribut. Hans de Borst hat | |
Konzentrationsprobleme, und für seine Arbeit in einer Bank fehlt ihm die | |
Motivation. Das Feilschen um 0,2 Prozentpunkte Zinsen, so sagt er, mache | |
keinen Sinn mehr für ihn. Bei einer internen Umstrukturierung scheidet er | |
freiwillig aus. Er empfängt eine Zeitlang Arbeitslosengeld. Irgendwann | |
schickt ihn das Amt zum Gespräch mit einem Psychiater, wobei es auch um | |
neue berufliche Optionen geht. „Sie können doch gar nicht arbeiten! Sie | |
haben doch schon einen Job“, sagt der Psychiater. Hans begreift ihn nicht. | |
„Nun, Sie sind permanent Hinterbliebener von ‚MH17‘. Das ist doch Ihre | |
Arbeit.“ Hans de Borst fühlt sich ertappt. | |
## „Eigentlich bin ich eher abwartend“ | |
Unter allen Angehörigen ist er fraglos einer der Aktivposten. Hans de Borst | |
tauscht sich täglich in der Wahrheitsfindungs-WhatsApp-Gruppe aus. Er | |
organisiert die jährlichen Gedenkfeiern am nationalen MH17-Monument bei | |
Schiphol mit und Protestaktionen vor der russischen Botschaft in Den Haag. | |
Er fährt nach Brüssel und redet vor den Fraktionen des EU-Parlaments. | |
Entspricht das eigentlich seinem Charakter oder ergab es sich aus der | |
Situation? „Eigentlich bin ich eher abwartend. Aber es ist gut, wenn wir | |
uns etwas stärker positionieren.“ | |
Dabei ist der Kontakt mit jenen, die in der gleichen Lage stecken, auch | |
etwas, was ihm Halt gibt und hilft, wieder Antrieb zu entwickeln. “Es ist | |
schön, wenn Leute einem helfen können“, sagt er einmal. „Aber du musst | |
selbst wieder eine Perspektive sehen bei der Frage: ‚Was machen wir noch | |
mit unserem Leben?‘“ | |
Das geteilte Leid hat auch die sozialen Gefüge der Hinterbliebenen | |
verändert. Hans de Borst hat neue Freund- und Bekanntschaften geschlossen, | |
er nahm an einem „MH17-Tennisturnier“ teil – „das ist doch verrückt, a… | |
auch schön!“ Er besuchte andere Eltern, die Kinder verloren, in New York | |
oder Newcastle. Wenn er dort mit dem Vater eines englischen Opfers in einem | |
Pub sitzt, sagt er beim Anstoßen schon mal: „Lieber hätte ich dich nie | |
kennengelernt. Aber wenn wir uns schon kennen, trinken wir besser ein Bier | |
zusammen!“ | |
Im Juni 2019 erlässt die niederländische Staatsanwaltschaft vier | |
Haftbefehle gegen Verdächtige aus den Reihen der prorussischen Rebellen. | |
Einmal mehr ist Hans de Borst nach Nieuwegein gekommen, einem unscheinbares | |
Städtchen bei Utrecht, wo die Angehörigen jeweils über neue Entwicklungen | |
informiert werden. „Das verschafft mir fast Erleichterung“, kommentiert er. | |
„Ich betrachte es als ersten Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit.“ | |
Genau dort, im Eventzentrum von Nieuwegein, will er im vertrauten Kreis der | |
anderen Angehörigen auch den Prozess verfolgen. An ein paar Sitzungstagen | |
zu Beginn hat er sich als Besucher registriert. Später, im Herbst, will er | |
von seinem Recht Gebrauch machen, vor Gericht zu sprechen. „Dann geht es um | |
die persönliche Geschichte und was das alles mit uns gemacht hat.“ | |
Dass der Prozess nun endlich beginnt, sieht Hans de Borst nach Jahren des | |
Wartens mit Genugtuung. Eine Verurteilung der Angeklagten könnte den | |
Hinterbliebenen in ihrer unterbrochenen Trauerphase helfen. Doch es geht | |
ihm um mehr: „Der niederländische Außenminister sagte einmal zu uns, sie | |
seien es uns schuldig, dass der Prozess bald beginne. Einer von uns | |
entgegnete: ‚Das seid ihr der Welt schuldig. Denn wie kann es sein, dass | |
jemand einen Massenmord begeht und einfach davonläuft?‘“ | |
Was bleiben wird, ist das Fehlen seiner Tochter Elsemiek, das ihm in so | |
vielen Situationen bewusst wird. In alltäglichen, wie in der Erinnerung, | |
gemeinsam eine Tasse Tee getrunken zu haben und das nie wieder zu können. | |
Im Geräusch, das sie in der Garage machte, einem Erkennungssignal, wenn sie | |
am Wochenende mit dem Fahrrad vom Haus ihrer Mutter kam, und das vor fast | |
sechs Jahren verstummt ist. Und während der Pausen auf ihrer Bank an der | |
Skipiste, im lieb gewonnenen Wintersportort in Österreich. Er hat eine | |
Erinnerungsplakette mit ihrem Namen daran befestigen lassen. Manchmal | |
zündet er dort eine Kerze an für Elsemiek. Erst neulich erst war Hans de | |
Borst wieder dort. „Jetzt sitze ich allein auf der Bank. Aber sie ist doch | |
ein bisschen dabei.“ | |
9 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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