# taz.de -- Filmempfehlung für Berlin: Rundumblick von den Rändern | |
> Beim Festival „Unknown Pleasures“ werden im Arsenal und im Kino Wolf | |
> selten zu sehende US-Independent-Filme älteren und neueren Datums | |
> präsentiert. | |
Bild: Elisabeth Moss als Punk-Sängerin in Alex Ross Perrys „Her Smell“ (20… | |
Die Freiheitsstatue ist vage am Horizont zu erahnen. José befindet sich | |
nicht nur am anderen Ende der Stadt, sondern in einer völlig anderen Welt. | |
Sie heißt Brooklyn, aber mit Hipstern in Williamsburg hat sie wenig gemein. | |
José ist aus Mexiko gekommen, hat bislang keine Papiere und liefert Essen | |
für ein Restaurant namens La Frontera aus. | |
In Jim McKays Film „En el séptimo día“ ist der siebte Tag, der Sonntag, d… | |
Fußball gewidmet. Denn José ist ein begabter Spieler, sein Team hat es bis | |
ins Finale eines Lokalturniers geschafft – doch leider gibt ihm sein Chef | |
nicht frei. Die Fußballer verbindet indes ein ähnliches Schicksal: Sie alle | |
arbeiten für wenige Dollar in Brooklyn, haben mal mehr, mal weniger | |
ambitionierte Träume. | |
„Unknown Pleasures“ sozusagen, womit sich der Film auch auf dieser Ebene in | |
das von Hannes Brühwiler zusammengestellte gleichnamige Programm einfügt. | |
Zum elften Mal findet „Unknown Pleasures – American Independent Film Fest“ | |
vom 1. bis zum 16. Januar im Arsenal sowie im Wolf statt und ermöglicht die | |
Erkundung von Produktionen, älteren wie neueren Datums, die man | |
möglicherweise nicht allzu schnell wiedersehen wird. | |
## Beweglicher Protagonist | |
Ein Film wie „En el séptimo día“ mag für den deutschen Markt zu klein | |
sein, doch es gelingt ihm ein genauer, ein randständiger Rundumblick. Denn | |
Jim McKay kommt seinen mexikanischen Protagonisten fahrend nahe: José, der | |
seine Tage auf dem Fahrrad zubringt, ist die bewegliche Figur des Films. | |
Mit ihm besucht man nicht nur die Freunde während ihrer Arbeit in Blumen- | |
und Gemüseläden (oder einem Geschäft für Erotikartikel samt Videokabinen), | |
sondern auch die zu beliefernden Kunden. Unsympathische junge Menschen in | |
Start-up-Unternehmen, die ihre Bestellung aus dem Auto aufgeben und nicht | |
anwesend sind, wenn Josés Speisen eintreffen – ohne einen Gedanken an den | |
Lieferanten zu verschwenden, der im Grunde keine Zeit hat, zu warten. „En | |
el séptimo día“ wechselt ganz selbstverständlich die Perspektive, ohne | |
beiläufig zu sein. | |
Eine Aufgabe, die auch Henry Graham (Walter Matthau) in Elaine Mays | |
wunderbarem Film „A New Leaf“ (1971) bevorsteht. May, der das Festival mit | |
insgesamt vier Filmen einen Schwerpunkt gewidmet hat, spielt in ihrem | |
Regiedebüt die Hauptrolle. Sie ist Henrietta Lowell, eine wohlhabende | |
Botanikerin, nerdig und unfreiwillig gesellschaftlich unangepasst. Henry | |
Graham beschreibt sie so: „Rich, single, isolated.“ Und sich selbst: „All… | |
am – or was – is rich. And that’s all I ever wanted to be.“ Aussagen, | |
anhand derer klarwerden könnte, was Henry an Henrietta interessiert. | |
Der deutsche Verleihtitel verrät mehr: „Keiner killt so schlecht wie ich“. | |
May, die, bevor sie eine eigene, seltene Karriere als Hollywoodregisseurin | |
begann, ein Comedy-Duo mit Mike Nichols („The Graduate“) bildete, beweist | |
in „A New Leaf“ nicht nur eine große Begabung für das Schreiben von | |
Dialogen – und Walter Matthau ist die perfekte Besetzung für lange, | |
komische Lines –, auch ihrem Spiel zuzusehen ist erfrischend. | |
Die Begegnung der Pflanzenexpertin auf der Suche nach bisher unentdeckten | |
Spezies mit dem ewigen Junggesellen Henry, der eigentlich nichts anderes | |
möchte, als seinen ausschweifenden Lebensstil fortzuführen, ist eine auf | |
Inkompatibilität angelegte Komödie: Der Strumpfhalter tragende Gentleman | |
trifft auf die Wissenschaftlerin mit zerwühlter Frisur, die daran | |
scheitert, Arm- und Kopfloch ihrer Robe auseinanderzuhalten. Die Entdeckung | |
Elaine Mays lohnt. | |
## Höhepunkt des Wahnsinns | |
Ebenso wie Alex Ross Perrys neues Werk „Her Smell“ (2018). Wie schon in | |
seinem Film „Queen of Earth“ (2015) brilliert abermals Elisabeth Moss, die | |
hier als Mischung aus Courtney Love und Genesis P-Orridge auftritt. Sie ist | |
Frontfrau der 1990er-Jahre-Punkband Something She, die nach einer | |
Erfolgswelle den Boden unter den Füßen verliert. Einen Boden, den es | |
vielleicht nie gab. Perry erwischt sie auf dem Höhepunkt des Wahnsinns, wo | |
backstage perfide Streitereien ausgefochten werden, während Schamanen | |
Rituale vollziehen. Im Hintergrund stets: tobende Fans. | |
Perry zeigt das Leben Beckys anhand einiger langer Sequenzen, die alle eine | |
andere Facette der Künstlerin (und von Elisabeth Moss’ Talent) hervorheben. | |
Das Milieu um die Musikerinnen samt zähnefletschendem Management ist | |
anstrengend und fiebrig, und wenn der US-amerikanische Filmkritiker J. | |
Hoberman über „A New Leaf“ schreibt, es handle sich um ein „vernichtendes | |
feministisches Psychodrama“, so könnte dies bisweilen auch auf „Her Smell�… | |
zutreffen. | |
Doch obwohl die Bänder zwischen den Frauen immer wieder reißen, zwirbelt | |
Alex Ross Perry Beckys Comeback letztlich doch aus genau diesem Material. | |
Und Auftritte von Agyness Deyn und Cara Delevingne tun ein Übriges. „Her | |
Smell“ könnte der glitzernde Abgrund dieses vielseitigen und an Abgründen | |
reichen Programms sein, das es sich, wie seine Filme, an keiner Stelle zu | |
leicht macht. | |
31 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
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