# taz.de -- Armut in der Ukraine: Hund oder Heizung | |
> Ein Abgeordneter schlägt einer Rentnerin den Verkauf ihres Hundes vor, um | |
> die Heizkosten zahlen zu können. Das entfacht einen Shitstorm. | |
Bild: Soll er auch verkauft werden? Ein Yorkshire-Terrier in Kiew | |
Kiew taz | Seit Anfang des Monats ist die 66-jährige Rentnerin Ljubow | |
Koljucha eine der meistgefragten Interviewpartnerinnen der Ukraine. Und | |
auch ihr Hund „Scharik“ hat kein ruhiges Leben mehr in seiner Hundehütte in | |
dem 4.000 Einwohner zählenden Dorf Adschamka in der Nähe von Kirowograd in | |
der Zentralukraine. Täglich gibt sie Interviews, steht mit Scharik vor | |
Fernsehkameras und Fotografen. | |
Ein einziger kurzer Anruf Anfang des Monats in einer Talkshow hatte die | |
Rentnerin über Nacht berühmt gemacht. Am 1. Februar war Ljubow Koljucha, | |
die allein mit ihrem Hund Scharik und einer Katze in einem kleinen Haus in | |
Adschamka lebt, gerade dabei, Brot zu backen. | |
Währenddessen lief im Fernsehen eine Talkshow. Politiker und Journalisten | |
diskutierten die steigenden Kosten für kommunale Leistungen. Kurz | |
entschlossen griff Ljubow Koljucha zum Hörer. Ihr falle es mit einer Rente | |
von unter hundert Euro immer schwerer, die steigenden Kosten für die | |
Heizung zu bezahlen, sagte sie. Besonders ereiferte sie sich darüber, dass | |
seit dem 1. Januar auch noch die Gebühren für Gas gestiegen seien. | |
Anschließend legte sie auf, widmete sich wieder ihrem Brot und bekam schon | |
nicht mehr mit, dass sich nun das Gespräch in der Talkshow um ihren Anruf | |
drehte. Einer der jüngsten Abgeordneten des Parlaments, der 25-jährige | |
Jewgenij Bragar von der Regierungspartei „Diener des Volkes“, ergriff das | |
Wort. | |
## Prüfung der Besitzverhältnisse | |
Wer Schwierigkeiten habe, die kommunalen Gebühren zu bezahlen, könne | |
staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, so Bragar. Doch wer die | |
beantrage, müsse auch wissen, dass dann auch die Besitzverhältnisse des | |
Antragstellers geprüft würden. „Ich weiß von einem Fall, wo eine Frau eine | |
Unterstützungszahlung wollte, obwohl sie mehrere Wohnungen besitzt“, | |
erklärt Bragar. Man könne ja auch für die Heizung bezahlen, wenn man etwas | |
von seinem Eigentum oder den Rassehund verkaufe, fügte der Abgeordnete | |
hinzu. | |
Schon in der Sendung führte das Ansinnen des Abgeordneten zu einem Sturm | |
der Entrüstung. Und in der ganzen Ukraine begannen sich die Menschen über | |
Bragar aufzuregen. Auch dessen halbherzige Entschuldigung, in der er seine | |
Aussage auf seine Unerfahrenheit und sein jugendliches Alter schob, konnte | |
die Gemüter nicht beruhigen. | |
Er habe nur darauf hinweisen wollen, dass es ungerecht sei, dass Leute | |
Heizkostenzuschuss beantragten, „die ihr Eigentum geheim halten und einen | |
luxuriösen Lebensstil führen“. | |
In den sozialen Netzwerken setzte ein Flashmob ein: „Hund oder Heizung?“ So | |
zeigt eine Collage in einem Facebook-Eintrag einen besorgten Hund, der sein | |
Herrchen massiert und das Geschirr spült. Und das alles nur, weil er nicht | |
angesichts der hohen Heizkosten verkauft werden will. „Mein Hund weigert | |
sich rauszugehen“, klagt ein Olexander Podufalow auf seiner Facebook-Seite. | |
„Er hat sich in der Toilette eingeschlossen und will die Quittung sehen, | |
dass wir unser Gas für diesen Monat schon bezahlt haben.“ | |
## Kein Hirn, kein Gewissen | |
Auch die Ex-Regierungschefin und Sprecherin der Oppositionspartei | |
„Batkivtschina“, Julia Timoschenko, ist empört. „Eine besondere Rasse zu | |
verkaufen“ schreibt sie ironisch auf Facebook. „Diener des Volkes. | |
Besonderheiten: kein Hirn und kein Gewissen.“ Gleichzeitig forderte ihre | |
Fraktion [1][Präsident Wolodimir Selenski] auf, dem Abgeordneten Bragar | |
sein Mandat zu entziehen. | |
Das staatliche Gasunternehnmen Naftogas wiegelt ab. Niemand müsse seinen | |
Hund, seine Katze, seine Schildkröte oder andere Freunde verkaufen, heißt | |
es in einer Erklärung der Firma. Vielmehr müsse man sich um staatliche | |
Beihilfen für Heizkosten kümmern. | |
Präsident Selenski beauftragte das Kabinett, Näheres über die finanzielle | |
Situation von Ljubow Koljucha herauszufinden. Das Ergebnis: Frau Koljutscha | |
erhält einen Heizkostenzuschuss von 12 Euro pro Monat. | |
Jewgenija Krawtschuk, Vize-Fraktionsvorsitzende von „Diener des Volkes“, | |
riet ihrem Parteikollegen zu größerer Zurückhaltung bei öffentlichen | |
Auftritten. „Wenn du es nicht kannst, lass es bleiben. Oder lerne es. Es | |
ist noch kein Abgeordneter an einer Nichtteilnahme an Talkshows gestorben“, | |
zitiert die BBC Krawtschuk. | |
## Von der Regierung enttäuscht | |
Wenige Tage nach der Sendung äußerte sich auch Ljubow Koljucha. Doch zuerst | |
lacht sie bei einem ihrer Interviews ihrem Hund Scharik zu: „Mensch, Alter, | |
das hättest du auch nicht gedacht, dass du auf deine alten Tage noch so | |
berühmt wirst.“ Sie selber komme mit der neuen Popularität nicht zurecht. | |
Das alles gehe ihr sehr auf die Nerven. | |
Sie ist sehr enttäuscht von der neuen Regierung, gab sie in einem Interview | |
zu verstehen. Und dabei habe sie noch für die Partei „Diener des Volkes“ | |
bei den letzten Wahlen gestimmt. 31 Jahre hat sie gearbeitet, Schichtdienst | |
auf einem Busbahnhof gemacht und auf der Kinderstation eines Krankenhauses | |
gearbeitet. | |
In ihrem Häuschen lebt sie mit Scharik. Der ist alt, zottelig, fast blind | |
und alles andere als ein Rassehund. Verkaufen werde sie ihn auf keinen | |
Fall. | |
Am vergangenen Samstag wurden Ljubow Koljucha und ihre Nachbarn erneut von | |
dem Abgeordneten Bragar enttäuscht. Der hatte eine Einladung angenommen, um | |
sich persönlich ein Bild zu machen von den Lebensbedingungen auf dem Dorf. | |
Am Samstagvormittag um 10 Uhr sollte es so weit sein. Journalisten warteten | |
gespannt auf das Treffen. Doch Bragar kam nicht. Als der Bürgermeister des | |
Dorfes ihn anrief, ging er nicht ans Telefon. | |
13 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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